Jussi Adler-Olsen – (Carl Mørck: 8) „Opfer 2117“

Samstag, 26. Oktober 2019

(dtv, 588 S., HC)
Der 32-jährige spanische Journalist Joan Aiguader hadert mit seinem Schicksal. Er ist nicht nur total abgebrannt und kann nicht mal die zwei Euro für den Kaffee bezahlen, den er an der Promenade am Strand von Barcelona bestellt hat, sondern hat vier weitere Absagen für seine Kurzgeschichten zu verkraften. Doch dann entdeckt er ein Fernsehteam am Strand, das auf die „Tafel der Schande“ und die darauf gezählten Flüchtlinge hinweist, die seit Jahresbeginn im Mittelmeer ertrunken sind, und eine Reportage über einen Mann bringt, dessen Leiche erst vor wenigen Stunden am Badestrand Ayia Napa auf Zypern angeschwemmt wurde. Der eben noch völlig niedergeschlagene Joan spürt auf einmal seinen journalistischen Instinkt, „borgt“ sich das Geld für die Flüge nach Zypern und zurück und will mit der Reportage über den ertrunkenen Mann die Welt aufrütteln. Vor Ort wird Joan jedoch Zeuge einer weiteren Welle von angeschwemmten Leichen, darunter die einer alten Frau, die Joans Aufmerksamkeit fesselt. Tatsächlich scheint sich sein Blatt zum Guten zu wenden, als er mit seiner Story und dem Foto der alten Frau die Titelseite bei Hores del dia schmückt. Doch wie sich herausstellt, ist die alte Frau, die als „Opfer 2117“ bekannt geworden ist, nicht ertrunken, sondern wurde ermordet, während der zuvor in der spanischen Fernsehreportage erwähnte tote Mann als Anführer einer Terrorzelle identifiziert worden ist.
Während Joan damit beauftragt wird, die ganze Geschichte hinter dieser Tragödie zu erzählen, identifiziert Assad die alte Frau auf dem Foto als Lely Kababi, jene Frau, bei der seine Familie damals in Syrien Zuflucht fand, als sie aus dem Irak geflohen waren. Bei der Sichtung des weiteren Fotomaterials zu dem Fall, das ihm seine alte Arbeitskollegin Rose aus anderen Zeitungen zur Verfügung stellt, entdeckt Assad nicht nur seine Frau Marwa und eine seiner Töchter, sondern bekommt es mit seinem größten Widersacher Ghaalib zu tun, der nicht nur die beiden Frauen in seiner Gewalt hat, die Assad alles bedeuten, sondern einen gewaltigen Terroranschlag in Deutschland plant. Carl Mørck, Assads Chef beim Kopenhagener Sonderdezernat Q, das sich sonst nur mit alten ungelösten Fällen befasst, begleitet Assad auf dem Weg nach Frankfurt, während die wieder zurückgekehrte Rose mit ihrem Kollegen Gordon einem 22-jährigen Jungen namens Alexander nachjagt, der das Schicksal von Opfer 2117 zum Anlass nimmt, mit seinem Samuraischwert loszuziehen, um wahllos Menschen zu töten, sobald er bei dem Computer-Spiel „Kill Sublime“ Level 2117 erreicht hat. Währenddessen folgen Carl, Assad und der Verfassungsschutz den Terroristen nach Berlin …
„Assad atmete tief durch: Vielleicht begriffen sie jetzt endlich, wogegen sie antraten: Ghaalib war das personifizierte Böse. Nichts weniger als das. Lange starrte er auf den Zettel. Er habe nicht viel Zeit, stand da. Nicht viel Zeit! Und Berlin war so unendlich groß!“ (S. 400) 
Seit seinem 1997 veröffentlichten Debütroman, der in Deutschland unter dem Titel „Das Alphabethaus“ erschienen ist, wurde der aus Kopenhagen stammende Jussi Adler-Olsen vor allem durch seine 2007 initiierte Reihe um Carl Mørck und das Kopenhagener Sonderdezernat Q zum internationalen Bestseller-Autor. Mit „Opfer 2117“ präsentiert Adler-Olsen nicht nur den bereits achten Teil der Reihe, die auch kontinuierlich für das Kino adaptiert wird, sondern auch einen ungewöhnlich aktuellen Fall, der vor allem die bisher so geheimnisvolle Geschichte von Assad endlich lüftet – wenn auch auf extrem dramatische Weise.
Geschickt verleiht der Autor der Tragödie der andauernden Flüchtlingskatastrophe über die bloße Anhäufung von Opferzahlen hinaus ein individuelles Gesicht und verbindet sie mit der Familiengeschichte von Assad – und stellt diese auch noch in den ebenso aktuellen Kontext des Terrorismus. Als würde dies für eine packende, vielschichtige Story noch nicht reichen, fahnden die in Kopenhagen gebliebenen Q-Mitarbeiter Rose und Gordon nach einem psychisch labilen jungen Mann, der seine Wut gegen die Gleichgültigkeit in der Welt mit seinem Samuraischwert Ausdruck verleihen will. Das ist selbst bei knapp 600 Seiten, die der Autor mit seiner Geschichte füllt, ein anspruchsvolles Unterfangen, das ihm zum größten Teil bravourös gelingt.
Indem er ständig die Perspektiven zwischen Carl, Assad, Joan, Alexander, Ghaalib, gelegentlich auch Rose und Gordon wechselt, hält er das Tempo hoch. Dazu sorgen die ersten Terrorzwischenfälle in Frankfurt für Spannung, zu der auch Assads Erinnerungen an seine erste Begegnung mit Ghaalib und dessen Vorbereitungen zu seiner finalen Konfrontation mit seinem Erzfeind ihren Anteil beitragen. Für die emotionale Komponente sorgen nicht nur die traurigen Schicksale der toten Flüchtlinge, sondern vor allem Assads Sorge um das Schicksal der – zählt man die tot aufgefundene Lely dazu – vier wichtigsten Frauen in seinem Leben und Carls Beziehung zu Mona, die mit 51 Jahren noch ein Kind von Carl erwartet.
Bei so vielen Themen bleibt zwangsläufig die Tiefe auf der Strecke. Vor allem der Nebenplot mit Alexander wirkt dabei nicht glaubwürdig und trägt leider auch zum ärgerlich konstruierten Happy End bei. Adler-Olsen hätte gut auf diesen Handlungsstrang verzichten können und so der im Fokus stehenden Geschichte um Opfer 2117 und der Vereitelung von Ghaalibs Terrorplänen mehr Aufmerksamkeit widmen können. So wirken die Sprünge zwischen den Protagonisten, Zeiten und Orten doch sehr gehetzt und oberflächlich. Von diesem Manko abgesehen, bietet „Opfer 2117“ aber rasant erzählte, actionreiche Spannung mit brisant aktuellen, sehr persönlich gestalteten Themen und nach wie vor sympathisch gezeichneten Figuren, unter denen hier vor allem Assad endlich deutliche Konturen gewinnt.
Leseprobe Jussi Adler-Olsen "Opfer 2117"

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