Benedict Wells – „Hard Land“

Freitag, 26. Februar 2021

(Diogenes, 346 S., HC) 
Eigentlich haben seine Eltern geplant, den 15-jährigen Sam über den Sommer im Jahr 1985 zu Tante Eileen und seinen beiden verhassten Cousins nach Kansas zu schicken, doch um diesem Schicksal zu entgehen, nimmt der Teenager in seiner kleinen Heimatstadt Grady, Missouri, lieber einen Job in dem alten Kino „Metropolis“ an, das Ende des Jahres schließen soll. Zwar hat der zurückhaltende Sam bei seinen älteren Kollegen Cameron, Hightower und Kirstie zunächst einen schweren Stand, aber da sie gerade ihren Abschluss gemacht haben, werden sie im Herbst ohnehin aus Grady wegziehen. 
Die Stadt ist eigentlich nur für zwei Dinge bekannt: für die ominösen 49 Geheimnisse, die Gradys Besucher zu entdecken animiert werden, und den 1893 veröffentlichten Gedicht-Zyklus „Hard Land“, der für jede Junior-Klasse zum Pflichtprogramm bei „Inspector“ Mr. Parker gehört, der die Schüler den Jahresaufsatz über die „Geschichte des Jungen, der den See überquerte und als Mann wiederkam“ schreiben ließ. Hartnäckige Gerüchte besagen, dass es in all den Jahren bisher nur eine Eins für den Aufsatz gegeben habe. 
Während Sam allmählich beginnt, zu Cameron und Hightower eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen und sich in Kirstie zu verlieben, fühlt er sich in familiärer Hinsicht nach wie vor allein gelassen. Am meisten bedrückt ihn die Krebserkrankung seiner Mutter, die einen kleinen Buchladen führt, aber durch die Therapie immer wieder sehr geschwächt ist. Sein Vater ist arbeitslos und wirkt meist sehr verschlossen, seine Schwester Jean war vor Jahren schon nach Los Angeles gezogen, um für eine Fernsehserie Drehbücher zu schreiben. Sam liebt es, mit seinen neuen Freunden über Filme und Musik zu philosophieren und mit ihnen abzuhängen, und er kann kaum seinen 16. Geburtstag abwarten, weil er dann endlich in Larrys Bar gehen darf. Doch dann hat Sam in diesem so verheißungsvoll begonnenen Sommer eine Katastrophe nach der anderen zu überstehen … 
„Jeder hatte seine Geschichte, aber es ging weiter, es kam trotzdem wieder der Sommer, und ich betrachtete die Kinder, die diskutierend auf ihren Tretrollern an mir vorbeifuhren, die alte Frau, die ihren Hund spazieren führte, und das Spinnennetz an der Bushaltestelle, das sich sanft im Wind auf und ab bewegte … Auf einmal vermischten sich all meine Erinnerungen und Gedanken zu einem einzigen Gefühl, zu einem: Es ist okay, zumindest für diesen Moment.“ (S. 317) 
Für seinen neuen Roman ließ sich der 1984 geborene Benedict Wells durch Filme inspirieren, die zur Zeit seiner Geburt großen Erfolg hatten, vor allem die Coming-of-Age-Filme von John Hughes („Das darf man nur als Erwachsener“, „The Breakfast Club“, „Pretty in Pink“, „Ist sie nicht wunderbar?“). In diesem leichten Ton, den Drehbuchautor/Regisseur/Produzent Hughes in seinen Filmen angeschlagen hat, erzählt Wells auch die Geschichte eines bemerkenswerten Sommers, den sein 15-jähriger Protagonist erlebt hat und in dem er von einem Jungen zum Mann wurde. Dazu gehört vor allem die erste große Liebe und das Fachsimpeln mit Freunden über Filme und Musik, aber auch das Verarbeiten des Verlusts von geliebten Menschen.  
Wells schreibt über eine Zeit, in der das gesellschaftliche Leben in einer US-amerikanischen Kleinstadt vor einem fundamentalen Wandel steht. Die Fabriken, die einst für Arbeit und Wohlstand gesorgt haben, sind längst geschlossen, die Menschen weggezogen oder arbeitslos, Kinos und Kneipen stehen vor dem Aus. Zwar bemüht Wells typische Filme wie George Lucas‘ „American Graffiti“ und Robert Zemeckis‘ „Zurück in die Zukunft“, webt vertraute Acts wie Billy Idol, INXS, Simple Minds und a-ha in den Plot (die er zu einer Playlist für den „Hard Land“-Soundtrack auch auf den vertrauten Musik-Streaming-Diensten zur Verfügung stellt), aber wirken diese filmischen wie musikalischen Zitate eher wie Dekoration, um der Ära, in der die Geschichte spielt, ein passendes Ambiente zu verleihen. 
Als weitaus wirkungsvoller erweisen sich die Elemente, die der Autor eigenständig in die Geschichte einfließen lässt, nämlich die „49 Geheimnisse“ (die zufälligerweise auch in der Anzahl der Kapitel widergespiegelt werden) und der an Allegorien reiche Gedicht-Zyklus, der „Hard Land“ seinen Namen verdankt. In der wiederkehrenden Auseinandersetzung sowohl mit den allmählich entschlüsselten „Geheimnissen“ als auch mit dem Gedicht-Zyklus entwickelt sich der besondere Ton der Geschichte, die an sich wenig spektakulär ist, schließlich hat jeder Jugendliche mehr oder weniger schwierige Erfahrungen mit der ersten großen Liebe, Enttäuschungen und Verlusten zu machen, deren Bewältigung zum Erwachsenwerden dazugehören. 
„Hard Land“ präsentiert sich so als absolut typische Coming-of-Age-Geschichte ohne große Überraschungen, aber mit ein paar schönen Einfällen wie die Prüfungen, die Kirstie Sam zu seinem Geburtstag aufgibt.  
Wells‘ neuer Roman ist nicht der ganz große Wurf geworden, wie der Autor nach seinen vorangegangenen Werken wie „Fast genial“ und „Vom Ende der Einsamkeit“ hoffen ließ, aber es ist wenigstens eine ebenso vergnügliche, manchmal verzaubernde wie nachdenkliche Geschichte über das Erwachsenwerden.  

Henning Mankell – (Kurt Wallander: 7) „Mittsommermord“

Montag, 22. Februar 2021

(Zsolnay, 603 S., HC) 
Am 22. Juni 1996 feiern drei junge Freunde an einem geheimen Ort im Naturreservat ihr ganz privates Mittsommerfest, wobei sie sich in die Zeit des Rokokopoeten Bellman hineinversetzen, sich entsprechend verkleiden und verschiedene Aufnahmen von „Fredmans Episteln“ hören. Allerdings kehren Astrid Hillström, Martin Boge und Lena Norman nicht nach Hause zurück. Stattdessen scheinen sich die drei jungen Leute unbemerkt auf eine spontane Europareise begeben zu haben, doch Eva Hillström glaubt nicht, dass die Postkarten aus Hamburg, Paris und Wien nicht von ihrer Tochter geschrieben worden seien. Als sie ihren Verdacht im Polizeipräsidium von Ystad zu Protokoll gibt, ist Kriminalkommissar Kurt Wallander gerade damit beschäftigt, das Haus seines vor zwei Jahren verstorbenen Vaters zu verkaufen und sich um seinen gerade diagnostizierten Diabetes zu kümmern. 
Als sein Kollege Svedberg erschossen in seiner Wohnung aufgefunden wird, wird bald ein Zusammenhang mit den drei Jugendlichen deutlich, die kurz darauf tot im Naturreservat bei Ystad gefunden werden. Offenbar hat Svedberg während seines Urlaubs auf eigene Faust das Verschwinden der Jugendlichen untersucht und wurde wahrscheinlich vom selben Täter erschossen wie die verkleideten Jugendlichen. Wallander muss während der Ermittlungen feststellen, dass er Svedberg nicht gut kannte, während der getötete Kollege Wallander offenbar als seinen besten Freund bezeichnet hatte. 
Das Motiv des Täters bleibt unklar. Weder Svedbergs nächsten Verwandten, seine Schwester Ylva Brink und sein Cousin Sture Björklund, noch der pensionierte Bankdirektor Bror Sundelius, mit dem Svedberg zusammen die Sterne betrachtete, bringen die Ermittlungen wesentlich voran. Zu denken gibt Wallander, dass Svedberg eine Frau namens Louise getroffen haben soll, die allerdings spurlos verschwunden bzw. unbekannt zu sein scheint. 
„Wallander war ratlos. Doch im Grunde genommen war er noch nicht wieder imstande zu denken. Das Geschehene lähmte ihn. Wer konnte drei Jugendliche töten, die sich verkleidet hatten, um zusammen Mittsommer zu feiern? Es war die grauenhafte Tat eines Wahnsinnigen. Und im Umfeld dieser Wahnsinnstat, entweder an ihrem Rand oder in der Nähe ihres Zentrums, hatte sich ein weiterer Mensch befunden, der jetzt ebenfalls tot war. 
Svedberg. Was hatte er damit zu tun? Auf welche Weise war er in die Sache verwickelt?“ (S. 193) 
Als dann noch ein Mädchen ermordet wird, das die drei getöteten Jugendlichen beim Mittsommerfest eigentlich begleiten sollte, wegen einer Magenverstimmung aber zuhause bleiben musste, dann noch ein frisch vermähltes Hochzeitspaar und ihr Fotograf am Strand erschossen werden, bekommen Wallander & Co. zunehmend das Gefühl, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben, der das Glück anderer Leute schwer ertragen kann … 
Mit seinem siebten Band um den charismatischen, wenn auch übergewichtigen Kommissar Kurt Wallander hat der schwedische Bestseller-Autor Henning Mankell seinen bis dahin vielleicht besten Thriller abgeliefert. Das liegt vor allem an dem raffiniert konstruierten Plot, bei dem zwar schnell deutlich wird, dass der Mord an den drei Jugendlichen zum Mittsommerfest und die Ermordung von Wallanders Kollegen Svedberg irgendwie zusammenhängen, aber die Verbindung lässt sich lange Zeit nur erahnen und kristallisiert sich nur sukzessive durch einzelne Puzzlestücke heraus. 
Mankell nutzt die grausamen Taten einmal mehr dazu, seinen Protagonisten über die Verrohung der schwedischen Gesellschaft und die Budgetkürzungen bei der Polizei lamentieren zu lassen, doch die betrüblichen Umstände lassen Wallander letztlich doch wacker weiter seinen Dienst tun, um deutlich Flagge zu zeigen im Kampf gegen das Verbrechen. Privates bleibt im immerhin 600-seitigen Thriller weitgehend außen vor, im Mittelpunkt steht hier vor allem Wallanders Kampf gegen den Diabetes. Während Mankell ausführlich die schwierige Ermittlungsarbeit von Wallander und seiner Mannschaft beschreibt, rückt er gelegentlich auch die Perspektive des Täters in die Handlung ein, doch sind die polizeilichen Aktivitäten weit packender inszeniert und machen „Mittsommermord“ zu einem echten Pageturner.  

Wieland Schwanebeck – „James Bond. 100 Seiten“

Samstag, 20. Februar 2021

(Reclam, 102 S., Tb.) 
Seit Ian Fleming (1908-1964) nach seiner Karriere als Journalist und Wertpapierhändler 1953 damit begann, Romane und Kurzgeschichten um den britischen Geheimagenten James Bond zu verfassen, ist Bond seit dem ersten 007-Kino-Abenteuer „James Bond jagt Dr. No“ (1962) zu einem internationalen Markenzeichen avanciert, das vor allem die Sicht, wie ein echter Kerl zu sein hat, bis heute prägt. 
Bevor der 25. Bond-Film „Keine Zeit zu sterben“ verspätet in diesem Jahr in die Kinos kommt, ist der anglistische Kultur- und Literaturwissenschaftler Wieland Schwanebeck in dem bereits bewährten 100-Seiten-Format der entsprechenden Reclam-Reihe dem Phänomen „James Bond“ auf ebenso unterhaltsame wie tiefgründige Weise auf den Grund gegangen. 
Darin wird eingangs das Phänomen untersucht, wie James Bond als eine Art Übermensch jeden Versuch der Schurken, ihn ins Jenseits zu befördern, auf ebenso coole wie stilvolle Weise zu parieren vermag und dabei so ikonische Szenen prägt, als er beispielsweise in „Der Spion, der mich liebte“ (1977) auf Skiern mit einem Fallschirm einen Abhang hinunterrast und seinen verblüfften Verfolgern beim Sprung in den vermeintlich tödlichen Abgrund den Union Jack auf dem Fallschirm präsentiert. Natürlich gibt es viele weitere Themen in der über 60-jährigen Erfolgsgeschichte von James Bond, über die sich vortrefflich referieren lässt. 
Dazu gehört die Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, dass die Physik der Filme unwissenschaftlich sei, die oft exotischen Kulissen eigentlich zu schön sind, um wahr zu sein, und Bond immer genau die Gadgets von Q zur Verfügung gestellt werden, die er für seine Mission definitiv brauchen wird – ohne auch nur eines unbenutzt zurückgeben zu müssen. Der Autor umreißt kurz Flemings Werdegang und Persönlichkeit, dann den Beginn der Roman-Adaptionen für Film und Fernsehen, den weltweiten Siegeszug der Produktionen von Harry Saltzman und Albert R. Broccoli, die wichtige Mischung aus Vertrautem und Innovation und das bewährte Baukastenprinzip der Bond-Filme, bei denen stets Fragen nach den Schurken, der Hilfsmittel und Verkehrsmittel im Fokus stehen. 
Schwanebeck markiert die Bedeutungen, die die einzelnen Bond-Darsteller im 007-Universum einnehmen, erwähnt aber auch die Geschichten, die jenseits bewährter Konzepte erzählt werden: 
Diamantenfieber, in dem es James Bond mit schwulen Killern zu tun bekommt und sich durch eine Vielzahl enger, morastiger Löcher quetschen muss, ist eine Geschichte von Homophobie und männlichem Selbstzweifel; Goldfinger handelt von der Kluft zwischen reiner Schaulust und dem Wunsch anzufassen und mitzumachen; und Skyfall lässt sich auch ohne Diplom in Psychoanalyse als eine Geschichte über gestörte Eltern-Kind-Beziehungen lesen und über die Unmöglichkeit, nach Hause zurückzukehren.“ (S. 32) 
Schwanebeck weist natürlich auch auf den Zusammenhang zwischen dem britischen hegemonialen Anspruch, die Welt zu retten, und James Bonds auffallend üppigen sexuellen Appetit hin, womit sowohl Fleming als auch die Filmemacher auf den Bedeutungsverlust des britischen Empires reagiert haben. Das Verhältnis zwischen Bond, den Superschurken und vor allem zu den Bond-Girls nimmt ebenso ein eigenes Kapitel ein wie die offensichtliche Notwendigkeit, im Titel eines Bond-Films auf Tod, Sterben und die Endlichkeit des Daseins hinzuweisen. 
Verschiedene Übersichten, vereinzelte Schwarz-Weiß-Illustrationen und Literaturtipps runden das kleine, aber höchst aufschlussreiche Bändchen ab, das sich auch für Fans lohnt, die bereits alles über ihren Lieblings-Superhelden zu wissen glauben.  

Stephen King – „Brennen muss Salem“

Samstag, 13. Februar 2021

(Zsolnay, 480 S., HC) 

Der erfolgreiche Schriftsteller Ben Mears kehrt nach 25 Jahren wieder in seine Heimatstadt Jerusalem’s Lot, eine Kleinstadt östlich von Cumberland und zwanzig Meilen nördlich von Portland, zurück, die 1970 bei einer Volkzählung 1319 Einwohner zählte und oft nur kurz Salem’s Lot oder sogar nur The Lot genannt wird. Mears, der seine Frau Miranda bei einem Motorradunfall verloren hatte, ist vor allem von dem Marsten-Haus fasziniert. Seit der ehemalige Besitzer Hubert Marsten dort erst seine Frau und dann sich selbst ermordete, gilt es als Spukhaus, das Mears im Rahmen einer Mutprobe betreten hatte, wobei er glaubte, Hubert Marsten lebend am Strick baumelnd gesehen zu haben. 
Als Mears nun das Marsten-Haus mieten will, um sich seinen Ängsten zu stellen und seine Erfahrungen mit dem Haus in seinem neuen Roman zu verarbeiten, muss er überrascht feststellen, dass das seit Jahren leerstehende und heruntergekommene Haus bereits verkauft ist – an die beiden Antiquitätenhändler Kurt Barlow und Richard Straker, die in der Stadt ein Geschäft eröffnen wollen. Also mietet sich der Schriftsteller in der Pension von Eva Miller ein und lernt bald die hübsche Susan Norton kennen, die im Park seinen zweiten Roman „Lufttanz“ in der Hand hält. 
Obwohl Susan eigentlich noch mit Floyd Tibbets liiert ist, beginnt sie eine Affäre mit dem Schriftsteller, der aber nicht viel Zeit bekommt, sich dem Mädchen gebührend zu widmen, denn schon bald wird Salem’s Lot von einer Reihe erschreckender Ereignisse heimgesucht. Erst wird ein Hund aufgespießt am Friedhofszaun aufgefunden, dann verschwindet der Junge Ralphie Glick, nachdem er mit seinem Bruder Danny ihren Freund Mark Petrie besuchen wollte. Danny kommt zwar nach Hause, kann sich aber an nichts erinnern und wird wenig später ins Krankenhaus eingeliefert, wo er an Blutarmut stirbt. Als der Totengräber mit Bisswunden am Hals aufgefunden wird, sehen sich Ben Mears, der Englischlehrer Matt Burke, der Priester Callahan und Doc Cody in ihren schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Salem’s Lot wurde von Vampiren heimgesucht, die getötet werden müssen, bevor sie die Stadt ausgerottet haben … 
„Und dann war es Nacht, und die Stadt war verschwunden, aber das Feuer loderte immer noch in der Finsternis, durchlief faszinierende, kaleidoskopartige Formen, bis es ein Gesicht aus Blut zu zeichnen schien – ein Gesicht mit einer Adlernase, tiefliegenden, glühenden Augen, vollen und sinnlichen Lippen, die zum Teil von einem dichten Schnurrbart verborgen wurden, und Haaren, die wie bei einem Musiker nach hinten gekämmt waren.“ (S. 418) 
Obwohl „Brennen muss Salem“ nach „Carrie“ der zweite, 1975 veröffentlichte Roman von Stephen King gewesen ist, muss er eigentlich als sein Debüt betrachtet werden, wurde der Vampir-Roman doch vor „Carrie“ fertiggestellt und basiert auf den Ereignissen im 19. Jahrhundert, die King in seiner Kurzgeschichte „Briefe aus Jerusalem“ (veröffentlicht in der Stephen-King-Kurzgeschichten-Sammlung „Nachtschicht“) thematisiert hatte. Dabei sind vor allem die Bezüge zu Bram Stokers klassischem Vampir-Drama „Dracula“ unübersehbar. King erweist sich bereits in diesem frühen Werk als Meister des subtilen Horrors, der sich fast unbemerkt in den Alltag ganz gewöhnlicher Menschen schleicht. 
Der Autor nimmt sich nahezu 100 Seiten Zeit, um die Ankunft des Schriftstellers in Jerusalem’s Lot und die Stadt mit ihren Einrichtungen und Bewohnern zu beschreiben, so dass sich der Leser leicht mit den sorgfältig beschriebenen Figuren identifizieren kann. Die kurze Liebschaft zwischen Ben Mears und Susan Norton ähnelt sehr der zwischen Jonathan Harker und seiner Verlobten Lucy Westenra. Beide Frauen müssen von ihren Geliebten gepfählt werden, um dem Dasein als untote Vampire zu entgehen. Und auch die beiden Vampire Richard Straker und Kurt Barlow verweisen namentlich bzw. dem Aussehen nach auf die Hauptfiguren in Bram Stokers Roman, nur dass King das Geschehen von Transsylvanien nach Maine und ins 20. Jahrhundert verlegt hat. Neben der spannenden Geschichte, die später u.a. von Tobe Hooper 1979 mit James Mason in der Hauptrolle verfilmt worden ist, überzeugen vor allem die fein gezeichneten Figuren und die gekonnte Dramaturgie des Untergangs einer ganz gewöhnlichen Kleinstadt durch Vampire.  

Michael Connelly – (Harry Bosch: 11) „Vergessene Stimmen“

Freitag, 5. Februar 2021

(Heyne, 478 S., HC) 
Nachdem Detective Hieronymus „Harry“ Bosch vor drei Jahren frustriert den Dienst beim Los Angeles Police Department quittiert hatte, bekommt er erstmal seit seiner Abschlussfeier an der Polizeiakademie im Jahr 1972 einen Zwei-Sechser, einen dringenden Anruf aus dem Büro des Polizeichefs im Parker Center. Seine ehemalige Partnerin Kizmin „Kiz“ Rider hatte sich dafür eingesetzt, Bosch wieder zu reaktivieren und mit ihm zusammen in der neu gegründeten Abteilung Offen-Ungelöst ungeklärte Kapitalverbrechen wieder aufzurollen. 
Ihr erster gemeinsamer Fall führt sie ins Jahr 1988 zurück, als die 16-jährige Rebecca Lost in der Nähe ihres Elternhauses tot aufgefunden wurde, die neben ihr liegende Pistole sollte offensichtlich auf einen Selbstmord verweisen, von dem die damals ermittelnden Detectives Garcia und Green auch zunächst ausgegangen waren. Durch die neu entwickelte Methode der DNS-Analyse konnte mittlerweile ein Hautfetzen am Verschlussstück der Waffe dem Kleinkriminellen Roland Mackey zugeordnet werden, dem allerdings bislang keine Gewaltverbrechen angelastet werden konnten. 
Obwohl Bosch Mackey nicht für den Täter hält und auch keine Verbindung zwischen ihm und dem Opfer herstellen kann, hängt er sich mit seiner Partnerin in den Fall rein, lässt Mackey observieren und findet einen Zusammenhang zum rassistischen Milieu. Doch nicht nur das: Offensichtlich war Boschs Erzfeind, der damalige Polizeichef Irvin Irving, darin verwickelt, die Ermittlungen von Green und Garcia in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dass Bosch Irving gleich an seinem ersten Diensttag in der Cafeteria über den Weg läuft, hält er nicht für einen Zufall. Rider und Bosch machen sich an die mühsame Arbeit, die damals ermittelnden Beamten, Rebeccas durch den Todesfall geschiedenen Eltern, alte Freundinnen und Freunde sowie Lehrer zu befragen, doch ergeben sich keine weiteren Erkenntnisse, die Mackey als Täter entlarven, zumal er über ein Alibi für die Tatnacht verfügt. 
Durch eine Titelstory über die neuen Ermittlungen zu Rebeccas Ermordung in der Zeitung, in der zwar der DNS-Beweis, aber nicht Mackeys Namen erwähnt wird, erhoffen sich die Detectives, dass der Täter aufgescheucht wird, doch dann nehmen die Dinge einen ganz unerwarteten Lauf, wobei Bosch wieder auf Irving stößt … 
„Die Public Disorder Unit. Eine dubiose Downtown-Einheit, die Daten und Geheiminformationen über Verschwörungen sammelte, aber wenig Fälle vor Gericht brachte. 1988 müsste die PDU dem damaligen Commander Irvin Irving unterstanden haben. Inzwischen gab es die Einheit nicht mehr. Als Irving zum Deputy Chief befördert wurde, löste er die PDU sofort auf, wobei viele bei der Polizei glaubten, das habe in erster Linie dem Zweck gedient, ihre Machenschaften zu vertuschen und sich von ihnen zu distanzieren.“ (S. 186) 
Harry Bosch ist wieder da, wo er hingehört, um an vorderster Front beim LAPD Mordfälle aufzuklären. Nachdem er sich einige Jahre als Privatermittler (in „Letzte Warnung“ und „Die Rückkehr des Poeten“) durchgeschlagen und sich auch um private Belange wie der schwierigen Beziehung zu seiner Ex-Frau Eleanor Wish kümmern konnte, rollt er nun mit seiner ehemaligen Partnerin Kiz Rider ungelöste Mordfälle auf, wobei der vermeintlich leichte erste Fall kaum überraschend dazu führt, dass sich Bosch und sein früherer Chef Irving wieder in die Quere kommen. 
Michael Connelly beweist mit „Vergessene Stimmen“, dem mittlerweile elften Fall von Harry Bosch, einmal mehr, warum er zu den absolut besten Autoren im Genre des Kriminal-Thrillers zählt. Souverän gelingt es dem ehemaligen Polizeireporter, die Ermittlungen seines charismatischen Protagonisten sehr kleinschrittig und detailliert zu beschreiben, ohne den Leser zu langweilen. 
Stattdessen fühlt sich der Leser als direkter Beobachter der Ermittlungen, die sukzessive eine feine Spannung aufbauen. Boschs Privatleben steht diesmal nahezu vollständig außen vor. Außer der kurzen Erwähnung, dass seine Ex-Frau einen Job in Hongkong angenommen und ihre gemeinsame sechsjährige Tochter mitgenommen hat, und ein One-Night-Stand mit einer früheren Kollegin gibt es an dieser Front nichts zu vermelden. Stattdessen bringt Connelly sehr schön zum Ausdruck, wie Bosch für den neuen Fall brennt, wie der Cop aus Leidenschaft die titelgebenden „vergessenen Stimmen“ der Toten nicht verstummen lassen und für Gerechtigkeit und Aufklärung sorgen will. 
Dass der Fall am Rand auch die rassistische Thematik aufgreift, verleiht der Story noch einen gesellschaftskritischen Touch. Und das Finale weist ein Tempo und Wendungen auf, die die zähe Ermittlungsarbeit endlich belohnt und die Leserschaft gespannt auf die nächsten Bosch-Fälle warten lässt.