Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 1) „Der große Schlaf“

Samstag, 19. Oktober 2019

(Diogenes, 294 S.)
Der in Los Angeles lebende und arbeitende Privatdetektiv Philip Marlowe wird eines Vormittags im Oktober zum vier Millionen Dollar schweren General Sternwood gebeten, der nicht nur an seinen Altersgebrechen leidet, sondern vor allem an den wilden Eskapaden seiner beiden Töchter. Nachdem seine jüngere Tochter Carmen bereits von einem Mann namens James Brody um fünftausend Dollar erpresst worden ist, damit er sie in Ruhe lässt, dreht es sich nun um Schuldscheine, die auf Carmens misslungenen Glücksspiel-Aktivitäten zurückzuführen sind und für die der Buchhändler Arthur Geiger eine Summe von eintausend Dollar verlangt. Während der Unterhaltung kommt die Sprache auch auf Rusty Regan, einen ehemaligen IRA-Offizier, dessen Ehe mit Sternwoods älterer Tochter Vivian sich als Farce entpuppt hat, an dem der alte Mann aber einen Narren gefressen hat. Dass Regan einfach spurlos verschwunden ist, macht Sternwood schwer zu schaffen.
Auch wenn er Marlowe nicht explizit damit beauftragt, auch nach Regan zu suchen, spielt der Vermisste im Verlauf der Ermittlungen immer wieder eine Rolle. Als Marlowe Geigers Buchhandlung aufsucht, stellt er fest, dass sich Geiger auf den Handel mit illegalen pornographischen Werken spezialisiert hat. Schließlich folgt er dem Buchhändler nach Hause, hört Pistolenschüsse, findet Geiger tot und Carmen Sternwood nackt – unter offensichtlich unter Drogeneinfluss – auf einem Sessel vor einer Kamera vor, deren Fotoplatte entfernt worden ist. Nun wird auch Carmen erpresst, will sie die Nacktfotos der vergangenen Nacht zurückhaben. Marlowe stellt Verbindungen zwischen Geiger und Joe Brody her, zwischen Vivian und dem Gangster Eddie Mars, in dessen Spielcasino sie regelmäßig Gast ist, und bekommt zu hören, dass Eddies Frau Mona mit Rusty Regan durchgebrannt sein soll.
Als auch noch Sternwoods Chauffeur tot in seinem Auto aus dem Hafenbecken geborgen wird, scheinen die Dinge immer verworrener zu werden, und Marlowe hat einige Mühe, den Überblick zu behalten, zumal die Frauen in dieser Geschichte ihm immer wieder Avancen machen …
„Ich schaute sie wieder an. Jetzt lag sie still, ihr Gesicht bleich auf dem Kissen, die Augen groß und dunkel und so leer wie Regenfässer bei Dürre. Eine ihrer kleinen fünffingrigen, daumenlosen Hände zupfte ruhelos an der Decke. Irgendwo in ihr erwachte ein schwaches Glimmen des Zweifels. Sie wusste noch nichts davon. Frauen – selbst netten Frauen – fällt es schwer einzusehen, dass ihre Körper nicht unwiderstehlich sind.“ (S. 194) 
Der 1888 in Chicago geborene und in England aufgewachsene Raymond Chandler hatte bereits eine bewegte Karriere (u.a. im britischen Marineministerium, als Journalist, Buchhalter in einer Molkerei, Soldat im Ersten Weltkrieg und Direktor einer kalifornischen Ölgesellschaft) hinter sich, ehe er sich ernsthaft dem Schreiben widmete und erst im Alter von 51 Jahren 1939 mit „The Big Sleep“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Der mittlerweile zum Klassiker nicht nur der Kriminalliteratur avancierte Roman stellte nicht nur die später von Humphrey Bogart („Tote schlafen fest“, 1946) und Robert Mitchum („Tote schlafen besser“, 1978) im Kino verkörperte Figur des Privatdetektivs Philip Marlowe vor, sondern wurde Teil der sogenannten „Schwarzen Serie“, in der neben Chandler Autoren wie Dashiell Hammett, James M. Cain und Ross Macdonald ihre hartgesottenen Ermittler in einer Welt agieren ließen, die bis in ihre Grundfesten korrupt und zerrüttet schien.
Donna Leon weist in ihrem Nachwort zu wunderbaren Neuübersetzung des Romans durch Frank Heibert darauf hin, dass Chandler die heile Welt der Agatha-Christie-Romane zur Hölle schickte. Wenn dort ein Verbrechen die Norm verletzte, wurde der Bösewicht festgenommen und bestraft, womit die Ordnung wiederhergestellt worden war. Dass für Chandler die gesellschaftlichen Regeln außer Kraft gesetzt und durch alle Schichten Neid, Missgunst und Gier zu beobachten sind, machen seine Romane, die Diogenes nun nach und nach in überarbeiteten Fassungen wiederveröffentlicht, zu vielschichtigen Milieustudien. Dabei scheint die Handlung fast schon zur Nebensache zu werden. Die fällt bereits in Chandlers Debütroman so komplex aus, dass der Handlung und den Motiven der unzähligen Beteiligten kaum zu folgen ist. So werden bestimmte Vorkommnisse auch gar nicht aufgeklärt und dienen nur dazu, die Verderbtheit der Menschen in einer Welt aufzuzeigen, in der sich niemand an Regeln zu halten scheint.
Marlowe selbst bewegt sich dabei selbstbewusst zwischen den Reichen und den Gangstern auf der Straße, zwischen dem oberflächlichen Glanz und dem Schmutz in den Gassen. Mit seiner ihm eigenen Prinzipientreue scheint er schon eine wohltuende Ausnahme in einer moralisch verkommenen Welt zu bilden. Auch wenn sich die Ereignisse in „Der große Schlaf“ immer wieder überschlagen und unzählige Orte und Figuren ins Spiel kommen, nimmt sich Chandler viel Zeit, die düstere Atmosphäre von Verzweiflung, Sehnsucht und Gier sowie die Charakter seiner Figuren zu beschreiben. Seine phantasievollen Allegorien wirken auch nach achtzig Jahren herrlich erfrischend und machen Marlowes Konfrontationen mit den Bösen und Blondinen so lesenswert.
Leseprobe Raymond Chandler - "Der große Schlaf"

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