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Jim Nisbet – „Der Krake auf meinem Kopf“

Mittwoch, 26. Oktober 2022

(Pulp Master, 320 S., Tb.) 
Obwohl der 1947 geborene und in San Francisco lebende Jim Nisbet Autor von immerhin dreizehn Romanen und mehreren Lyrik-Bänden ist, fristet er hierzulande noch ein Schattendasein, wäre wahrscheinlich noch immer ein unbeschriebenes Blatt, wenn sich Frank Novatzki mit seinem feinen Verlag Pulp Master nicht seiner angenommen hätte. Nach „Dunkler Gefährte“ und „Tödliche Injektion“ veröffentlichte der Berliner Verlag 2014 mit „Der Krake auf meinem Kopf“ einen dritten Roman des Noir-Autors. 
Obwohl ihm nach den aufreibenden Jahren während der Punk-Bewegung in San Francisco nur seine Gitarre und ein Tattoo mit einem riesigen Kraken auf dem Kopf geblieben sind, hält Curly Watkins an seinem Traum fest, als Musiker seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Doch mehr als drei Abende die Woche für 45 Dollar und freien Kaffee „Caffeine Machine“ ist von diesem Traum nicht hängen geblieben. Als er seinem alten Kumpel, den begnadeten Jazz-Drummer Ivy Pruitt, vorschlägt, eine Band zu gründen, muss er leider feststellen, dass die Heroin-Sucht Ivy voll im Griff hat. Dann wird er auch noch bei einer Drogen-Razzia eingesackt. 
Da Curly im Gegensatz zu seinem Kumpel über kein Strafregister verfügt, wird er wieder freigelassen, kümmert sich aber mit Lavinia, die einige Jahre mit Curly liiert war, bevor auch ihre Beziehung mit Ivy nach zwei Jahren in die Brüche ging, um die Beschaffung der Kaution. Für einen ca. einstündigen Job winken Curly acht- bis neunhundert Dollar. Alles, was er dafür tun muss, ist, mit einem Taxi zur Anza 4514 zu fahren, sich als Bruder eines Typen namens Stefan Stepnowski vorzustellen und nach dessen neuer Adresse zu fragen, um dann die 7500 Dollar einzutreiben, die Stepnowski Sal „The King“ Kramers Laden „World of Sound“ schuldet. 
Zwar bekommt Curly die neue Adresse, doch als er mit Lavinia dort eintrifft, werden sie in einen Schusswechsel verwickelt und stoßen auf Stepnowskis Leiche, die sie um einiges an Bargeld erleichtern. Als Lieutenant Garcia die Ermittlungen aufnimmt, sind Curly und Lavinia zwar aus dem Schneider, weil Stepnowski definitiv vor ihrem Auftauchen am Tatort erschossen wurde, dafür geraten sie in die Fänge des Serienkillers Torvald, der seinen beiden Opfern lustvoll die größten Qualen bereitet… 
„Die Kameras würden alles aufzeichnen. Später würde er nach dem Moment des Kontaktes den Moment der Reaktion als Zwischenbild einfügen, aufgenommen von der Kamera, die direkt das Auge filmte: das Warten, das Zurückschrecken weit vor der Zeit; die Erkenntnis; das Hervortreten im Angesicht der Gewissheit; die Flut des Schmerzes; die mit dem Verebben der Lebenskraft einsetzende Trübung; am Ende das Erlöschen, wie in Zeitlupe, dann das Durchbrennen der Sicherung, Kurzschluss und … Blackout.“ (S. 257) 
Oberflächlich betrachtet erzählt „Der Krake auf meinem Kopf“ die Geschichte dreier Junkies/Möchtegern-Musiker, die unvermittelt in die Gewalt eines sadistischen Serienkillers geraten, doch Nisbet macht schon durch seine ausgefeilte Sprache von Beginn an deutlich, dass Curly, Ivy und Lavinia weit mehr als nur gescheiterte Existenzen am Rande der Gesellschaft sind, die sich durch Drogendeals, unrentable Auftritte und kleinere Gaunereien über Wasser halten. Schon nach wenigen Seiten lässt Nisbet seinen Ich-Erzähler Curly aus Paul Valerys Gedicht „Der Friedhof am Meer“ einige Zeilen zitieren, später fallen auch die Namen von Kerouac und Bao Ninh
Doch so tiefgründig das unstete Trio auch ist, hängen sie doch in der Kloake des heruntergekommenen Musik- und Drogenszene fest, bringen sich in bester Noir-Tradition in größte Schwierigkeiten und scheinen in dieser Wüstenei auch noch auf bestialische Weise gewaltsam aus dem Leben zu scheiden. Mit seinem stilistischen Geschick zieht Nisbet sein Publikum unmittelbar in den Bann dieser fraglos gebildeten, vor allem auch witzigen Figuren. 
Sobald Torvald aber die Szenerie betritt, ändert sich der Ton. Dann kontrolliert nämlich der Killer sowohl die Erzählung als auch das Geschehen, und auch hier nimmt der Autor kein Blatt vor den Mund, kriecht in die derangierte Psyche des Soziopathen und beschreibt detailliert die von ihm verübten Gräueltaten. So ungewöhnlich schon der Titel „Der Krake auf meinem Kopf“ daherkommt, so kompromisslos, sozialkritisch und virtuos inszeniert Nisbet ein fast schon grotesk anmutendes Road Movie, das man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommt. 

 

Jim Nisbet – „Tödliche Injektion“

Mittwoch, 5. Oktober 2022

(Pulp Master, 234 S., Tb.) 
Der am 28. September 2022 im Alter von 75 Jahren verstorbene Jim Nisbet hat seit den 1970er Jahren Romane, Lyrik, Theaterstücke, Artikel, Essays und Shortstorys in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien sowie ein Sachbuch über Bau und Design retro-futuristischer Möbel geschrieben ist hierzulande nur mit den wenigen bislang bei Pulp Master veröffentlichten Noir-Krimis bekannt geworden, dabei gehören seine Krimis zu den kompromisslosesten Meisterwerken, die das Genre zu bieten hat, wie sein 1987 veröffentlichtes Zweitwerk „Lethal Injection“ eindrucksvoll beweist. 
Der Schwarze Bobby Mencken verlebt in der Todeszelle seine letzten Stunden auf Erden. Nachdem er seine Henkersmahlzeit zu sich genommen hat, verschafft ihm Dr. Franklin Royce, der Gefängnisarzt von Huntsville, Texas, mit einer Dosis Morphium verbotenerweise etwas Gelassenheit, doch bevor er die tödliche Giftspritze verabreicht bekommt, schafft er es noch, den sadistischen Wärter Pit Bull Peters zu töten, der bereits fünf Gefangene auf dem Gewissen hatte, aber für keine dieser Taten zur Rechenschaft gezogen worden war. Dagegen beteuert Mencken mit seinen letzten Worten auf Erden, dass er nicht die Frau in dem Laden mit fünf Schüssen ins Gesicht getötet habe, wofür er zum Tode verurteilt worden ist. „Colleen, ich … hab es nicht getan …“, flüstert er noch und küsst den Arzt auf die Lippen. In einer Bar, wo er sich ein paar Whiskeys gönnt, erfährt Royce durch das Fernsehen noch ein paar Hintergründe. Demnach sei Mencken bei der Flucht vom Tatort festgenommen, seine Fingerabdrücke auf der Tatwaffe sichergestellt worden. Zeugen oder echte Beweise gab es allerdings nicht. 
Royce ist neugierig. Da seine hysterische Frau ohnehin nichts mehr mit ihm zu haben will, macht sich der Arzt auf den Weg nach Dallas, um in den Elendsvierteln dort mehr über Mencken und den Mord herauszufinden. 
„Die Fahrt hat sich hingezogen, über acht Stunden lang. In dieser Zeit hat er sich an den Gedanken von Menckens Unschuld angefreundet, dass er im Begriff stand, einen Vorstoß zu wagen, um herauszufinden, weshalb Mencken den äußersten Weg für etwas gegangen war, was er vielleicht nicht getan hatte. Was er machen würde, wenn oder falls er eine Antwort fände, darüber hatte Royce noch nicht nachgedacht.“ (S. 110) 
Dabei macht er die Bekanntschaft von Menckens Freundin Colleen Valdez, die ihm gleich den Kopf verdreht, und ihrem Mitbewohner Eddie Lamark, die beide ebenfalls am Tatort gewesen waren. Während er mit den beiden abhängt, kommt er der wahren Geschichte auf die Spur… 
„Tödliche Injektion“ weist gerade mal einen Umfang von gut 230 Seiten auf, entwickelt in der Kürze aber eine enorme Spannung, wobei die Hinrichtung von Mencken bereits 60 Seiten einnimmt, die erst einmal ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die Todesstrafe darstellt, bevor die Erzählperspektive von dem Todeskandidaten zu dem Teilzeit-Gefängnisarzt wechselt. Dabei verströmt die Geschichte zunächst den typischen Noir-Touch. 
Der zum Tode verurteilte Mencken kann seine Unschuld nicht mehr beweisen, aber vielleicht derjenige, der ihn mit der Giftspritze ins Jenseits befördert hat. Dabei ist Royce auch ein gebrochener Mann, gefangen in einer scheußlichen Ehe und beruflich längst nicht mehr auf der Höhe. Als er sich auf die Suche nach Menckens Freundin Colleen macht und sie schließlich findet, taucht Royce gänzlich in die schäbige Welt der Drogen, der Beschaffungskriminalität und von heißem Sex ein, dass es ihm die Sinne völlig vernebelt. 
Meisterhaft beschreibt Nisbet nicht nur die bedrohlich-prickelnde Atmosphäre und die unerwartete ménage à trois mit Colleen und Eddie, sondern kommt allmählich hinter den wahren Ablauf der Ereignisse, die am Ende zu Menckens Verurteilung geführt haben. Im Finale wartet Nisbet mit einer furiosen Sequenz auf, die die seltsame Odyssee zu einem konsequenten Ende führt. Denn am Ende hat Royce zwar das Verbrechen aufgeklärt, aber seine eigene Selbstzerstörung kann er nicht mehr aufhalten. Mit seiner schnörkellosen Sprache und einem feinen Gespür für die Figuren und die Geschichte entführt Nisbet seine Leser in eine zynische Welt, in der es kein Glück und keine Gerechtigkeit zu geben scheint. Das ist Noir im allerbesten Sinne.