Stewart O’Nan – „Ocean State“

Dienstag, 20. Juni 2023

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Stewart O’Nan hat es in seiner über fünfunddreißigjährigen Schriftstellerkarriere immer wieder hervorragend verstanden, die Befindlichkeiten und das allgemeine soziale Gefüge gerade der amerikanischen Arbeiterschicht und damit der breiten Bevölkerung seines Landes zu sezieren und auf mitfühlende Weise in oft tragischen Geschichten zu beschreiben. Da macht sein 2022 erschienener Roman „Ocean State“ keine Ausnahme. In Rhode Island, dem sogenannten „Ocean State“ und kleinsten US-Staat, haben die Menschen schwer mit den Folgen der Wirtschaftskrise zu kämpfen. Die Arbeiterstadt Westerly ist von nach dem Bankencrash leeren Häusern an der Küste geprägt. Im nahegelegenen Ashaway lebt die nach ihrer Scheidung von Frank alleinerziehende Carol als Pflegerin in einem Altenheim, bringt sich und ihre beiden Teenagertöchter Marie und Angel gerade so über die Runden und hofft, durch neue Beziehungen mit Männern ihren Status zu erhöhen, was ihr in zunehmenden Jahren immer schlechter zu gelingen scheint. 

Bricht die Beziehung auseinander, muss Carol für sich und ihre beiden Töchter eine neue Bleibe suchen. Momentan ist es ein unscheinbares Haus am Fluss, gegenüber der leer stehenden Garn- und Schnur-Fabrik Line & Twine, in deren Gängen die Mädchen Rollschuh fahren. 
Der Mord an der Highschool-Schülerin Birdy erschüttert die Kleinstadt. Sie hat sich in den aus wohlhabendem Haus stammenden Myles verliebt, der allerdings mit Maries älterer Schwester Angel liiert gewesen ist. Aus einem Abstand von einigen Jahren lässt nicht nur Marie die Ereignisse Revue passieren, die mit Birdys Tod endeten. 
„Wie alles im Fernsehen schien der Fall einer anderen Welt anzugehören, obwohl sich das Ganze direkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite abspielte. Ich kannte diesen Flussabschnitt besser als jeder andere und stellte mir vor, wie ich sie entdeckte, schlaff und blass wie ein Fisch, hängen geblieben im Wehr, und meine Geschichte einem Reporter erzählte. Jeden Abend gaben sie uns einen Hinweis, als wäre es ein Spiel. Ihre Mutter sagte, als sie losgefahren sei, habe sie ihre Uniform getragen, doch ihr Chef bestritt, dass sie Dienst hatte. Sie hatte sich vor kurzem von ihrem langjährigen Freund getrennt, den die Polizei für eine Person von besonderem Interesse hielt.“ (S. 180) 
Auch wenn „Ocean State“ mit der Erwähnung eines Mordes beginnt, handelt es sich bei O’Nans neuen Roman natürlich nicht um einen Krimi mit klassischem Whodunit-Plot, denn die (Mit-)Täterin wird gleich im ersten Satz miterwähnt.
Stattdessen bewegt sich der aus Connecticut stammende Autor auf vertrautem Terrain, portraitiert einfühlsam die Lebensumstände (nicht nur) junger Menschen, die sich durch Highschool, Nebenjobs, Liebesgeschichten und das Leben kämpfen, nach und nach ihre Träume begraben und desillusioniert von einer unglücklichen Beziehung in die nächste schlittern. O’Nan lässt die Geschichte aus der wechselnden Perspektive der vier Frauen Carol, Marie, Angel und Birdy erzählen, was dem Roman eine besondere Note verleiht, denn die Männer wirken ohnehin eher schwach. Myles sieht zwar gut aus und kommt aus reichem Hause, verfügt aber über keinen nennenswerten Charakter, vermag sich nicht so recht zwischen Angel und Birdy entscheiden, was die tragischen Ereignisse vielleicht erst in Gang setzt. 
In den persönlichen Erinnerungen der vier Protagonistinnen wird vor allem das Ringen um Liebe und Anerkennung in einer Welt deutlich, die den Figuren am Rande der Gesellschaft sonst nichts zu bieten hat. Gewohnt eindringlich fühlt sich O’Nan in die Träume, Sehnsüchte und Ängste seiner Figuren ein und bleibt diesen auch bis nach dem eigentlichen Ende der Geschichte treu, wirft noch einen kurzen Blick in die Zukunft der vier Frauen. So entsteht das Bild einer Gesellschaft, die vor allem durch die Ungleichheit der Chancen und des Vermögens geprägt ist. Darin ist und bleibt O’Nan einfach ein Meister. 

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