Bis zu seinem siebten Lebensjahr musste Wolf tagsüber im Haus bleiben, litt er doch – so sein Arzt – unter der Mondscheinkrankheit. Also schlief Wolf tagsüber und ging erst nachts auf den Spielplatz, wenn die anderen Kinder schliefen. Dann tritt mit Bob ein neuer Mann in das Leben seiner wahnhaften Mutter und verändert Wolfs Leben von Grund auf. Er schenkt ihm einen Motorradhelm, so dass er sich auch tagsüber gefahrlos im Freien bewegen kann, und geht mit dem Jungen erneut zu einem Arzt, der ihm attestiert, ganz normal zu sein. Wolfs unter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidende Mutter verkraftet die Neuigkeit nicht, lebt sich mit Bob auseinander und bringt sich in einer Klinik schließlich mit Tabletten um.
Die vielen Jahre, in denen Wolf nur mit seiner Mutter zusammenlebte und nur nachts auf den Spielplatz durfte, haben aber ihre tiefe Spuren in seiner Persönlichkeit hinterlassen. Er zieht zu seinem Großvater nach Hannover, erbt nach dessen Tod nicht nur dessen Wohnung und eine Hütte in den österreichischen Bergen, sondern auch – zusammen mit dem Erbe seiner Mutter - über eine halbe Million Mark. Finanziell abgesichert, igelt sich Wolf zuhause völlig ein, entdeckt die Welt durch seine Puzzle, mit denen er die Wände dekoriert. Der Höhepunkt des Tages ist die Essenslieferung, doch die von ihm verehrte Botin kommt nicht wieder, nachdem er ihr eines Tages nur in Unterhose bekleidet die Tür öffnete, mit dem Papagei auf der Schulter und obszön geschminktem Mund. Doch nach und nach tritt Wolf aus seiner selbstgewählten Isolation heraus, nimmt einen Job als Türsteher ein, trifft dort seine Jugendfreundin Lina wieder und erlebt seine erste Liebesbeziehung .
„Lina gehörte zu mir, seitdem sie zum ersten Mal in die Erdatmosphäre eingetreten war. Was nichts daran änderte, dass wir unterschiedliche Vorstellungen von einem gemeinsamen Leben hatten. Ich wollte nicht mit ihr in einem Draußen leben, mit all den anderen. Dazu war ich nicht fähig. Auch nicht ihr zuliebe. Ich fand, dass ich dann nicht mehr echt wäre, für sie. Ich wollte bei mir bleiben. Mit ihr. Das war mir Welt genug.“ (S. 35f.)Lina hat das seltsame Leben mit Wolf allerdings nach acht Jahren satt. Stattdessen tritt sein Stiefbruder Freddy plötzlich in sein Leben, der anfangs ebenso wortkarg kommuniziert wie Wolf früher. Als sie gemeinsam erstmals die geerbte Berghütte in Österreich besuchen, kommen sie sich zwar etwas näher, doch Freddy verhält sich immer seltsamer und kehrt immer dann in Wolfs Leben zurück, wenn er es am wenigsten erwartet. Als Wolf allerdings selbst Vater wird, beginnt er das Leben mit anderen Augen zu sehen …
Unter dem exotisch anmutenden Pseudonym R. R. Sul ist mit „Das Erbe“ ein schlicht wie elegant gestalteter Roman bei dtv erschienen, in dem der unter außergewöhnlichen Umständen aufgewachsene Protagonist Wolf als Ich-Erzähler in oft stark verkürzten Sätzen (ohne Verb) sein Leben reflektiert. Dabei wird schon in der Reflexion seiner Kindheit deutlich, wie die Krankheit seiner überängstlichen Mutter die Saat seiner weithin selbstgewählten Isolation bestimmt. Dass sich der finanziell unabhängige Wolf dann doch auf einzelne Menschen einlässt und sogar geliebt wird, zählt zu den bemerkenswertesten Entwicklungen, die Wolf durchmacht.
Der Leser wird schließlich Zeuge, wie die Liebesbeziehungen scheitern, wie daraus aber mit Karl und Augustin Kinder gedeihen, die Wolf im Leben verwurzeln, ihn in Beziehung zu seiner Familie bringen, in der nichts so lief, wie es sein sollte. Wie der Autor vor allem seinen Protagonisten zum Leben erweckt, wie er ihm in dessen eigenen Beschreibungen ein starkes psychologisches Profil verleiht und durch seine Beobachtungen auch seine Mitmenschen charakterisiert, zählt zu den besonderen Stärken des Romans, der sich auf ebenso amüsante wie düster-bedrohliche Weise mit der Herausforderung auseinandersetzt, in einer dysfunktionalen Familie aufzuwachsen und sich selbst von der kranken Umgebung zu emanzipieren und sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen.
Die oft abrupt eintretenden Veränderungen in Wolfs Leben und die präzise, manchmal abgehackt kurze Sprache sorgen für ein atemloses Lesevergnügen eines ganz und gar ungewöhnlichen Buches.
Leseprobe R. R. Sul "Das Erbe"
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