Steven Price – „Die Frau in der Themse“

Dienstag, 8. Oktober 2019

(Diogenes, 916 S., HC)
Mit nicht mal vierzig Jahren hat William Pinkerton, Sohn des berühmten amerikanischen Detektivs Allan Pinkerton, bereits dreiundzwanzig Männer und einen Jungen erschossen. Sein gefürchteter Vater war vor sechs Monaten gestorben, während er selbst vor sechs Wochen die amerikanische Heimat verlassen hat, um 1885 im verhassten London nach Ben Porter, einem Agenten seines Vaters, zu suchen. Porter war jahrelang im Auftrag von Pinkertons Vater hinter dem berüchtigten Dieb Edward Shade her, ohne auch nur die geringste Spur zu finden. Als Pinkerton eine Frau namens Charlotte Reckitt verhören wollte, die vor zehn Jahren Shades Komplizin gewesen war, ist sie nach einer langen Verfolgungsjagd auf der Blackfriars Bridge in den Fluss gesprungen.
Während er mit Scotland-Yard-Chief-Inspector John Shore weiter nach Shade fahndet, ist auch Adam Foole dem Ruf nach London gefolgt, weil ihn Charlotte Reckitt, seine große Liebe, um Hilfe gebeten hatte. Als Kopf, Torso und Beine einer jungen Frau gefunden werden, machen sich Pinkerton und Shore auf der einen Seite, Shade und seine recht Hand Foole auf der anderen Seite auf die Jagd nach ihrem vermeintlichen Mörder. Die Besessenheit, mit der beide Parteien das Geheimnis von Charlotte Rickett zu lösen versuchen, lässt die Wege von Pinkerton und Shade zwangsläufig miteinander kreuzen, aber die Begegnung wartet mit einigen Überraschungen auf, vor allem für Pinkerton, dessen Vater bereits von Edward Shade besessen war.
„Sein Vater wollte Shade nicht presigeben, wollte das köstliche Rätselraten um Shades Existentz geheim und für sich behalten. Als sein Vater gebrechlicher wurde, saß er gern mit wackelndem Kopf inmitten der Blumen im Garten, William schwieg neben ihm und beobachtete, wie die Bienen von Rose zu Rose flogen. Und manchmal kam es ihm vor, als würde noch ein Dritter neben ihnen sitzen, ein Gespenst, auf dem der Blick seines Vaters von Zeit zu Zeit ruhte.“ (S. 340) 
Der kanadische Lyriker und Autor Steven Price feiert mit „Die Frau in der Themse“ sein Debüt in der deutschen Literaturwelt, nachdem sein erster Gedichtband „The Anatomy of Keys“ (2006) mit dem Gerald Lampert Award ausgezeichnet wurde und sein Romandebüt „Into That Darkness“ 2011 erschienen war. Sein zweiter Roman „By Gaslight“, der nun in deutscher Erstübersetzung bei Diogenes vorliegt, präsentiert Price ein über 900 Seiten umfassendes Epos, das im viktorianischen England kurz vor dem mörderischen Treiben von Jack the Ripper angesiedelt ist und vordergründig als Detektivroman angelegt ist. Doch die beharrliche Suche des berühmten Detektivs William Pinkterton nach der schattenhaften Gestalt von Edward Shade bildet nur den Rahmen einer viel komplexeren Geschichte, in der es um Familie, Liebe, Täuschung, Verrat und Identität geht und deren Handlung zwar überwiegend 1885 in London angesiedelt ist, darüber hinaus aber immer wieder zwischen Amerika, Südafrika und Europa, zwischen 1862 und 1917 hin- und herspringt.
Dazu werden die Kapitel abwechselnd aus der Perspektive des Meisterdetektivs und des Meisterdiebes geschrieben, so dass es nicht immer leicht fällt, die Übersicht zu behalten. Zum Glück beschränkt sich der Autor auf ein für die abgedeckten Jahre und Kontinente überraschend überschaubares Figurenensemble und füllt sie Seiten dafür mit den Inneneinsichten und Dialogen seiner Hauptfiguren und mit der anschaulich detaillierten Milieubeschreibung. Wie Adam Foole und William Pinkerton Katz und Maus miteinander spielen, ist geschickt inszeniert, wartet mit unzähligen interessanten Wendungen auf und ist doch etwas ausufernd geraten.
So sehr „Die Frau in der Themse“ durch die ausführlichen Beschreibungen an atmosphärischer Dichte gewinnt, leidet die Dramaturgie ein wenig unter den immerwährenden Zeitsprüngen, Ortswechseln und Perspektivänderungen, aber nichtsdestotrotz bietet das historische Drama fein gesponnene Unterhaltung mit bemerkenswerten Charakteren.
Leseprobe Steven Price - "Die Frau in der Themse"

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