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Garry Disher – „Stunde der Flut“

Samstag, 14. Januar 2023

(Unionsverlag, 334 S., HC) 
Der 1949 geborene Garry Disher zählt seit seinen ersten, zu Beginn der 1980er Jahre veröffentlichten Büchern zu den vielseitigsten australischen Schriftstellern. Obwohl er auch Sachbücher (über australische Geschichte und die Kunst des Schreibens) und Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht, ist er vor allem ein gefeierter Krimi-Autor verschiedener Reihen (Wyatt, Inspector Challis, Constable Hirschhausen) sowie einiger Stand-alone-Werke, zu denen auch sein neues, wieder von Peter Torberg souverän übersetztes Buch „Stunde der Flut“ zählt. 
Charlie Deravin hat erst 1999 die Polizeiakademie abgeschlossen und muss im Januar 2000 mitansehen, wie die Erinnerungen an seine Kindheit verschwinden. Seine Eltern stehen vor der Scheidung, Charlies Vater, Detective Sergeant in Menlo Beach auf der Peninsula, wird wohl das Haus verkaufen müssen, aber mit Fay hat sein Vater bereits eine neue Freundin am Start. 
Hier in der Tidepool Street kauften Charlies Dad und seine Kumpel und Kollegen in den späten Siebzigern günstig Ferienhäuser und Wochenenddomizile, die sie zu Familienheimen umwandelten, doch lange hielten die Frauen das alkoholgeschwängerte Machogehabe ihrer Männer nicht aus. Charlies Mutter Rose, eine Lehrerin, hat am längsten durchgehalten. Nun lebt sie in einer abgewrackten Hütte im Außenbezirk mit einem, wie Charlie und sein Bruder Liam finden, unpassenden Untermieter namens Shane Lambert, dessen Sachen die beiden Brüder schnell zusammenpacken, bevor sie ihn vor die Tür setzen. Als Charlie zurück in Swanage ist, wird er mit einem Vermisstenfall betraut. Der neunjährige Billy Saul ist während eines Aufenthalts seiner Grundschulklasse im Jugendlager spurlos verschwunden, wenig später wird der Wagen von Charlies Mutter leer aufgefunden, mit Blut am noch im Schloss steckenden Schlüssel und auf der Straße verstreuten Sachen aus ihrer Handtasche. Zwanzig Jahre später werden sowohl Billy Saul als auch Charlies Mutter immer noch vermisst. 
Charlie ist nach Tätlichkeiten gegen seinen Vorgesetzten vom Dienst suspendiert worden, lebt im Haus seiner alten Familie, ist seit zwei Jahren mit Anna Picard liiert, die er als Geschworene bei einem Prozess gegen einen beliebten Football-Spieler wegen Vergewaltigung kennengelernt hat, und hat bereits eine erwachsene Tochter namens Emma. Er nutzt seine freie Zeit, um privat weiter das Verschwinden seiner Mutter zu untersuchen. Sein ursprünglicher Verdacht, dass Shane Lambert sich an Charlies Mutter rächen wollte, weil er damals auf die Straße gesetzt worden ist, erhärtet sich nicht, da Lambert zum Zeitpunkt von Rose Deravins Verschwinden wegen Trunkenheit in Rosebud über Nacht eingesperrt war. Doch auch Charlies Vater hätte ein Motiv gehabt, Rose umzubringen, um das Haus nicht verkaufen zu müssen. Allerdings sind Charlie auch die ehemaligen Kollegen seines Vaters, vor allem der omnipräsente Mark Valente, verdächtig… 
„Charlie dachte all die Jahre zurück und suchte nach seinem Vater. Nach seinem veränderlichen, wechselhaften Vater. Ein liebenswürdiger – meist liebenswürdiger – Unruhestifter, wenn sie zu viert daheim waren. Ein Mann, der einen zum Lachen bringen konnte, der einen packte und kitzelte. Wenn er aber in Gesellschaft von Valente und seinen anderen Polizeikumpels war, ging Charlie auf, dann war er anders. Das Lächeln wirkte gezwungener; der Blick war wachsam. Nach einer Weile verging die Unruhestifterei völlig, er lernte eine andere Frau kennen, die Familie fiel auseinander, und seine Frau verschwand…“ (S. 251) 
Garry Disher nutzt die zwei Zeitebenen vor allem dazu, die Entwicklung der Strukturen zu beschreiben, die dazu führten, dass eine einst glückliche Polizistenfamilie auseinandergefallen ist. Gemächlich setzt der Autor aus der Perspektive seines Protagonisten aus Erinnerungen ein Bild zusammen, das von enttäuschten Erwartungen, mehr oder weniger latenten Verdächtigungen und zerbrochenen Träumen handelt, von den schwierigen Beziehungen zwischen sich entfremdeten Brüdern, aber auch von den unterschiedlichen Welten und Zeiten, die die Brüder von ihren Vätern trennen. 
Polternde Action wird man in „Stunde der Flut“ nicht finden. Disher ist eher – sieht man von seiner Wyatt-Reihe ab, die aber auch einen Kriminellen als Protagonisten aufweist – ein Autor der leisen Töne und des gemächlichen Erzählens. Er nimmt sich viel Zeit, um nach und nach die Beziehungen seiner Figuren zueinander, aber auch das gesellschaftliche Umfeld, in dem sie sich bewegen, einzufangen. Das klingt wenig spektakulär, trifft aber immer wieder einen Nerv und bezieht auch aktuelle Entwicklungen wie den Beginn der Covid-Pandemie mit ein, die auch Charlies Vater während einer Kreuzfahrt nach Japan erwischt. 
Am beeindruckendsten ist Disher aber seine Hauptfigur gelungen, so dass man sich wünschen möge, dass der unerbittliche Ermittler Charlie Deravin noch einige weitere Fälle zu knacken bekommt. 

Garry Disher – (Wyatt: 7) „Dirty Old Town“

Sonntag, 2. Januar 2022

(Pulp Master, 324 S., Tb.) 
Der australische Schriftsteller Garry Disher hat sich breit aufgestellt. Zwar ist er vor allem durch seine Krimi-Reihen und den Berufsdieb Wyatt und Inspektor Challis bekannt geworden, hat aber auch etliche Kinder- und Jugendbücher sowie Sachbücher geschrieben. Nach den sechs erfolgreichen Wyatt-Romanen „Gier“ (1991), „Dreck“ (1992), „Hinterhalt“ (1993), „Willkür“ (1994), „Port Vila Blues“ (1996) und „Niederschlag“ (1997) schien die Geschichte von Wyatt zunächst auserzählt, doch nach 13 Jahre Pause legte Disher mit „Dirty Old Town“ (2010) den siebten Roman der erfolgreichen Reihe nach, auf die bislang noch zwei weitere Abenteuer folgten. 
Einst ist Eddie Oberin als Bankräuber und Fluchtwagenfahrer aktiv gewesen. Mittlerweile schiebt er als Hehler und Informant eine ruhigere Kugel. Ihm hat Wyatt den Tipp mit dem überschuldeten Hafenmeister des Port of Melbourne zu verdanken, der es sich gut bezahlen ließ, Schiffe nicht in Quarantäne zu schicken. Bei einem der Geldübergaben ist Wyatt zur rechten Stelle, doch die Polizei auch. Wyatt gelingt zwar die Flucht, doch die erbeutete Aktentasche enthält nur 1600 australische Dollar und sonst nur Papier zwischen den Ober- und Unterseiten der vermeintlichen Geldbündel. Einträglicher wirkt der nächste Coup, an dem der altmodische Dieb beteiligt ist. 
Wyatt hat weder Interesse, sich mit den ausgeklügelter Elektronik zu befassen, noch mit Drogen zu handeln. Stattdessen konzentriert er sich ganz auf das Geschäft mit Geld, Juwelen und Gemälden. Oberin hat durch seine Ex-Frau Lydia Stark den Tipp bekommen, dass die Gebrüder Henri und Joe Furneaux Schmuck der Extraklasse herstellen. Statt ihren Laden zu überfallen, wollen sie eine Lieferung kapern. Um die Probleme zu umgehen, die mit der wenig ertragsreichen Liquidierung der Schmuckstücke zusammenhängen, kommt mit dem französischen Kurier Alain Le Page eine weitere Komponente ins Spiel. Neben seiner legalen Fracht aus Edelsteinen, Goldketten und kleinen Goldbarren transportiert Le Page nämlich auch gestohlene Exemplare von Luxusmarken wie Breitling, Rolex, Piaget, Georg Jensen etc., auf die es Stark, Oberin und Wyatt abgesehen haben. 
Doch der Überfall verläuft anders als geplant: Oberin und seine Geliebte Khandi Cane ziehen den Deal auf eigene Rechnung durch, schießen Lydia an. Wyatt nimmt sich der verletzten Frau an und entwickelt dabei mehr Gefühle für sie, als ihm lieb ist. Doch auch Eddie Oberin kommt nicht ungeschoren aus der Sache raus. Die ehrgeizige Polizistin Rigby gelangt nämlich an den Koffer, an dem sich statt des erwarteten Klunkers Wertpapiere befanden. Nun machen die geprellten Partner Jagd aufeinander … 
„Er fragte sich, was Eddie wisse oder vermute, und logischerweise auch, wie er, Wyatt, sich an seiner Stelle verhielte. Ganz sicher würde er die Nachrichten im Radio und Fernsehen verfolgen. Er würde sich fragen, warum man nicht von Leichen in der Nähe des brennenden Audi berichtete. Und das würde ihn aus der Bahn werfen. Wenn er glaubt, dass ich noch lebe, dachte Wyatt, wird er es mit der Angst zu tun bekommen. Wenn er glaubt, dass ich tot bin, wird er sich fragen, warum die Cops dazu schweigen.“ (S. 136) 
Eigentlich stellt „Dirty Old Town“ ein klassisches Heist-Szenario mit unübersehbaren Noir-Elementen dar. Disher muss seinen Protagonisten Wyatt nicht groß einführen. Die Art, wie er die Hafenmeister-Geschichte durchzieht, sich bei Ma Gadd eine neue Waffe besorgt und dabei das unerwünschte Interesse ihres grobschlächtigen Neffen Tyler auf sich zieht, präsentiert einen durch und durch abgekochten und fokussierten Dieb, der seine Coups ebenso sorgfältig plant und nachbereitet, wie er sie durchzieht. 
Nachdem der vermeintliche Luxus-Schmuck-Coup aber fürchterlich aus dem Ruder gelaufen ist, beginnt die eigentliche Story, die Disher aus den verschiedenen Perspektiven aller Beteiligten erzählt. Das sorgt für Tempo und allerlei Verstrickungen. Zwar verpasst der Autor seinen Figur jeweils eine eigene Vita und Kontur, aber so richtig erwärmen mag man sich als Leser für niemanden, weshalb sich auch kein Bedauern einstellt, wenn eine Figur nach der anderen aus dem Spiel ausscheidet und sich Wyatt zum knackigen Finale nur noch mit seinem Endgegner herumschlagen muss. Das ist durchaus unterhaltsam geschrieben, fesselt allerdings nicht über die gesamte Strecke. Dazu nimmt der Plot zu viele Umwege in Kauf. 
So bietet „Dirty Old Town“ zwar ein turbulentes Wiedersehen mit Wyatt, doch dafür hätte Garry Disher seinen Helden nicht unbedingt reaktivieren müssen.