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Stewart O’Nan – „Ocean State“

Dienstag, 20. Juni 2023

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Stewart O’Nan hat es in seiner über fünfunddreißigjährigen Schriftstellerkarriere immer wieder hervorragend verstanden, die Befindlichkeiten und das allgemeine soziale Gefüge gerade der amerikanischen Arbeiterschicht und damit der breiten Bevölkerung seines Landes zu sezieren und auf mitfühlende Weise in oft tragischen Geschichten zu beschreiben. Da macht sein 2022 erschienener Roman „Ocean State“ keine Ausnahme. In Rhode Island, dem sogenannten „Ocean State“ und kleinsten US-Staat, haben die Menschen schwer mit den Folgen der Wirtschaftskrise zu kämpfen. Die Arbeiterstadt Westerly ist von nach dem Bankencrash leeren Häusern an der Küste geprägt. Im nahegelegenen Ashaway lebt die nach ihrer Scheidung von Frank alleinerziehende Carol als Pflegerin in einem Altenheim, bringt sich und ihre beiden Teenagertöchter Marie und Angel gerade so über die Runden und hofft, durch neue Beziehungen mit Männern ihren Status zu erhöhen, was ihr in zunehmenden Jahren immer schlechter zu gelingen scheint. 

Bricht die Beziehung auseinander, muss Carol für sich und ihre beiden Töchter eine neue Bleibe suchen. Momentan ist es ein unscheinbares Haus am Fluss, gegenüber der leer stehenden Garn- und Schnur-Fabrik Line & Twine, in deren Gängen die Mädchen Rollschuh fahren. 
Der Mord an der Highschool-Schülerin Birdy erschüttert die Kleinstadt. Sie hat sich in den aus wohlhabendem Haus stammenden Myles verliebt, der allerdings mit Maries älterer Schwester Angel liiert gewesen ist. Aus einem Abstand von einigen Jahren lässt nicht nur Marie die Ereignisse Revue passieren, die mit Birdys Tod endeten. 
„Wie alles im Fernsehen schien der Fall einer anderen Welt anzugehören, obwohl sich das Ganze direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite abspielte. Ich kannte diesen Flussabschnitt besser als jeder andere und stellte mir vor, wie ich sie entdeckte, schlaff und blass wie ein Fisch, hängen geblieben im Wehr, und meine Geschichte einem Reporter erzählte. Jeden Abend gaben sie uns einen Hinweis, als wäre es ein Spiel. Ihre Mutter sagte, als sie losgefahren sei, habe sie ihre Uniform getragen, doch ihr Chef bestritt, dass sie Dienst hatte. Sie hatte sich vor kurzem von ihrem langjährigen Freund getrennt, den die Polizei für eine Person von besonderem Interesse hielt.“ (S. 180) 
Auch wenn „Ocean State“ mit der Erwähnung eines Mordes beginnt, handelt es sich bei O’Nans neuen Roman natürlich nicht um einen Krimi mit klassischem Whodunit-Plot, denn die (Mit-)Täterin wird gleich im ersten Satz miterwähnt.
Stattdessen bewegt sich der aus Connecticut stammende Autor auf vertrautem Terrain, portraitiert einfühlsam die Lebensumstände (nicht nur) junger Menschen, die sich durch Highschool, Nebenjobs, Liebesgeschichten und das Leben kämpfen, nach und nach ihre Träume begraben und desillusioniert von einer unglücklichen Beziehung in die nächste schlittern. O’Nan lässt die Geschichte aus der wechselnden Perspektive der vier Frauen Carol, Marie, Angel und Birdy erzählen, was dem Roman eine besondere Note verleiht, denn die Männer wirken ohnehin eher schwach. Myles sieht zwar gut aus und kommt aus reichem Hause, verfügt aber über keinen nennenswerten Charakter, vermag sich nicht so recht zwischen Angel und Birdy entscheiden, was die tragischen Ereignisse vielleicht erst in Gang setzt. 
In den persönlichen Erinnerungen der vier Protagonistinnen wird vor allem das Ringen um Liebe und Anerkennung in einer Welt deutlich, die den Figuren am Rande der Gesellschaft sonst nichts zu bieten hat. Gewohnt eindringlich fühlt sich O’Nan in die Träume, Sehnsüchte und Ängste seiner Figuren ein und bleibt diesen auch bis nach dem eigentlichen Ende der Geschichte treu, wirft noch einen kurzen Blick in die Zukunft der vier Frauen. So entsteht das Bild einer Gesellschaft, die vor allem durch die Ungleichheit der Chancen und des Vermögens geprägt ist. Darin ist und bleibt O’Nan einfach ein Meister. 

Stewart O‘Nan – „Sommer der Züge“

Sonntag, 11. April 2021

(Rowohlt, 478 S., HC) 
Als ihn die Nachricht erreicht, dass sein Vater im Sterben liegt, macht sich James Langer mit seiner Frau Anne und ihrem Sohn Jay auf den Weg nach Montauk, Long Island. In diesem Sommer des Jahres 1943 geht es für die Langer-Familie aber nicht nur darum, Abschied vom Familienoberhaupt zu nehmen, sondern die tief liegenden Wunden zu heilen, die die Ereignisse der letzten Zeit mit sich brachten. James hat durch seine Affäre mit seiner sechzehnjährigen Schülerin Diane nicht nur seinen Job, sondern auch das Vertrauen seiner Frau verloren. Anne wiederum rächt sich an ihrem Mann durch eine Affäre mit dem jungen Soldaten Martin, fühlt sich dadurch aber nicht wirklich besser, denn über allen persönlichen Krisen liegt die am schwersten wiegenden Tatsache, dass ihr ältester Sohn Rennie im Krieg gegen die Japaner auf der Aleuteninsel Attu kämpft, während seine Verlobte Dorothy in San Diego sein Kind zur Welt bringt. 
Seit Wochen haben die Langers nichts mehr von Rennie gehört, der im Gefecht schwer verwundet wird, aber überlebt. Als er nach Hause kommt, fehlen ihm meist die Worte, was nicht nur an dem mit Draht zusammengeklammerten Kiefer und der schlecht sitzenden Gebissprothese liegt, sondern auch an den traumatischen Erinnerungen an einen Krieg, an dem er nie teilnehmen wollte. 
Derweil hofft James, dass ihm seine Frau irgendwann seinen Fehltritt verzeiht, dass sie mit der Rückkehr nach Galesburg gemeinsam wieder zu dem Leben zurückkehren können, bevor die Dinge außer Kontrolle gerieten. 
„An seine eigenen Versöhnungsbemühungen konnte er sich nicht mehr erinnern, nur an die Trauer um Diane. Schweigen, Autofahrten. Anne hatte den Grund wissen wollen, und was hätte er ihr sagen sollen? Er hatte sich selbst nicht mehr erkannt. Er hatte sich gefühlt, als wäre er aus einem Rausch erwacht, voll Reue und doch erstaunt, dass er so lange ohne Bewusstsein gewesen war. Er glaubte zu sehen, dass Anne langsam erkannte, wo sie stand und was sie getan hatte.“ (S. 462) 
Stewart O‘Nan hat sich bereits in seinen vorangegangenen Romanen „Engel im Schnee“ und „Die Speed Queen“ als einfühlsamer wie präziser Erzähler erwiesen, der sich so tief in die inneren Welten seiner ganz alltäglichen Protagonisten eingräbt, dass sie seinem Publikum wie lebensechte Figuren vorkommen, deren Sehnsüchte, Hoffnungen, Träume und Ängste jederzeit nachzuvollziehen sind. Auch sein 1998 veröffentlichtes Buch „A World Away“, das ein Jahr später in deutscher Übersetzung mit dem etwas irreführenden Titel „Sommer der Züge“ erschienen ist, bringt die erstaunliche Fähigkeit des Autors zum Ausdruck, die problematischen Beziehungen innerhalb einer Familie zu sezieren, wobei diese größtenteils aus der Gewalt resultieren, die diese Menschen einander antun. 
Obwohl „Sommer der Züge“ in Kriegszeiten spielt und mit Rennie ein Familienmitglied aktiv in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Japan involviert ist, führt O‘Nan hier sehr schön vor, wie Rennie eigentlich den Kriegsdienst verweigert hatte und er sich erst für einen Kriegseinsatz als Sanitäter an der Front meldete, als einer seiner College-Freunde im Krieg umgekommen war. Zu dem Zeitpunkt übten seine Familie und die Kleinstädter aber schon so viel moralischen Druck auf den jungen Mann aus, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als seinen Teil zum Wohl der Gemeinschaft beizutragen.  
O‘Nan wechselt immer wieder die Erzählperspektiven, beschreibt sowohl die kleinsten Anzeichen, nach denen James bei seiner Frau sucht, dass sie ihn wieder an ihrem Leben teilhaben lässt, lässt Anne rekapitulieren, was sie dabei empfunden hat, als sie von dieser unmöglichen Affäre ihres Mannes erfahren hat und wie sie nun versucht, die Affäre mit Martin zu beenden. Rennie kommt mit seinen Erlebnissen an der Front und der schwierigen Wiedereingliederung ins Leben nach seiner Rückkehr ebenso zu Wort wie seine Verlobte, die schwanger in einer Waffenfabrik arbeitet und ebenso wie Rennies Eltern verzweifelt auf seine Rückkehr hofft. 
All das wird begleitet von wunderbar präzisen Beschreibungen des Alltags, der Natur ebenso wie der Musik und den Filmen im Kino, die Jay besucht. So entsteht ein zutiefst intimes, Leben und Tod, Gewalt und Liebe, Trost und Vergebung, Ende und Neuanfang austarierendes Familien- und Gesellschaftsportrait, wie es nur ein so begnadeter, vielseitiger Erzähler wie Stewart O‘Nan vorlegen kann.  

Stewart O’Nan – „Die Speed Queen“

Samstag, 28. November 2020

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Margie Standiford wartet in der Todeszelle eines Gefängnisses in Oklahoma auf ihre Hinrichtung durch eine Giftinjektion. Ihre letzten Stunden verbringt sie damit, dem Bestseller-Autor Stephen King, der über Margies Anwalt Mr. Jefferies die Rechte an ihrer Geschichte gekauft hat, ein Tape zu besprechen, auf dem sie die 114 Fragen beantwortet, die er ihr zu ihrer Lebensgeschichte gestellt hat. Das tut sie nicht nur, um ihren Sohn Gainey finanziell abzusichern, sondern vor allem ihre eigene Version der Geschichte zu veröffentlichen, die bereits ihre Freundin Natalie erfolgreich zu einem Buch vermarktet hatte, das aber eben – ihrer Meinung nach - nicht die Wahrheit erzählte. 
Der Fragenkatalog von Stephen King bietet ihr nun die Möglichkeit, ihre Version der Geschichte publik zu machen, wobei sie nach einer Einleitung mit ihrer Kindheit beginnt, mit dem Umzug aus der Nähe von Depew nach Kickingbird Circle in Edmond, wo ihr Vater Trainerassistent in einem Reitpark und ihre Mutter beim örtlichen Postamt beschäftigt waren. Margie verlebte eine ganz normale Kindheit, hatte Freundinnen und Spaß in der Schule, vor allem an Erdkunde, sang im Chor, spielte Softball, ging aber nicht in die Kirche – da sonntags die großen Pferderennen stattfanden. Am 26. Oktober 1984 lernte sie ihren späteren Mann Lamont kennen, als sie in einer Tankstelle arbeitete und sich die Zeit damit vertrieb, jede Nacht ein Fläschchen Wodka zu leeren. 
Lamont kam mit einem 442-Kabrio vorgefahren, verließ die Tankstelle, ohne zu bezahlen, kehrte dann aber zurück, um so Margie kennenzulernen. Mit ihm nahm auch Margies Drogenkonsum zu. Während sie zu High-School-Zeiten nur Bier und Wodka getrunken, an den Wochenenden Gras geraucht und bei Gelegenheit Downers eingeworfen hatte, kamen nun Acid und Speed dazu, dem sie schließlich ihren Spitznamen verdankte. Als sie wegen Drogenmissbrauchs sechs Monate in Clara Waters absitzen musste, lernte sie Natalie kennen, mit der sie eine Affäre begann, doch als Margie zu mutmaßen begann, dass Natalie auch mit Lamont schlief, kommt es zur Katastrophe. 
Bei einem gemeinsamen Roadtrip auf der Route 66 überfielen sie ein Schnellrestaurant, nachdem sie bereits ein älteres Ehepaar umgebracht hatten, schließlich erschossen sie sogar einen Polizisten, wofür sich Margie schließlich vor Gericht verantworten musste. 
„In der Zeitung bezeichnen sie die Morde immer als sinnlos. Die Leute waren vielleicht übel zugerichtet, aber zumindest gab’s einen Grund dafür. Dann ist das noch, dass sie uns als Serienmörder bezeichnen. Das ist einfach falsch – ein Serienmörder bringt immer nur einen um, aber das öfter. Das andere, was mich stört, ist die Bezeichnung ,mordlüstern‘. Ich glaub, das stimmt genausowenig. Lüstern hört sich an, als hätte uns die Sache gut gefallen, als wären wir ganz unbekümmert gewesen oder so, als hätt’s uns Spaß gemacht, während es in Wirklichkeit genau umgekehrt war.“ (S. 224) 
In seinem vierten, im Original 1997 veröffentlichten Roman „Die Speed Queen“ hat der aus Pittsburgh stammende Schriftsteller Stewart O’Nan eine eigenwillige Methode gefunden, die Geschichte seiner Protagonistin, der zum Tode verurteilten Marjorie Standiford, zu erzählen, nämlich als transkribierte Kassettenaufnahme, die der Bestseller-Autor Stephen King zu einem Roman formen soll, nachdem er der Todgeweihten einen Fragenkatalog zukommen ließ. Diese Form der Ich-Erzählung ist deshalb so interessant, weil die Leserschaft nur die schöngefärbte Perspektive der Erzählerin zu hören bekommt, die in ihrer Lebensgeschichte vor allem ihren Weggefährten Lamont und Natalie die Schuld an den Verbrechen zuschiebt, so als sei sie kaum beteiligt gewesen und habe sich nur um ihren Sohn gekümmert, während die beiden mutmaßlichen Verräter die Morde verübten. Die Fragen des – zwar an sich realen, in diesem Fall aber fiktiv eingebundenen – Autors Stephen Kings werden nicht aufgeführt, erschließen sich in der Regel aber aus der Art von Margies Antworten. 
„Die Speed Queen“ erweist sich als die tragische Geschichte einer sehr durchschnittlichen Frau, die sich mit Mindestlohn-Jobs über Wasser hält und voll in den Beziehungen zu Lamont und später auch Natalie aufgeht. Wie sie im späteren Verlauf ihnen die Schuld an den tödlichen Verbrechen gibt, wirkt wie ein Racheakt, weniger wie eine wahrheitsgetreue Aufarbeitung. Der Roman thematisiert aber auch den Umgang der Medien mit Gewalt und fehlgeleiteter Berühmtheit. Stephen King fungiert hier als Stellvertreter für ein mächtiges Sprachrohr, der mit seinen Millionenauflagen auch Margies letztlich bemitleidenswerte Geschichte möglichst breit bekannt machen soll. 
Auch wenn die sehr einfache Sprache, mit der O’Nan seine Protagonistin ihre Geschichte erzählen lässt, zunächst gewöhnungsbedürftig ist, entwickelt die Story bei allen Zeitsprüngen einen starken Sog, mit dem eine an sich unauffällige Figur an Persönlichkeit gewinnt.


Stewart O’Nan – „Die Armee der Superhelden“

Mittwoch, 18. November 2020

(Rowohlt, 208 S., Tb.) 
Der aus Pittsburgh stammende Schriftsteller Stewart O’Nan hat sich in seinem mittlerweile durchaus umfangreichen Oeuvre als Meister des schonungslosen Blicks auf das Gewöhnliche, auf den Alltag und die – oft gescheiterten - Beziehungen ganz normaler Menschen etabliert. Im Jahr 2000 erschien bei Rowohlt seine bereits 1993 im Original veröffentliche Story-Sammlung „Die Armee der Superhelden“, und selbst wer bislang nur wenige Bücher des amerikanischen Ausnahme-Autors gelesen haben sollte, wird sofort merken, dass im Zentrum der zwölf hier vereinten Geschichten alles andere als Superhelden stehen. 
So versucht der auf einer Mülldeponie arbeitende Carter in der Eröffnungsgeschichte „Der Finger“ noch immer einen Draht zu seiner Frau Diane zu finden, von der er seit einem Jahr getrennt lebt. Er fühlt sich nach wie vor verantwortlich, obwohl sie sich – wie er weiß – mit anderen Männern trifft, bringt ihr Umschläge mit Geld, wenn sie dringend welches benötigt, besucht sie und ihr gemeinsames Kind am Sonntag und führt Reparaturen in ihrem Haushalt durch. Doch als er eine Kommode von der Mülldeponie hübsch für Diane aufbereitet, findet er sie wenig später erneut im Müll wieder. In „Der 3. Juli“ versucht die verwitwete Mrs. May den heruntergekommenen Golf-Club in Schuss und die wenigen Gäste bei Laune zu halten, doch kann sie sich nicht auf ihren Angestellten Lawson verlassen, der bestimmte Arbeiten anfängt, sich dann aber anderen Beschäftigungen zuwendet wie das Beschützen seiner Tauben vor dem Falken. 
In „Die Versteigerung“ werden Farmen von bankrotten Leuten versteigert, in „Winter Haven“ versucht ein Polizeibeamter ein Haus zu verkaufen, nachdem er sich von seiner Frau Eileen getrennt hat, und nun ein Auge darauf wirft, dass ein Hausbesetzer, der am Strand ein Haus nach dem anderen in Beschlag nimmt, nicht auch sein Haus besetzt. In der Titelgeschichte versucht ein Mann, seine Einsamkeit dadurch zu lindern, dass er sich wie sein Sohn mit dem Sammeln von Comics beschäftigt, doch als sein Sohn kein Interesse mehr an den Comics hat und sie verkaufen will, wird seinem Vater die Einsamkeit umso schmerzlicher bewusst. 
In der abschließenden Geschichte „Econoline“ denkt Willie T. darüber nach, in Rente zu gehen, sich einen Bus zu kaufen und damit Leute aus einem Seniorenheim durch die Gegend zu fahren. Doch der Job drückt dem alten Mann zunehmend aufs Gemüt. 
„Aber selbst während seine Fahrgäste lachten und Witze rissen, vergaß Willie T. nie, dass sie bald sterben würden. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, war leichter, als daran zu glauben. Christine war stolz auf ihn, Mr. Binstock war stolz auf ihn, Mr. Fergus war stolz auf ihn. Ungeachtet des Geldes wäre es dumm gewesen, gegen ihren vereinten Respekt anzukämpfen. Also fuhr er, angstvoll, skeptisch.“ (S. 203) 
Mit „Die Armee der Superhelden“ taucht Stewart O’Nan einmal mehr tief in die Seele einfacher amerikanischer Menschen ein, die am Ende ihres Berufslebens stehen und mit Sorge auf die Zeit danach blicken; die am Ende einer Ehe/Beziehung sind, sich aber mit den veränderten Lebensbedingungen nicht abgefunden haben; die sich mit Menschen umgeben, die einander nicht verstehen – da helfen auch keine Sprachkurse weiter wie in „Mr. Wu denkt“. In nahezu jeder Geschichte offenbart der Autor mit seiner schnörkellosen Sprache und seinem lakonischen Ton die emotionale Leere, die Einsamkeit seiner Figuren, die viel reden, aber letztlich wenig mitzuteilen haben und von ihren Gesprächspartnern wenig Verständnis erwarten können. 
Zum Glück sind es nur gut 200 Seiten, in denen O’Nans Leserschaft die niederschlagende, pessimistische Sicht auf den Alltag ganz gewöhnlicher Leute ertragen müssen. Auf der anderen Seite tragen die Geschichten hoffentlich dazu bei, sich selbst besser zu fühlen, weil man nicht ein so trostloses Leben führt. Im Gegensatz zu seinen meist sehr gelungenen Romanen, bei denen O’Nan tief in die Psyche der Protagonisten blicken lässt, präsentieren hier die kurzen Erzählungen nur einen kurzen Blick auf einzelne Situationen, als würde man als Kinobesucher zu spät in einen Film kommen und vor dem Finale wieder gehen, denn oft fehlt auch eine Pointe.


Stewart O’Nan – „Der Zirkusbrand“

Sonntag, 20. September 2020

(Rowohlt, 510 S., HC) 
Als der Zirkus Ringling Bros. and Barnum & Bailey am 6. Juli 1944 in Hartford, Connecticut, sein Gastspiel gab, kamen geschätzte 8700 Besucher zur Nachmittagsvorstellung an diesem heißen Sommertag. Er war einer der wenigen Eisenbahn-Zirkusse, die die Weltwirtschaftskrise überlebt haben und darauf bauen konnte, dass durch die Kriegsindustrie die Lohntüten der Menschen gut gefüllt waren. Zu den Höhepunkten des Programms zählten das von Strawinsky geschriebene und von Balanchine choreographierte Elefantenballett, die Stars Emmett Kelly und Löwen-Dompteur Alfred Court, die Wallendas, die Cristianis, die Fliegenden Concellos und Menagerieattraktionen wie der Riesengorilla Gargantua und seine Braut M’Toto. Das Programm war sehr patriotisch ausgerichtet, Soldaten hatten freien Eintritt, und es gab Freikarten für die Haupttribüne für diejenigen, die Kriegsanleihen gezeichnet haben. 
Für viele Menschen sollte der Besuch dieser Vorstellung allerdings zum Verhängnis werden: Gerade als May Kovar und Joseph Walsh in zwei getrennten Käfigen ihre Raubtiervorführungen beendeten und die Wallendas zehn Meter nach oben kletterten, um mit ihrer Drahtseilakrobatik zu beginnen, da fing ein Feuer an der unbehandelten Zeltwand hinter der südwestlichen Seitentribüne ungefähr zwei Meter über dem Boden zu lodern an. Als es bemerkt wurde, versuchten einige Platzanweiser mit gefüllten Wassereimern den Brand zu löschen, doch erreichten sie nur den unteren Rand der Flammen, die in der wasserdichten Mischung aus Paraffin und Benzin schnell weitere Nahrung fanden. 
Zwar spielte Merle Evans mit ihrem Orchester noch „The Stars and Stripes Forever“, doch die Panik ließ sich nicht mehr aufhalten. Wer auf den unteren Plätzen nicht schnell genug ins Freie rannte, wurde gnadenlos von den nachströmenden Massen zertrampelt, andere wurden von den siebzehn Meter hohen, nun herunterstürzenden Masten erschlagen, von den Laufgittern eingeklemmt, starben durch Rauchvergiftung oder schwere Verbrennungen. 
Die über 400 Verletzten wurden auf die umliegenden Krankenhäuser verteilt, die Toten zur Identifizierung ins Waffenarsenal gebracht. 
„Das ganze Land war in ständiger Bereitschaft, und nach der Invasion der Normandie war die Moral der Leute gut. Die Ideale von Opferbereitschaft und gemeinsamer Anstrengung waren ihnen inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Viele Menschen verließen ungefragt ihren Arbeitsplatz, um zu helfen, als sie vom Brand hörten. Die Blutbank des Roten Kreuzes in der Pearl Street konnte sich vor Spendern kaum retten.“ (S. 217) 
Stewart O’Nan, der 1993 für seinen Debütroman „Engel im Schnee“ mit dem William-Faulkner-Preis ausgezeichnet wurde und seither zu einem der angesehensten zeitgenössischen Schriftsteller avancierte, hatte eigentlich nicht vor, ein Sachbuch über den verheerendsten Zirkusbrand in der amerikanischen Geschichte zu schreiben. Er hatte während der Recherchen zu einem Roman einen Artikel über das Feuer in einer alten „Life“-Ausgabe gelesen und erinnerte sich daran, als er mit seiner Familie nach Hartford zog, wo er neugierig nach näheren Informationen suchte, aber überraschend feststellen musste, dass diese Katastrophe niemand in Worte gefasst hatte. 
Also begann er, die Menschen in der Stadt zu befragen und Material zu sammeln. Stewart O’Nan wurde zum selbsternannten „Hüter des Brandes“, hatte seinen Roman beendet und Zeit, die Geschichte des Brandes und der Überlebenden zu erzählen. Am Ende erzählt „Der Zirkusbrand“ eine gut fünfzig Jahre umfassende Geschichte der Katastrophe, die bis heute nicht aufgeklärt werden konnte. Minutiös berichtet er wie ein Dokumentarfilmer über die Vorbereitungen und – leider unzulänglichen - getroffenen Sicherheitsvorkehrungen; schildert, wie verschiedene Familien sich auf den Zirkusbesuch vorbereiteten und die Katastrophe ihren Lauf nahm. Illustriert durch unzählige Schwarz-Weiß-Aufnahmen dokumentiert der Autor den Ausbruch der Panik, die selbstlosen Rettungsversuche einiger tapferer Menschen, die Schwächeren beim Verlassen des Unglücksortes halfen; beschreibt die verheerenden Verletzungen und die verzweifelten Versuche von Ärzten und Krankenschwestern, das Leider der Opfer zu lindern. 
Besonders tragisch entwickelt sich die Suche nach den unidentifizierten Opfern, sechs Stück an der Zahl, darunter ein Mädchen, das als „kleine Miss 1565“ bekannt geworden ist. O’Nan nimmt sich auch hier viel Zeit, die Suche nach der Identität des kleinen Mädchens und letztlich nach den Verantwortlichen der Katastrophe zu beschreiben. Beides zog sich bis in die 1990er Jahre hinein. Es ist ebenso bestürzendes wie faszinierendes Zeitdokument, das Stewart O’Nan mit „Der Zirkusbrand“ vorgelegt hat, eine Art Reportage in Romanform, die manchmal zu sehr ins Detail geht, aber letztlich wirklich alle Aspekte dieser Katastrophe abdeckt. Es ist schwerverdauliche Kost, die durch O’Nans gewissenhafte Arbeit lange im Gedächtnis bleibt und vor allem den Opfern und Helden ein Denkmal setzt.


Stewart O’Nan – „Henry persönlich“

Dienstag, 15. Oktober 2019

(Rowohlt, 480 S., HC)
Henry Maxwell, der seinen Namen einem im Ersten Weltkrieg gefallenen Geistlichen verdankt, dem ein Buntglasfenster in der Calvary Episcopal Church gewidmet ist, steht kurz vor seinem 75. Geburtstag und der Goldenen Hochzeit mit seiner fünf Jahre jüngeren Frau Emily. Gemeinsam verbringen sie in ihrem Haus in Pittsburgh ihren gleichförmigen Alltag, zu dem Spaziergänge mit ihrem Hund Rufus und Reparaturarbeiten rund ums Haus gehören. Zum Valentinstag entführt Henry seine Frau gern in ihr Lieblingsrestaurant, freut sich, wenn er Rabattmarken beim Kauf von Spülmittel einlösen kann, ärgert sich aber auch, wenn er glaubt, beim Weihnachtsbaumkauf über den Tisch gezogen worden zu sein, weil er für einen Baum mit weichen Nadeln mehr bezahlen musste als für einen mit harten.
Während Emily die Kontakte zu Nachbarn und Freunden aufrechterhält und so Henry stets mit neuesten Informationen versorgen kann, geht Henry mit seinen alten Freunden aus dem Labor Golfen, engagiert sich im Kirchenvorstand und sieht sich die Spiele seine Lieblings-Football-Mannschaft regelmäßig im Fernsehen an. Da Kinder und Enkel weit weg wohnen, treffen sie sich nur zu den Feiertagen in ihrem Ferienhaus in Chautauqua.
Am meisten Sorgen bereitet ihm die mit dem Alter zunehmenden Gebrechen, die er immer öfter vor Emily geheim hält. Dass sein Arzt Dr. Runco, der in Henrys Alter gewesen ist und ihn am Leben erhalten hat, vor ihm stirbt, macht ihn besorgt, aber auch seine Tochter Margaret, die zu Alkoholexzessen neigt und glaubt, ihr Mann Jeff betrügt sie mit einer Jüngeren, bereitet ihm und seiner Frau immer wieder Kummer.
 „Er brauchte länger als nötig, um sich zu erinnern, was er gerade tat und warum. Ein Leben lang hatte er Zeitpläne und Fristen gehandhabt, da war es nur natürlich, dass er sich als träge empfand und ihm ein konkretes Ziel fehlte. Er hätte gern geglaubt, dass es bloß Tagträume waren, doch die Leere, die sich auf ihn herabsenkte, hatte etwas Zermürbendes.“ (S. 303) 
2011 veröffentlichte der Pittsburgh geborene und lebende Schriftsteller Stewart O’Nan („Abschied von Chautauqua“, „Westlich des Sunset“) mit „Emily, allein“ das einfühlsame Portrait einer achtzigjährigen Frau, die seit Jahren verwitwet ist und nach dem Zusammenbruch ihrer Schwägerin Arlene ihrem Leben eine neue Richtung zu geben versucht. Mit „Henry persönlich“ dreht O’Nan die Zeit um gut zehn Jahre zurück und konzentriert sich in der Ehe von Henry und Emily Maxwell auf den noch lebenden Henry, natürlich mit ständigem Bezug auf Emily, die er immer an seiner Seite weiß. O’Nan beschreibt kurz die Kindheit seines Protagonisten, seine Schwärmerei für seine Klavierlehrerin und seine erste große Liebe zu Sloan, dann – nach dem Krieg – das Kennenlernen von Emily. Der Autor erweist sich wie gewohnt als sorgfältiger Chronist des Lebens ganz gewöhnlicher Mittelschichtsmenschen, die er nie be- und schon gar nicht verurteilt, sondern mit selbstverständlich wirkender Grund-Sympathie charakterisiert, indem er ihre Alltagsverrichtungen, Hobbys und Gedanken wiedergibt.
Wie „Emily, allein“ wartet auch „Henry persönlich“ mit keinen spannenden, dramatischen und wendungsreichen Höhepunkten auf, sondern widmet sich völlig unaufgeregt der Schilderung von Alltagsbetätigungen und familiären Sorgen, wie sie ganz gewöhnliche Menschen teilen. Natürlich bekommen die Gedanken im Alter eine andere Qualität, drehen sich zunehmend um die eigene Sterblichkeit, wobei jede plötzliche Verschlechterung des Allgemeinzustands kritisch beäugt wird. Doch das hält Henry nicht davon ab, sein Leben im Rahmen seiner Möglichkeiten zu genießen, wozu die Einladungen zum Essen zu besonderen Anlässen ebenso zählen wie das Golfspielen und die Familienzusammenkünfte in Chautauqua.
Auch wenn sich die Figuren in „Henry persönlich“ nicht nennenswert entwickeln und größere Dramen ausbleiben, gefällt der Roman als realistisches Portrait eines ganz gewöhnliches Mannes und bietet so enorm großes Identifikationspotenzial für seine Leserschaft.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Henry persönlich"

Stewart O’Nan – „Stadt der Geheimnisse“

Donnerstag, 21. Februar 2019

(Rowohlt, 220 S., HC)
Nicht nur seine Frau Katja und seine kleine Schwester Giggi, die gesamte Familie des lettischen Juden Brand ist im Holocaust umgekommen. Er selbst hatte Glück, war jung und konnte Motoren reparieren, hat die Internierung durch die Deutschen und Russen überlebt und landete Mitte der 1940er Jahre mit einem maltesischen Frachter in Palästina, wo er vom Untergrund aufgenommen, mit einem Taxi und neuen Papieren ausgestattet worden ist. In Jerusalem kutschiert er Touristen und führt sie zu den Sehenswürdigkeiten, dient aber auch der zionistischen Gruppe Hagana mit ihrer Untergrund-Armee Irgun im Kampf gegen die britische Mandatsregierung von Palästina für einen unabhängigen jüdischen Staat Israel.
Da die Tommys den meisten Holocaust-Überlebenden die Zuflucht verweigert, wehrt sich der zionistische Untergrund mit Sprengstoffanschlägen, für die Jossi in seinem Peugeot mit doppelbödigem Kofferraum die Waffen und Sprengstoffe schmuggelt. Dabei wird Jossi immer mehr gegen seinen Willen in einen neuen Krieg hineingezogen. Während er von Asher seine Instruktionen erhält, um einen Zug zu überfallen und dabei die Löhne der britischen Soldaten zu erbeuten, spioniert seine als Prostituierte arbeitende Freundin Eva im King David Hotel die Gäste aus. Dort findet Jossis Leben eine entscheidende Wendung.
„Die Lager hatten einen egoistischen, argwöhnischen Menschen aus ihm gemacht. Dass jetzt jemand Gutes über ihn dachte, war ihm unangenehm, weil er die Wahrheit kannte. Er war nach Jerusalem gekommen, um sich zu ändern, sich zu bessern. Als sei es ein Grund zur Hoffnung, dass Eva ihm ihr Kopftuch gab, dass Asher seinen Arm drückte. Nachdem er so lange ein Tier gewesen war, glaubte er nicht, je wieder ein Mensch sein zu können, doch wenn sie an ihn glaubten, war es vielleicht möglich.“ (S. 114) 
Es ist immer wieder erstaunlich, was für eine breite Palette an Sujets der amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan in seinen Romanen entwickelt. Während er in „Der Zirkusbrand“ das historische Feuer thematisierte, bei dem 1944 in O’Nans Heimatstadt Pittsburgh 167 Menschen ums Leben kamen, wandelte er in der Geistergeschichte „Halloween“ und in dem Roman „Speed Queen“ auf den Pfaden seines Freundes Stephen King, erzählte in „Die letzte Nacht“ von der Schließung eines kleinen Restaurants und in „Eine gute Ehefrau“ von einer schwangeren jungen Frau, die sich an ein neues Leben gewöhnen muss, als ihr Mann wegen eines Einbruchs mit Todesfolge ins Gefängnis muss. Nach dem epischen Generationenportrait „Der Abschied von Chautauqua“ und der Liebesgeschichten von F. Scott und Zelda Fitzgerald in „Westlich des Sunset“ arbeitet O’Nan in „Stadt der Geheimnisse“ den Bombenanschlag auf das King David Hotel vom 22. Juli 1946 in Jerusalem auf. Im Mittelpunkt des kurzen Romans steht der lettische Holocaust-Überlebende Jossi Brand, der auch in seiner neuen Wahlheimat nicht zur Ruhe kommt.
Immer wieder wird er von den Erinnerungen an seine getötete Frau Katja und den Verrat an seinen Mithäftlingen heimgesucht. Seine Mission, ein besserer Mensch zu werden, droht in den Attentaten, an denen er in dem zionistischen Untergrund mitwirkt, kläglich zu scheitern.
O’Nan überzeugt vor allem in der Schilderung der gesellschaftspolitischen Lage im Jerusalem der Nachkriegszeit und in der Charakterisierung seines Protagonisten. Die Qual der Erinnerungen, die verzweifelte Suche nach moralischer Integrität, die unerfüllte Sehnsucht nach Liebe werden so einfühlsam geschildert, dass Brand dem Leser durchaus ans Herz wächst. Auf der anderen Seite bleiben Brands Weggefährten, selbst seine Freundin Eva ungewöhnlich blass und konturlos. „Stadt der Geheimnisse“ gefällt als politischer Thriller, dem allerdings mehr an atmosphärischer Stimmigkeit als an Spannung gelegen ist, weshalb der Roman einen recht zwiespältigen Eindruck hinterlässt.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Stadt der Geheimnisse"

Stewart O’Nan – „Ganz alltägliche Leute“

Freitag, 23. Juni 2017

(Rowohlt, 320 S., Pb.)
East Liberty ist sicher kein Vorzeigeviertel in Pittsburgh, und anno 1998 schon gar kein sicheres. Als bei einer Graffitiaktion Bean und sein Freund Chris von der Brücke fallen, überlebt Chris schwerverletzt, muss aber fortan im Rollstuhl sitzen, während Bean bei dem Unfall ums Leben kommt, in den Zeitungen aber nur als vierter Jugendlicher erwähnt wird, der in einer Woche in East Liberty ums Leben kam, als sei er nur ein weiteres Opfer der Drogenkriminalität.
Chris hat aber auch damit zu kämpfen, dass in sexueller Hinsicht laut ärztlicher Auskunft organisch alles bei ihm in Ordnung sein soll, das Liebesleben mit seiner Freundin Vanessa trotzdem zum Erliegen gekommen ist. Vanessa wiederum strebt nach einem besseren Leben, arbeitet im Pancake House, belegt stundenweise einen Kurs an der Uni, wo sie Amerikaner afrikanischer Herkunft zu seinen Erfahrungen befragen soll, und gibt ihren Sohn Rashaan in die Obhut von Miss Fisk, die offensichtlich manchmal verqueres Zeugs erzählt.
Chris‘ Mutter vermutet derweil, dass ihr Mann Harold eine Affäre mit einer Jüngeren hat und ist voller Selbstzweifel …
„Sie hatte seine Lügen lange hingenommen, auch als sie gespürt hatte, dass er sich von ihr entfernte, sich ihrer Ehe entzog und zu einer anderen Frau flüchtete. Sie hatte sich etwas vorgemacht, hatte erst so getan, als ob es nicht wirklich passierte, und dann, als ob er bald klar sehen und zu ihr zurückkehren würde. Jetzt sah sie deutlich, dass er keinen Grund hatte, zu ihr zurückzukehren, dass sein Leben ohne sie viel einfacher war, und da begriff sie, warum er angefangen hatte fremdzugehen.“ (S. 288) 
Auf diese Weise erzählt Stewart O’Nan („Engel im Schnee“, „Emily, allein“) vom Leben so einiger Einwohner des Schwarzenviertels East Liberty in Pittsburgh, von Knastkarrieren und der viel diskutierten Martin-Robinson-Express-Busspur, die für die Pendler von Penn Hills gedacht ist, aber letztlich die Ansiedlung wichtiger Industriezweige und damit die Schaffung neuer Arbeitsplätze verhindert. O’Nan schreibt wie gewohnt sehr einfühlsam von den Gedanken und Empfindungen seiner Figuren, dieser „ganz alltäglichen Leute“ mit ihren so gewöhnlichen Träumen und Sorgen und Ängsten. Allerdings gelingt es ihm nicht, all diese Einzelschicksale zu einer interessanten Geschichte zusammenzufügen. Dazu springt er zu oft von einer Person zur anderen, lässt eine stimmige Dramaturgie und sinnvolle Handlungen und Entwicklungen vermissen.
Am Ende hat der Leser zwar durchaus Einblicke in die alltäglichen Sorgen und Nöte von weniger privilegierten Schwarzen gewonnen, aber keine lesenswerte Geschichte präsentiert bekommen, die Anteilnahme oder Sympathie für die Charaktere hervorruft.

Stewart O’Nan – „Letzte Nacht“

Dienstag, 21. Juni 2016

(mare, 159 S., HC)
Fünf Tage vor Weihnachten öffnet die „Red Lobster“-Filiale in New Britain das letzte Mal die Türen für ihre Gäste. Nachdem die Konzernzentrale bei einer Unternehmensstudie festgestellt hatte, dass sich der Standort nicht rechnet, muss Geschäftsführer Manny DeLeon seine Mitarbeiter an diesem Dezemberabend endgültig nach Hause schicken. Von den vierundvierzig Mitarbeitern, die er noch vor zwei Monaten beschäftigte, werden nur fünf mit ins „Olive Garden“ in Bristol übernommen.
Besonders schwer wiegt für Manny, dass er seine ehemalige Geliebte Jacquie nicht mehr wiedersehen wird. Dass sie mit Rodney einen neuen Freund hat und Mannys Freundin Deena ein Kind erwartet, hat jede Chance zunichte gemacht, dass sie noch mal zusammenkommen. Für Manny geht es nun nur noch darum, den Gästen des Restaurants an diesem verschneiten Winterabend wie gewohnt den besten Service zu bieten …
„Wer außer den Leuten, die hier arbeiten, denkt schon über Red Lobster nach? Und auch die denken eigentlich nicht drüber nach. Vielleicht Eddie, der bestimmt froh ist, einen Ort zu haben, wo er jeden Tag hinkommen kann, oder Kendra, die darüber nicht immer froh ist, aber Manny kann sich nicht vorstellen, dass Rich oder Leron viele Gedanken auf so etwas wie einen Job verschwenden. Vielleicht hat auch Manny nicht genug drüber nachgedacht, denn all die Jahre fand er es selbstverständlich, dass es das Lobster gab. In der Hinsicht ist er wohl genau wie Eddie. Und jetzt ist es zu spät.“ (S. 72) 
Stewart O’Nan hat sich in seiner eindrucksvollen Schriftstellerkarriere immer wieder mit dem Schicksal der kleinen Leute beschäftigt und dabei ganz tief in ihr Innerstes geblickt. In der Geschichte „Letzte Nacht“ genügt ihm ein einziger Tag in einem zur Schließung vorgesehenen Restaurant, um die Befindlichkeiten vor allem des Geschäftsführers zu beschreiben.
Nach all den Jahren empfindet er eine Verbundenheit zu seiner Arbeit, seinen Mitarbeitenden und Kunden, die ihm den Abschied schwer machen, vor allem von Jacquie. Auch wenn es um nichts mehr geht und die Schließung ebenso beschlossene Sache ist wie die Versetzung von fünf Angestellten in ein anderes Restaurant des Konzerns, will Manny nur das Beste für seine Kunden, kümmert sich um die schwer zu handhabende Schneefräse, schiebt den Wagen eines Stammgastes an und verteilt gewissenhaft Beurteilungskarten an unzufriedene Gäste, denn nicht mehr alle Spezialitäten des Hauses sind am letzten Abend noch verfügbar.
Von den anderen Angestellten erfährt der Leser nicht allzu viel. Die Handlung wird allein aus Mannys Perspektive geschildert. Aber in diesem Mikrokosmos gelingt es dem Autor, das Pflichtbewusstsein und die Fürsorge eines Managers seiner Arbeit und seinen Angestellten gegenüber ganz schnörkellos in Worte zu fassen.
Am Ende soll eine Lotterieziehung für eine glückliche Wendung der teils ungewissen Schicksale der Serviererinnen, Köche, Bäcker, Spüler und des Barpersonals sorgen, vor allem für ein Happy End des irgendwie bemühten, durchweg gutherzigen Geschäftsführers.
„Letzte Nacht“ ist ein berührendes Buch über die Tugendhaftigkeit und gutherzige Gesinnung eines Mannes, der niemandem etwas schuldig ist, aber trotzdem nur das Beste für alle Menschen in seinem Leben will.

Stewart O’Nan – „Westlich des Sunset“

Dienstag, 19. April 2016

(Rowohlt, 416 S., HC)
Nachdem sein früherer literarischer Ruhm längst verblasst ist, kämpft der amerikanische 41-jährige Schriftsteller F. Scott Fitzgerald im Jahr 1937 nicht nur gegen seine Alkoholsucht, sondern auch gegen den finanziellen Ruin. Seine Frau Zelda, die an einer offensichtlich unheilbaren bipolaren Störung leidet, musste er kürzlich aus der Einrichtung in Pratt in das Highland Hospital bringen lassen, das er sich eigentlich ebenso wenig leisten kann wie das Schulgeld seiner Tochter Scottie. Fitzgerald zieht in die Villenanlage Garden of Allah, wo er sich im Kreis von Hollywood-Stars wie Humphrey Bogart, Valentino, Joan Crawford und Gloria Swanson bewegt und darauf hofft, bei Metro Goldwyn Meyer als Drehbuchautor so viel zu verdienen, dass er sich in Ruhe seinem nächsten Roman widmen kann.
Er arbeitet an Filmen wie „Three Comrades“ und „A Yank In America“, doch nur selten werden die Projekte, in denen Fitzgerald involviert ist, auch verwirklicht, eine Namensnennung im Vorspann gelingt ihm nur einmal. Weitaus öfter muss sich der verdiente Autor damit herumplagen, dass seine Entwürfe von anderen Autoren wieder zerpflückt werden und er selbst irgendwann gefeuert wird. Als Fitzgerald sich in die äußerst quirlige Klatschreporterin Sheilah Graham verliebt, keimt wieder Hoffnung in seinem komplizierten, von Misserfolgen und Alkoholsucht gezeichneten Leben auf.
„Er hatte mal ein Talent zum Glücklichsein gehabt, aber damals war er noch jung und erfolgreich gewesen. Doch war er jetzt nicht wieder erfolgreich? Wenn er so mit ihr zusammen war, konnte er die Vergangenheit vergessen. Das konnte niemand anders bei ihm erreichen, und doch befürchtete er, sie letztlich zu enttäuschen.“ (S. 236) 
Francis Scott Fitzgerald zählt mit Romanen wie „Der große Gatsby“ (1925) und „Zärtlich ist die Nacht“ (1934) neben Kollegen wie Ernest Hemingway und William Faulkner zu den Hauptvertretern der Prosa der amerikanischen Moderne und hat in seinen Werken viel Autobiographisches verarbeitet und viele seiner Figuren sich selbst, seiner Frau Zelda und seinen Freunden nachgebildet. In Stewart O’Nans („Emily, allein“, „Die Chance“) neuen Roman „Westlich des Sunset“ wird Fitzgerald selbst zu einem biographischen Objekt, wobei der Roman nur die letzten drei Jahre des Schriftstellers abdeckt. Dabei gelingt O’Nan nicht nur ein eindringliches Portrait des gequälten Mannes, der in Hollywood verzweifelt versucht, so viele Aufträge an Land ziehen zu können, dass er seine Rechnungen bezahlen kann, sondern zeichnet damit gleichermaßen ein Bild des verlogenen und kurzlebigen Hollywood-Spektakels, das sich Tag für Tag hinter den Kulissen der Studios ereignet und alle Beteiligten immer wieder zur Verzweiflung bringt.
O’Nan selbst bildet sich dabei kein Urteil, sondern bleibt immer bei seiner Figur, über die er auch nie richtet. Stattdessen zeichnet er Fitzgerald als Künstler, der ums nackte Überleben und seine künstlerische Integrität kämpft, der nicht mehr mit seiner psychisch gestörten Frau zusammen sein, aber ebenso wenig seine Liebe zu Sheilah öffentlich machen kann.
So stellt „Westlich des Sunset“ sowohl eine spannende Künstler-Biographie als auch ein vielschichtiges Hollywood-Portrait dar, das O’Nan auf gewohnt farbenprächtige, bildreiche Weise zu beschreiben versteht.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Westlich des Sunset"

Stewart O‘Nan – „Emily, allein“

Dienstag, 2. Dezember 2014

(Rowohlt, 380 S., HC)
Seit ihr Mann vor sieben Jahren verstorben ist, lebt die alternde Witwe Emily Maxwell allein in ihrem Haus in Pittsburgh, meist nur in Gesellschaft ihres altersschwachen Hundes Rufus und gelegentlich ihrer Schwägerin Arlene, mit der sie jeden Dienstag nach Edgewood fuhr, um dort im Eat ’n Park zum halben Preis am Frühstücksbuffet teilzunehmen.
Auch sonst verläuft ihr unspektakuläres Leben in geregelten, vorhersehbaren Bahnen, mit den Hunde-Spaziergängen und saisonalen Gartenarbeiten und den Vorbereitungen auf die wenigen Familienzusammenkünften zu den Festtagen. Doch als Arlene eines Dienstagmorgens am Büffettisch des Eat ‘n Park zusammenbricht und für einige Tage ins Krankenhaus muss, lernt Emily gezwungenermaßen, ihrem Leben eine neue Richtung zu verleihen. Um sich nicht länger in die zittrigen Hände ihrer Schwägerin begeben zu müssen, wenn sie längere Strecken zurücklegen möchte, schafft sie sich ein neues Auto an und versucht, ihren Kindern und Enkeln wieder etwas näher zu kommen.
„Vielleicht war es Nostalgie oder auch nur die Widerspenstigkeit der Erinnerung, doch sie konnte die erwachsene Variante der Kinder nicht von den Kindern trennen, die sie einmal gewesen waren. Margaret verdrehte schon seit fast vierzig Jahren den Männern die Köpfe – manchmal mit furchtbarem Ergebnis -, und doch würde sie immer die pummelige, mürrische Drittklässlerin bleiben, die in ihrem Zimmer Süßigkeiten versteckte. Justin, der angehende Astrophysiker, würde für immer der überempfindliche Junge sein, der in Tränen ausbrach, weil er das falsche Spülmittel in die Geschirrspülmaschine gefüllt hatte. Da Emily auf ihr eigenes früheres Ich nicht besonders stolz war, begriff sie, dass es ungerecht war, ihnen diese alten Rollen überzustülpen, und bemühte sich, über ihre neuen Aktivitäten auf dem Laufenden zu bleiben und ihre jüngsten Triumphe zu feiern.“ (S. 266)
Es verwundert nicht, dass Stewart O’Nan sein feinfühliges, ganz und gar unsentimentales Witwenportrait seiner Mutter widmet, denn selten dürfte man das Leben einer allein lebenden alten Frau kaum sensibler, detaillierter, unaufgeregter und doch so humorvoll und melancholisch beschrieben gesehen haben. Obwohl O’Nan, selbst in Pittsburgh groß geworden und wieder dort lebend, die Geschichte nicht als Ich-Erzählung angelegt hat, ist der Leser immer ganz dicht an Emily dran, teilt ihre Gedanken und Gefühle ebenso wie ihre episodenhaft geschilderten Erlebnisse, die schwierigen Familienfeste, der Verkauf des Nachbarhauses, die Beerdigungen alter Freundinnen, der Kratzer an ihrem neuen Wagen, das mysteriöse Zahlen-Graffiti auf ihrem Grundstück, das Kämpfen mit der Grippe und der Vergesslichkeit.
Auch wenn man selbst keine alte Frau ist, die die besten Jahre hinter sich hat und sich bemüht, den Rest des Lebens möglichst sinn- und würdevoll zu verbringen, fällt es dem Leser bei O’Nans einfühlsamen Schreibstil leicht, Emilys Empfindungen zu folgen, mit ihr mitzufühlen, ihre Sorgen und Ängste zu teilen. Wie der preisgekrönte Autor es versteht, Empathie für seine ganz und gar gewöhnliche Protagonistin zu wecken, ist schon große Kunst und absolut lesenswert.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Emily, allein"

Stewart O’Nan – „Alle, alle lieben dich“

Freitag, 29. August 2014

(Rowohlt, 413 S., HC)
Im Juli 2005 bereiten sich die drei Freundinnen Kim, Nina und Elise im beschaulichen Kleinstädtchen Kingsville darauf vor, im Herbst aufs College zu gehen. Bis dahin jobben Nina und Kim noch jeden Abend im Laden der Conoco-Tankstelle und hängen ihren Träumen und Hoffnungen nach, die mit dem Weggehen aus Kingsville verbunden sind. Doch eines Abends tritt Kim ihre Schicht im Conoco nicht an, nachdem sie kurz zuvor noch mit ihrem Freund J.P. und Nina ausgelassen am Fluss herumgealbert hat. Es dauert nicht lange, da alarmiert Kims Mutter die Polizei.
Suchtrupps werden zusammengestellt, Befragungen von Freunden und Verwandten durchgeführt, doch erst nach Tagen wird Kims Wagen aufgefunden, von ihr selbst fehlt jede Spur. Die nächsten Tage, Wochen und Monate dreht sich das Leben der Larsens ganz um das Auffinden von Kim. Die Polizei ist keine große Hilfe, also organisiert vor allem Fran mit Flugblättern und einem Online-Auftritt die Suche, während ihr Mann Ed Tag für Tag neue Gebiete nach seiner Tochter absucht und in Motels übernachtet. Die verzweifelte Suche nach ihrer Tochter verändert die Beziehung zwischen den Eheleuten.
„Plötzlich stellten sie sich persönliche Fragen. Wie sie schlafe. Ob die Pillen wirkten. Ober er auch welche haben wolle. Was er heute gegessen habe. Was sie morgen vorhabe. So hatten sie seit ihren ersten Verabredungen nicht mehr miteinander gesprochen, und das Mädchen in ihr hätte das gern romantisch gefunden, sie und er vom Schicksal getrennt, umhüllt von Nacht, zwei Stimmen verbunden durch unsichtbare Wellen, die zwischen weit auseinanderliegenden Türmen durch die kalte Luft gleiten – ein heimliches, unverdientes Band, das sich bei dem Gedanken, dass Kim allein irgendwo dort draußen war, in Luft auflöste.“ (S. 176). 
Stewart O’Nan zeichnet einmal mehr das diffizile Psychogramm einer amerikanischen Mittelschichtsfamilie, die durch das Verschwinden der ältesten Tochter auf eine harte Probe gestellt wird. Dabei beschreibt O’Nan nicht nur die Verzweiflung der Eltern, die sich zunächst auf ganz unterschiedliche Weise mit der traumatischen Situation auseinandersetzen.
Während Ed gern das Weite sucht und den Kummer in sich hineinfrisst, setzt Fran alle Hebel in Bewegung, um ja nichts unversucht zu lassen, die geliebte Tochter wieder in den Schoß der Familie zu führen. Auch Kims jüngere Schwester und die Befindlichkeiten von Kims Clique seziert O’Nan mit der ihm eigenen Gründlichkeit. Der Kriminalfall dient ihm nicht als Plot für einen Thriller um ein vermisstes Mädchen, sondern als Grundlage für ein Drama, das sich vor allem innerhalb der Familie abspielt. Das ist zwar nicht unbedingt etwas für Krimi-Fans, aber spannend ist die Art, wie stückchenweise auch dunkle Geheimnisse thematisiert werden, allemal.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Alle, alle lieben dich"

Stewart O’Nan – „Die Chance“

Donnerstag, 24. Juli 2014

(Rowohlt, 224 S., HC)
Die letzten Tage ihrer Ehe wollen Art und Marion Fowler so verbringen, wie sie sie begonnen haben, als sie vor fast dreißig Jahren ihre Flitterwochen in Niagara Falls verbrachten. Während sie ihrer Tochter Emma diesen Trip als zweite Hochzeitsreise verkaufen, treten die Noch-Eheleute die Reise mit unterschiedlichen Erwartungen an. Art hofft fernab der alltäglichen Routine eine wiederbelebende Rückkehr zu den guten Zeiten und so auf eine neue Chance für ihre Ehe, Marion will das Ganze nur mit Würde überstehen.
Allerdings stehen sie nach dem Verlust ihrer Jobs kurz vor der Privatinsolvenz und wollen mit ihren letzten Barreserven im Casino versuchen zu retten, was zu retten ist, nachdem sie über ein Jahr vergeblich versucht haben, ihr Haus zu verkaufen. Außerdem wurde ihre Ehe durch Affären von beiden Seiten belastet. Trotz dieser ungünstigen Voraussetzungen gönnen sie sich zu dem günstigen Preis von 249 Dollar inklusive Busfahrt, Mahlzeiten und einen Gutschein über 50 Euro für einen der Spieltische und für einen Aufpreis von 75 Dollar pro Nacht eine der Hochzeitssuiten im Obergeschoss mit Blick auf den Wasserfall. Beide sind bemüht, es dem anderen irgendwie recht zu machen und etwas zu erleben. Dazu gehört nicht nur ein Konzert der Rockband Heart, bei dem sich die beiden mit allerlei Rauschmitteln versorgen, sondern natürlich auch der allabendliche Besuch im Casino, wo Art und Marion mit der Martingale-Methode hoffen, beim Roulette ihre Schulden tilgen zu können.
„Seiner Gewissheit, die sich anscheinend nur auf Annahmen stützte, traute sie nicht. Er konnte voll Zuversicht behaupten, dass es statistisch gesehen unwahrscheinlich war, fünfmal hintereinander zu verlieren, aber was wusste er schon über das Glücksspiel? Ehepaare sollten sich theoretisch bis zum Tod lieben und ehren, doch auch das klappte nicht immer. Flugzeuge stürzten ab, Banken gingen pleite, ganze Länder zerfielen.“ (S. 210). 
Stewart O’Nan hat sich all seinen Werken als großer amerikanischer Erzähler erwiesen, der ein feines Gespür für die Befindlichkeiten seiner sympathischen Mittelschichtsfiguren besitzt. In seinem neuen Werk begleitet er ein nicht mehr ganz so frisches Ehepaar auf eine schwierige Reise. Unschlüssig, wie sie mit ihren Schulden umgehen, wie sie ihren Kindern die bevorstehende Trennung und den Verlust des Hauses, in dem sie aufgewachsen sind, erklären sollen, haben Art und Marion jeweils ihre eigenen Methoden, mit der Situation umzugehen und dabei immer wieder in vertraute Verhaltensmuster zurückfallen, die dem Partner aber nicht wirklich mehr etwas ausmachen. O’Nans Kunstfertigkeit besteht darin, diese von so unglückseligen Voraussetzungen geprägte Reise mit ebenso viel Ernsthaftigkeit wie Humor zu erzählen, was sich bereits in den Kapitelüberschriften niederschlägt, die mit verschiedenen Wahrscheinlichkeitserwartungen bezeichnet sind (z.B. Wahrscheinlichkeit, dass ein Ehepaar seinen 25. Hochzeitstag erreicht: 1:6). Dieses Spiel mit den Wahrscheinlichkeiten lässt sich immer wieder auf sein Ehepaar runterbrechen, aber eben so, dass sie entgegen der prognostizierten schlechten Quote meist einen guten Schnitt machen. Das macht Hoffnung auf ihre Beziehung, und wie Art und Marion aufeinander Rücksicht nehmen und sich dabei immer wieder Gutes tun, beschreibt O’Nan mit einer herzerwärmenden Leichtigkeit, die großen Lesespaß garantiert.
Leseprobe Stewart O'Nan - "Die Chance"

Stewart O’Nan – „Engel im Schnee“

Sonntag, 7. August 2011

(Rowohlt, 251 S., HC)
An einem verschneiten Winterabend in der Kleinstadt Butler, Pennsylvania, hört der fünfzehnjährige Arthur Parkinson während seiner Posaunenprobe in der Band, Schüsse, die – wie sich später herausstellen wird – das Leben seiner früheren Babysitterin Annie Marchand beenden.
Es bedeutet das Ende eines noch jungen Lebens, das allerdings voller Probleme war. Ihren Mann Glenn hat sie in die Flucht getrieben und sich ausgerechnet mit Brock, dem Mann ihrer besten Freundin, eingelassen. Das treibt vor allem ihre Mutter May in die Verzweiflung:
„Das Leben ihrer Tochter ist so in Unordnung, dass es May umbringt. Eine dreijährige Tochter und nicht mal in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. May weiß nicht, wie Annie die Miete zusammenbekommt, bestimmt nicht von dem, was sie im Club verdient. Jedesmal wenn sie danach fragt, endet es mit einem Streit. Sie hat immer das Gefühl gehabt – obwohl sie es nie gesagt hat, oder nur leise zu Charles -, dass Annie nicht sonderlich intelligent ist, dass sie nicht vorausschaut und sich dann wundert, wenn alles schiefläuft. (…) Annie scheint immer noch an der High-School zu sein: Sie hat einen Teilzeitjob und sucht sich aus, welchem Jungen sie sich hingibt. Sie ist ihre Jüngste, und nach allem, was May gelesen hat, müsste sie sich verzweifelt an Annie festklammern. Aber May wünscht sich nur, dass sie zur Ruhe käme oder dass sie, falls daraus nichts wird (und das befürchtet sie, ihr einziges Mädchen), irgendwohin zöge, wo sie es nicht mehr mit ansehen muss.“ (S. 119 f.)
Doch Arthur, der einst für Annie geschwärmt hat, plagen eigene Probleme. Sein Vater ist gerade ausgezogen und hat bereits eine neue Lebensgefährtin, er selbst beginnt sich in eine Schulkameradin zu verlieben …
Mit „Snow Angels“ hat der amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan 1994 ein fulminantes Debüt hingelegt. Er beschreibt die Nöte und Sehnsüchte seiner einfachen Protagonisten mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie, wobei er trotz der oft trostlosen Situationen und Momente immer einen Ausweg aufzuzeigen scheint. Die Eindringlichkeit der schlichten Poesie geht mit einer anrührenden Melancholie einher, die sich nur selten in Hoffnungslosigkeit verliert, beispielsweise dann, wenn am Ende der unausweichliche Mord an Annie beschrieben wird. Doch darüber hinaus stellt „Engel im Schnee“ das vielschichtige Portrait normaler amerikanischer Kleinstädter mit ihren Sorgen und Hoffnungen dar, das man so schnell nicht aus der Hand legt.

Stewart O’Nan - „Halloween“

Freitag, 4. September 2009

(Rowohlt, 256 S., HC)
Halloween vor einem Jahr in der Kleinstadt Avon, Connecticut. Die fünf Jugendlichen Kyle, Tim, seine Freundin Danielle, Toe und Marco rasen ausgelassen mit lauter Musik und ein paar Joints über den Highway, bis der örtliche Polizeibeamte Brooks die Verfolgung aufnimmt und das Auto von der Straße abkommt...
Ein Jahr später kehren die Geister der verstorbenen Kids Toe, Danielle und Marco nach Avon zurück, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Sie sehen, wie Kyle nach dem Unfall mit zerschmettertem Schädel sein Gedächtnis verloren hat und langsam seine motorischen Fähigkeiten neu trainieren muss. Zusammen mit seinem alten Kumpel Tim hilft er im Stop’n’Shop aus. Tim blieb körperlich zwar unverletzt bei dem Unfall, doch darüber hinaus ist er ohne Antrieb, ein seelisches Wrack. Ähnlich schlimm hat es Brooks erwischt, der die tragischen Ereignisse und seine Mitschuld daran nicht vergessen kann und seinen Dienst nicht mehr ordentlich versehen kann. Kyles Eltern haben ihre Träume von einem Domizil am Cape Cod aufgegeben und haben über der Pflege ihres Sohnes fast ihre Ehe vergessen. Und so schweben die Geister der drei Jugendlichen durch eine durch den Unfall völlig ernüchterte Kleinstadt, in der das Leben nicht so recht weiterzugehen scheint. Stewart O’Nan hat nicht nur den Titel des berühmten Romans von Ray Bradbury adaptiert, sondern ihm gleich seinen neuen Roman gewidmet. Zwar kann er nicht in gleichem Maße Bradburys Magie heraufbeschwören, doch ist „Halloween“ zumindest eine virtuos erzählte Geschichte aus ungewohnter Perspektive über Trauer, Schuld und schmerzhafte Erinnerungen.

Stewart O’Nan – „Das Glück der anderen“

(Rowohlt, 221 S., HC)
Mitten in Wisconsin liegt die sterbende alte Bergarbeiterstadt Friendship, in der Jacob Hansen nicht nur als Sheriff, sondern auch noch als Leichenbestatter und Pastor tätig ist. An einem heißen Sommertag wird er von der kleinen Bitsi zu Hilfe gerufen. Old Meyer, ihr Vater, habe einen unbekannten Toten hinter seinem Bienenstock gefunden. Als Hansen zum Fundort radelt, kann er bei dem ausgemergelten Uniformierten keine offensichtliche Todesursache entdecken.
Er lässt den Toten zu Doc Guterson bringen und seinen Kollegen im benachbarten Shawano, Bart Cox, informieren, dass er nach Landstreichern Ausschau halten möge. Als der Doc die erschütternde Diagnose stellt, dass der Soldat an Diphtherie gestorben sei, muss Jansen an die Epidemie denken, die die halbe Bevölkerung von Endeavor vor ein paar Jahren dahingerafft hatte. Doch von einer Quarantäne will der Doc noch nichts wissen. Hansens Frau Marta will mit ihm und Tochter Amelia am liebsten weggehen, doch pflichtbewusst bleibt Hansen bei seiner Gemeinde, in der sich die Toten häufen. Bald bleibt auch Hansens Familie nicht von der Epidemie verschont, dazu nähert sich rasch ein Feuer von Norden, das mit rasender Geschwindigkeit durch die staubtrockenen Wälder fegt. Hansen muss sich zwischen dem Glück seiner Liebsten, der Verantwortung für seine Gemeinde und für die Menschen in den benachbarten Dörfern entscheiden …
Vor dem apokalyptischen Szenario einer vernichtenden Feuersbrunst und Epidemie stellt Stewart O’Nan in seinem 1999 veröffentlichten Roman „A Prayer for the Dying“ aus der Perspektive des verantwortungsbewussten Ich-Erzählers Jacob Hansen wesentliche Fragen nach den Werten sozialer Bindungen und religiöser Ideologie, nach dem Abwägen zwischen persönlichen Bedürfnissen und der Verantwortung für die Gemeinschaft. Ohne den moralischen Zeigefinger zu erheben, regt O’Nan den Leser zu tiefgründigen Fragen über die menschliche Natur an.

Stewart O’Nan - „Abschied von Chautauqua“

(Rowohlt, 700 S., HC)
Jahr für Jahr macht die Großfamilie Maxwell in ihrem Sommerhaus am Lake Chautauqua im Staat New York für eine Woche Urlaub. Nachdem nun Emilys Mann Henry gestorben ist, soll das Haus verkauft werden, und so finden sich zum letzten Mal die Hausherrin Emily, ihre Schwester Arlene, Emilys Tochter Meg mit ihren beiden Kindern Justin und Sarah, Emilys Sohn Ken mit seiner Frau Lise und den Kindern Sam und Ella zusammen, um sich von dem Haus zu verabschieden und Sachen, an denen man hängt, mitzunehmen. Doch schnell wird deutlich, wie schwierig die Beziehungen untereinander geraten sind. Die Alkoholikerin Meg wurde von ihrem Mann Jeff wegen einer Jüngeren verlassen. Ken, leidenschaftlicher, wenn auch untalentierter Fotograf und stets auf der Suche nach dem passenden Motiv, hat seinen Job verloren und weiß nicht, wie er mit seiner Frau und den Kindern über die Runden kommen soll.
Anstatt sich seinem Problem zu stellen, verfolgt er wie besessen das Verschwinden einer jungen Angestellten von der Tankstelle, an der Ken auf dem Weg zum Sommerhaus getankt hatte. Und die wenig selbstbewusste Ella verliebt sich in ihre hübsche Cousine Sarah, die gerade von ihrem Freund Mark abserviert worden ist, aber schon wieder Ausschau nach einem Jungen in der Nachbarschaft hält … Stewart O’Nan hat die kleinen und großen Probleme der Maxwell-Familie mit großem psychologischen Feingefühl und voller Sympathie für seine Figuren beschrieben, so dass man niemandem wegen seiner Schwächen wirklich böse sein kann. Selten schreibt jemand mit so viel Verständnis über die einfachen Menschen wie O’Nan.