Nachdem Detective Hieronymus „Harry“ Bosch vor drei Jahren frustriert den Dienst beim Los Angeles Police Department quittiert hatte, bekommt er erstmal seit seiner Abschlussfeier an der Polizeiakademie im Jahr 1972 einen Zwei-Sechser, einen dringenden Anruf aus dem Büro des Polizeichefs im Parker Center. Seine ehemalige Partnerin Kizmin „Kiz“ Rider hatte sich dafür eingesetzt, Bosch wieder zu reaktivieren und mit ihm zusammen in der neu gegründeten Abteilung Offen-Ungelöst ungeklärte Kapitalverbrechen wieder aufzurollen.
Ihr erster gemeinsamer Fall führt sie ins Jahr 1988 zurück, als die 16-jährige Rebecca Lost in der Nähe ihres Elternhauses tot aufgefunden wurde, die neben ihr liegende Pistole sollte offensichtlich auf einen Selbstmord verweisen, von dem die damals ermittelnden Detectives Garcia und Green auch zunächst ausgegangen waren. Durch die neu entwickelte Methode der DNS-Analyse konnte mittlerweile ein Hautfetzen am Verschlussstück der Waffe dem Kleinkriminellen Roland Mackey zugeordnet werden, dem allerdings bislang keine Gewaltverbrechen angelastet werden konnten.
Obwohl Bosch Mackey nicht für den Täter hält und auch keine Verbindung zwischen ihm und dem Opfer herstellen kann, hängt er sich mit seiner Partnerin in den Fall rein, lässt Mackey observieren und findet einen Zusammenhang zum rassistischen Milieu. Doch nicht nur das: Offensichtlich war Boschs Erzfeind, der damalige Polizeichef Irvin Irving, darin verwickelt, die Ermittlungen von Green und Garcia in eine bestimmte Richtung zu lenken. Dass Bosch Irving gleich an seinem ersten Diensttag in der Cafeteria über den Weg läuft, hält er nicht für einen Zufall. Rider und Bosch machen sich an die mühsame Arbeit, die damals ermittelnden Beamten, Rebeccas durch den Todesfall geschiedenen Eltern, alte Freundinnen und Freunde sowie Lehrer zu befragen, doch ergeben sich keine weiteren Erkenntnisse, die Mackey als Täter entlarven, zumal er über ein Alibi für die Tatnacht verfügt.
Durch eine Titelstory über die neuen Ermittlungen zu Rebeccas Ermordung in der Zeitung, in der zwar der DNS-Beweis, aber nicht Mackeys Namen erwähnt wird, erhoffen sich die Detectives, dass der Täter aufgescheucht wird, doch dann nehmen die Dinge einen ganz unerwarteten Lauf, wobei Bosch wieder auf Irving stößt …
„Die Public Disorder Unit. Eine dubiose Downtown-Einheit, die Daten und Geheiminformationen über Verschwörungen sammelte, aber wenig Fälle vor Gericht brachte. 1988 müsste die PDU dem damaligen Commander Irvin Irving unterstanden haben. Inzwischen gab es die Einheit nicht mehr. Als Irving zum Deputy Chief befördert wurde, löste er die PDU sofort auf, wobei viele bei der Polizei glaubten, das habe in erster Linie dem Zweck gedient, ihre Machenschaften zu vertuschen und sich von ihnen zu distanzieren.“ (S. 186)
Harry Bosch ist wieder da, wo er hingehört, um an vorderster Front beim LAPD Mordfälle aufzuklären. Nachdem er sich einige Jahre als Privatermittler (in „Letzte Warnung“ und „Die Rückkehr des Poeten“) durchgeschlagen und sich auch um private Belange wie der schwierigen Beziehung zu seiner Ex-Frau Eleanor Wish kümmern konnte, rollt er nun mit seiner ehemaligen Partnerin Kiz Rider ungelöste Mordfälle auf, wobei der vermeintlich leichte erste Fall kaum überraschend dazu führt, dass sich Bosch und sein früherer Chef Irving wieder in die Quere kommen.
Michael Connelly beweist mit „Vergessene Stimmen“, dem mittlerweile elften Fall von Harry Bosch, einmal mehr, warum er zu den absolut besten Autoren im Genre des Kriminal-Thrillers zählt. Souverän gelingt es dem ehemaligen Polizeireporter, die Ermittlungen seines charismatischen Protagonisten sehr kleinschrittig und detailliert zu beschreiben, ohne den Leser zu langweilen.
Stattdessen fühlt sich der Leser als direkter Beobachter der Ermittlungen, die sukzessive eine feine Spannung aufbauen. Boschs Privatleben steht diesmal nahezu vollständig außen vor. Außer der kurzen Erwähnung, dass seine Ex-Frau einen Job in Hongkong angenommen und ihre gemeinsame sechsjährige Tochter mitgenommen hat, und ein One-Night-Stand mit einer früheren Kollegin gibt es an dieser Front nichts zu vermelden. Stattdessen bringt Connelly sehr schön zum Ausdruck, wie Bosch für den neuen Fall brennt, wie der Cop aus Leidenschaft die titelgebenden „vergessenen Stimmen“ der Toten nicht verstummen lassen und für Gerechtigkeit und Aufklärung sorgen will.
Dass der Fall am Rand auch die rassistische Thematik aufgreift, verleiht der Story noch einen gesellschaftskritischen Touch. Und das Finale weist ein Tempo und Wendungen auf, die die zähe Ermittlungsarbeit endlich belohnt und die Leserschaft gespannt auf die nächsten Bosch-Fälle warten lässt.
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