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Paul Auster – „Bloodbath Nation“

Freitag, 16. Februar 2024

(Rowohlt, 192 S., HC) 
Die Statistiken sind deprimierend: Amerikaner haben nicht nur eine 25 Mal höhere Chance, angeschossen zu werden als Bürger in anderen hochentwickelten Ländern, sondern 82 Prozent aller Todesfälle durch Schusswaffen werden von Amerikanern verübt. 40 000 Amerikaner sterben jährlich durch Schussverletzungen, mit 393 Millionen Schusswaffen im Besitz amerikanischer Staatsbürger besitzt jeder Mann, jede Frau und jedes Kind mehr als eine Waffe. Das sind die Schattenseiten des als unantastbar geltenden Zweiten Verfassungszusatzes vom 15. Dezember 1791, der die Einschränkung des Rechts auf den Besitz und das Tragen von Waffen untersagt und seit jeher Anlass zu nicht enden wollenden juristischen wie politischen Diskussionen über das genaue Ausmaß dieses Verbots gibt. 
In diese Diskussion schaltet sich nun auch der renommierte US-amerikanische Autor Paul Auster ein, der neben seinen prominenten Romanen wie „Die New-York-Trilogie“, „Mond über Manhattan“, „Im Land der letzten Dinge“ und zuletzt „Baumgartner“ auch immer wieder kluge Essays zu unterschiedlichsten Themen verfasst hat (wie zuletzt in dem Band „Mit Fremden sprechen“ zusammengefasst). 
Austers neuer Essay „Bloodbath Nation“ hat seinen Ursprung in der Vita Austers, ist doch sein Großvater 1919 von seiner Großmutter erschossen worden, was jahrelang ein gut gehütetes Geheimnis in der Familie blieb. Auster selbst erwies sich bei Schießübungen im Kindesalter als überaus talentiert, hat aber nie eine Waffe besessen und ist seinem offensichtlichen Talent für den Umgang mit Schusswaffen auch nie mehr nachgegangen. Dabei ist Auster wie so viele seiner Zeitgenossen mit den Western in den 1950er Jahren aufgewachsen, in der Männer mit schwarzen Hüten die Bösen waren und durch die guten Männer mit weißen Hüten – natürlich mit Waffen – zur Räson gebracht werden mussten. 
Auster skizziert, wie schon die Ausrottung der Ureinwohner und die Sklaverei als unaufgearbeitete Sünden in der Geschichte der USA dazu führten, dass das Verständnis von Demokratie dazu führte, dass sich Einzelne eher um sich selbst kümmern, als dass sich die Menschen in einer Gemeinschaft füreinander verantwortlich fühlen. Auster zählt in seinem Essay vor allem etliche Beispiele auf, in denen oft junge und psychisch schwer geschädigte Männer nicht nur davon fantasieren, möglichst viele Menschen (ob Fremde, Freunde oder Familienangehörige) zu töten, sondern dies nach sorgfältiger Planung auch tun. 
Zwar betont der 77-jährige, an Krebs schwer erkrankte Autor, dass Amokläufe nur für einen geringen Prozentsatz der Opferzahlen verantwortlich sind, die auf Schusswaffengebrauch zurückzuführen sind, sie stehen aber nicht ohne Grund im Zentrum des Buchs, werden diese mass shootings doch als eine Art Performancekunst angesehen, die besonders viel Raum in der Medienberichterstattung erhält. Dieser Fokus wird auch durch die schwarzweißen, sehr trist und trostlosen erscheinenden Fotografien von Spencer Ostrander betont, da sie die Tatorte der Verbrechen erst danach zeigen, ohne eine Menschenseele, was die Tragik der oft nach wie vor verwaisten, mittlerweile bereits abgerissenen Supermärkte, Bars oder Synagogen noch verstärkt. 
„Mit generellen Verboten und drakonischen Maßnahmen kann man den zum Kampf Entschlossenen keinen Frieden aufdrängen. Frieden wird es erst geben, wenn beide Seiten ihn wollen, und um es dahin zu bringen, müssten wir uns zunächst einmal aufrichtig mit der schmerzhaften Frage befassen, wer wir sind und wer wir als Volk in Zukunft sein wollen, und dazu müssten wir uns aufrichtig mit der schmerzhaften Frage befassen, wer wir in der Vergangenheit gewesen sind. Sind wir bereit, uns diesem lange hinausgeschobenen nationalen Augenblick der Wahrheit und der Versöhnung zu stellen?“ 
So interessant und erkenntnisreich sich Austers „Bloodbath Nation“ auch liest, macht das schmale Büchlein doch wenig Mut, dass sich in Zukunft etwas Grundlegendes an dem Verhältnis der Amerikaner zu ihren Waffen ändert. Dazu ist der Einfluss der NRA (National Rifle Association) auch zu stark. Und die gar nicht so unwahrscheinliche Möglichkeit, dass der Mann mit der schrecklichen Frisur doch noch einmal zum Präsidenten gewählt werden könnte, lässt wenig Hoffnung keimen, dass sich die Amerikaner noch eines Besseren besinnen werden. 
Auster selbst bietet auch keine Lösung für das Problem des Umgangs mit den Waffen an, so dass man auch in Zukunft nur auf weitere Berichte über irgendwelche Massaker an Schulen, in Clubs oder bei öffentlichen Versammlungen warten kann, ohne dass sich etwas an den Gesetzen zum Tragen und Benutzen von Waffen ändern wird.  

Paul Auster – „Baumgartner“

Mittwoch, 8. November 2023

(Rowohlt, 208 S., HC) 
Seit seinen ersten beiden Büchern, die im Original 1987 erschienen und zwei Jahre später in deutscher Übersetzung unter den Titeln „Die New-York-Trilogie“ und „Im Land der letzten Dinge“ veröffentlicht worden sind, hat sich der aus Newark, New Jersey, stammende Schriftsteller Paul Auster zu einem der produktivsten, vielseitigsten und wichtigsten Künstler der Gegenwart entwickelt, zu dessen Oeuvre neben den bekannten Romanen – zuletzt das über 1000-seitige Epos „4 3 2 1“ – auch Essays, Lyrik, Übersetzungen und sogar Filme zählen. Nun präsentiert der mittlerweile 76-jährige Auster mit „Baumgartner“ eine ungewohnt kurze, aber sehr berührende Geschichte, die sich mit der Frage beschäftigt, wie man mit der Trauer nach dem Tod eines über alles geliebten Menschen umgeht. 
Seymour Tecumseh „Sy“ Baumgartner, 71-jähriger Professor für Phänomenologie in Princeton, sitzt in seinem Arbeitszimmer gerade an seiner Monografie über Kierkegaards Synonyme, als ihm einfällt, dass er nicht nur aus dem Wohnzimmer ein Buch holen muss, aus dem er zitieren will, sondern auch seine Schwester noch nicht wie abgesprochen angerufen hat. Der Weg nach unten setzt eine Kette verschiedener unglücklicher Ereignisse in Gang, die über Verbrennungen an der Hand nach der ungeschickten Handhabung eines kochend heißen Aluminiumtopfes auf dem Herd bis zu einem schmerzhaften Sturz die Kellertreppe hinunterführen. 
Als Lichtblick dazwischen klingelte die UPS-Botin Molly, in die Baumgartner ein wenig verliebt ist, seit seine große Liebe Anna Blume vor fast zehn Jahren gestorben war, weshalb er Bücher bestellt, die er eigentlich gar nicht braucht und sich schon in einer Ecke neben dem Küchentisch bis zur Umsturzgefahr stapeln. All diese Ereignisse setzen Erinnerungen an Anna in Gang, der er nach wie vor gewohnheitsmäßig eine Tasse Kaffee einschenkt und pornographische Liebesbriefe schreibt, wobei er sich vorstellt, wie Anna diese Briefe in Empfang nehmen und lesen würde… 
Immerhin, S. T. Baumgartner hat noch einen weiteren Versuch unternommen, eine Frau zu lieben. Auf die unverfälschte, direkte, übersprudelnde und spontane, aber weltabgewandte Anna folgte die ausgeglichene, beeindruckende, selbstsichere und kultivierte Judith, die so ganz anders war als seine große Liebe. 
Während Baumgartner erst nach Annas Tod einen schmalen Band mit ihren besten Gedichten veröffentlichen ließ, war Judith bereits eine Autorität in der Welt des Films, mit vier veröffentlichten Büchern, doch heiraten wollte sie Baumgartner nicht, und so ging es mit der Beziehung auch zu Ende. Der Philosophieprofessor grämt sich allerdings nicht zu sehr, sondern stürzt sich mit immer großer Begeisterung in neue Projekte, so die Betreuung der siebenundzwanzigjährigen Studentin Beatrix Coen, die ihre Dissertation über das Gesamtwerk von Anna Blume schreiben will und plant, die unveröffentlichten Manuskripte, Briefe und Romanfragmente in Baumgartners Nähe zu studieren. Schließlich bringt Baumgartner auch sein eigenes Buch zu Ende, in denen er seine Ideen über das Wort Automobil zum Besten gibt. 
„Das Auto als Mensch, der Mensch als Auto, eins mit dem anderen austauschbar in einer hakenschlagenden, pseudophilosophischen Abhandlung im Geiste von Swift, Kierkegaard und anderen intellektuellen Spaßvögeln, die die Welt auf den Kopf stellen, damit ihre Leser sich in den Kopfstand begeben und versuchen, sich aus dieser Perspektive eine Welt vorzustellen, die richtig herum steht.“
Auch wenn der titelgebende Baumgartner die Hauptfigur von Paul Austers neuen Roman darstellt, rückt Anna Blume durch die lebendig geschilderten Erinnerungen ihres Mannes ebenso in den Vordergrund einer berührenden Erzählung über die Liebe, die über den Tod hinauswirkt, aber wie in Austers Werk üblich, wird der Plot natürlich auch von Zufällen und selbstreferentiellen Passagen geprägt. Baumgartner ist es intellektuell gewohnt, die Dinge auf ihre Natur und Bedeutung zu untersuchen, und auf analytische Weise betrachtet er auch die Beziehung zu Anna und anderen Frauen in seinem Leben. Es scheint ihm die Einsamkeit erträglicher zu machen, auf diese Weise noch mit den Menschen, die ihm einst viel bedeutet haben und nun nicht mehr an seinem Leben teilhaben, verbunden zu bleiben. 
Mit seinen verschlungenen Sätzen, die auch in Werner Schmitz‘ Übersetzung einen wunderbaren Sog erzeugen, führt Auster seiner Leserschaft eindringlich vor Augen, wie sehr das Leben eines Menschen von Erinnerungen, Träumen und Wünschen geprägt wird, wie Gefühle von Einsamkeit und Trauer - zumindest teilweise - überwunden werden können. 

Paul Auster – „Leviathan“

Samstag, 20. August 2022

(Rowohlt, 320 S., HC) 
In den Werken des amerikanischen Schriftstellers Paul Austers spielen Zufälle und die Frage nach Identitäten eine immer wiederkehrende Rolle. In dieser Hinsicht schließt sein fünfter Roman „Leviathan“ nahtlos an „Die Musik des Zufalls“ an. 
Der mysteriöse Tod eines nicht identifizierten Mannes bei einer Explosion bringt den Schriftsteller Peter Aaron im Juni 1990 dazu, über seine ungewöhnliche Freundschaft mit seinem Kollegen Benjamin Sachs nachzudenken und seine Geschichte zu erzählen. Aaron hat nach der Lektüre des Artikels in der New York Times sofort seinen besten Freund wiedererkannt. Zwar hat er ihn seit knapp einem Jahr nicht mehr gesprochen, aber damals war Aaron bereits bewusst geworden, dass Sachs auf eine dunkle, namenlose Katastrophe zusteuerte. 
Kennengelernt haben sich Aaron und Sachs, als sie an einer gemeinsamen Lesung in einer Bar im West Village teilnehmen sollte, die allerdings ausfiel, ohne dass die beiden Autoren informiert wurden. Sachs hatte zu jener Zeit zwei Jahre zuvor den erfolgreichen Roman „Der neue Koloss“ veröffentlicht und konnte auf ein enormes Pensum an qualitativ hochwertigen Artikeln und Essays verweisen. Zu Aarons Überraschung war Sachs aber auch mit den weit weniger bekannten Aufsätzen vertraut, die Aaron in Zeitschriften unterbringen konnte. 
Über die intensive Diskussion über ihre Arbeiten und Lebenserfahrungen an jenem Abend an der Bartheke entwickelte sich eine enge Freundschaft, die ihre Höhen und Tiefen aufwies. Interessanterweise war Aaron mit Sachs‘ Frau Fanny aus seiner eigenen College-Zeit bekannt und damals sogar in sie verliebt, doch war sie damals schon mit Sachs verheiratet, der allerdings seine Gefängnisstrafe wegen Kriegsdienstverweigerung absaß… Aaron heiratet Delia, doch nicht zuletzt die anhaltenden Geldsorgen führen zu Streits und schließlich zur Trennung. Als Sachs für eine Verfilmung seines Romans für einige Zeit nach Hollywood muss, beginnen Fanny und Aaron eine Affäre, die mit Sachs‘ Rückkehr abrupt endet. Die gemeinsame Bekanntschaft mit der Künstlerin Maria Turner bedeutet eine radikale Kehrtwendung im Leben der beiden Schriftsteller. 
Während Aaron allmählich auf eine gewisse Stabilität bauen kann, seinen ersten Roman „Luna“ veröffentlicht und mit Iris seine zweite Frau kennenlernt, stürzt Sachs während einer Party aus dem vierten Stock eines Hochhauses, überlebt allerdings mit viel Glück. Danach will Sachs sein Leben ändern, zieht von New York aufs Land, beginnt an seinem neuen Roman „Leviathan“ zu arbeiten und wird unversehens im Wald zum Mörder und schließlich zum Freiheits-Aktionisten, der überall im Land Freiheitsstatuen sprengt… 
„Und genau das ist es, was mir noch immer zu schaffen macht, das Rätsel, dessen Lösung ich noch immer nicht gefunden habe. Sein Körper erholte sich wieder, aber er selbst war nicht mehr der alte. In diesen wenigen Sekunden vor de Aufprall scheint Sachs alles verloren zu haben. Sein ganzes Leben ist dort in der Luft in Stücke gegangen, und von diesem Augenblick bis zu seinem Tod vier Jahre später hat er es nicht wieder zusammensetzen können.“ (S. 145) 
Es ist wieder einmal das Spiel mit Zufällen und wechselnden Identitäten, das Paul Auster in „Leviathan“ so souverän wie kein Zweiter beherrscht. Schon die Bekanntschaft der beiden Schriftsteller in einer Bar nach einer abgesagten Lesung, bei der Aaron kurzfristig für einen anderen Autor einspringen musste, wirkt wie ein glücklicher Zufall, was durch den Umstand verstärkt wird, dass Aaron einst in Sachs‘ Frau Fanny verliebt gewesen war und später eine Affäre mit ihr unterhält. Ein Zufall führt Sachs auch zu einer vermeintlichen Abkürzung durch einen Wald, bei dem der Schriftsteller in eine Schießerei gerät und einen Mann namens Dimaggio erschießt, nachdem dieser den Jungen tötete, der Sachs freundlicherweise in seinem Wagen mitgenommen hatte. 
Und wie wahrscheinlich mag es wohl sein, dass Dimaggio mit Maria Turners bester Freundin Lillian Stern verheiratet gewesen ist? Man muss sich schon auf diese merkwürdigen Zusammenhänge einlassen können, ebenso auf die Herausforderungen, mit denen sowohl Sachs als auch Aaron beim Meistern ihres jeweiligen Lebens zu kämpfen haben. Allerdings verfügt Auster über ein so ausgeprägtes Sprachgefühl, dass seine Geschichte einen verführerischen Sog entwickelt, der die Ereignisse ganz natürlich erscheinen lässt. 
Es lassen sich auch einige autobiographische Züge in „Leviathan“ entdecken, so Peter Aarons und Paul Austers identische Initialen, ein Frankreichaufenthalt, eine erfolglose Zeit in Beruf und Ehe, die Tatsache, dass der Name von Aarons zweiter Frau Iris rückwärts geschrieben den Namen von Austers zweiter Frau Siri ergibt. Schließlich ist die Konzeptkünstlerin Sophie Calle Vorbild für Austers Figur der Maria Turner gewesen. 
Mit „Leviathan“ ist Auster ein vielschichtiger Roman über die ungewöhnliche Freundschaft zweier unterschiedlicher Schriftsteller gelungen, in dem Aaron als Ich-Erzähler von dem chronologischen Ende aus, dem Tod von Benjamin Sachs, halbwegs chronologisch die Geschichte Sachs‘, aber auch seine eigene erzählt, schließlich gibt es immer wieder die überraschendsten Berührungspunkte. 
Er erzählt vor allem von den Schwierigkeiten, seinen Platz im Leben zu finden, von Ereignissen, die dem Leben plötzlich eine ganz andere Richtung verleihen. Dabei sind Auster die Charakterisierungen auch der Nebenfiguren, also vor allem der Frauen, ausgezeichnet gelungen. 

 

Paul Auster – „Die Musik des Zufalls“

Samstag, 25. Juni 2022

(Rowohlt, 254 S., HC) 
Bereits in seinem vorangegangenen Roman „Mond über Manhattan“ ließ Paul Auster einen jungen Protagonisten namens Marco Stanley Fogg auf eine Sinnsuche von wortwörtlicher existentieller Bedeutung gehen, wobei ihm eine Erbschaft nicht davor bewahrt, das Schicksal eines Obdachlosen zu teilen. Eine ganz ähnliche Geschichte erzählt der preisgekrönte US-amerikanische Schriftsteller in seinem 1990 veröffentlichten Roman „The Music of Chance“. Hier ist es ein Feuerwehrmann, der nach einer Erbschaft auf Reisen geht und dessen Leben durch die zufällige Bekanntschaft mit einem jungen Pokerspieler eine unerwartete Wendung nimmt.
Jim Nashe war Buchverkäufer, Möbelpacker, Barkeeper und Taxifahrer, bis er durch einen seiner Fahrgäste auf die Möglichkeit angesprochen wurde, eine Prüfung zum Feuerwehrmann abzulegen. Nach sieben Jahren bei der Feuerwehr in Boston erhält Nashe die überraschende Nachricht, dass er von seinem Vater, zu dem er seit seiner Kindheit keinen Kontakt mehr hatte, 200.000 Dollar geerbt hat. 
Da seine Frau ihn verlassen hat und er seine Tochter zu Verwandten geben musste, hält ihn nichts mehr in der Stadt. Er kündigt seinen Job, kauft sich einen nagelneuen Saab und ein paar Kassetten mit Musik von Haydn und Mozart und macht sich nur mit einem Koffer im Gepäck auf eine ziellose Reise durch die USA, genießt die Freiheit, erst am Abend vom jeweiligen Motel aus die Route für den kommenden Tag zu planen. Er besucht das Grab seines Vaters, lässt es sich Miami neun Tage lang am Swimming Pool gutgehen, stürzt sich vier Tage lang in die Spielhöllen von Las Vegas, trifft sich mit der Journalistin Fiona, die einst einen Artikel über seine Arbeit als Feuerwehrmann geschrieben hatte, und beginnt eine Affäre mit ihr, reist aber weiter zum Geburtstag seiner Tochter Juliette, statt Fiona einen Heiratsantrag zu machen. 
Als er zu ihr zurückkehrt, ist sie anderweitig vergeben. Nach einem Jahr des ziellosen Herumreisens sind Nashes Geldreserven spürbar geschrumpft. Da nimmt er den offensichtlich verprügelten Jack „Jackpot“ Pozzi als Anhalter mit. Der vielleicht zwei- oder dreiundzwanzigjährige junge Mann stellt sich als Pokerspieler vor, der an neun von zehn Abenden als Sieger den Tisch verlässt, doch nun wurde er nach einem an sich erfolgreichen Abend überfallen und niedergeschlagen. 
Nashe bietet ihm an, ihm seine verbliebenen 14.000 Dollar als Startkapital für eine Partie mit zwei Millionären zur Verfügung zu stellen. Wie sich herausstellt, haben die beiden Exzentriker Flower und Stone mittlerweile aber Unterricht bei einem alternden Poker-Profi genommen und lassen sich nicht so leicht ausnehmen wie zunächst angenommen. Tatsächlich verschuldet sich Pozzi sogar um 10.000 Dollar, die Nashe und sein neuer Freund auf ungewöhnliche Weise abzahlen müssen… 
„In der Nacht des Pokerspiels hatte er Pozzi bis zum äußersten geholfen, war über jede vernünftige Grenze hinausgegangen, und mochte er sich dabei auch ruiniert haben, so hatte er doch immerhin einen Freund gewonnen. Und dieser Freund schien jetzt bereit, alles für ihn zu tun, selbst wenn das hieß, die nächsten fünfzig Tage auf einer gottverdammten Wiese zu leben und sich abzurackern wie ein zu Zwangsarbeit verurteilter Sträfling.“ (S. 151) 
Von Paul Auster ist die Geschichte überliefert, dass er im Alter von vierzehn Jahren miterlebt hat, wie einer seiner Freunde von einem Blitz erschlagen wurde, was ihn in der Überzeugung bestärkte, wie sehr das Leben doch von Zufällen geprägt werde. Diese Einstellung zieht sich auch bei „Die Musik des Zufalls“ wie ein roter Faden durch die Geschichte. Wie wäre Nashes Leben wohl verlaufen, wenn der Anwalt seines Vaters nicht sechs Monate gebraucht hätte, um seinen einzigen Sohn aufzuspüren? Welchen Weg hätte es genommen, wenn er bei Fiona geblieben und sie geheiratet hätte? 
Bei der Ziellosigkeit, mit der der 32-jährige Nashe durch die Staaten reist, muss es auch ein Zufall sein, dass er einen abgebrannten Pokerspieler kennenlernt und mit ihm die beiden exzentrischen Millionäre Flower und Stone, die ebenso wie Nashe durch eine Erbschaft ein neues Leben begonnen haben. Bis zur schicksalhaften Begegnung mit Pozzi erzählt Auster eine recht gewöhnliche Geschichte eines Mannes, der sich die Freiheit nimmt, mit dem unerwarteten Geldsegen einfach das zu tun, wonach ihm gerade der Sinn steht. Doch als das Geld nach einem Jahr zur Neige geht, steht die Entscheidung an, wie er zukünftig seinen Lebensunterhalt verdienen will. 
Die auch in finanzieller Hinsicht vielversprechende Freundschaft mit Pozzi bietet aber nur scheinbar einen Ausweg. Sobald Nashe und Pozzi den Palast der ungleichen Millionäre betreten, gerät ihre Welt aus den Fugen und nimmt jene phantastischen Züge an, die man von Austers Büchern schon gewohnt ist. Lässt man sich erst einmal auf die unwahrscheinliche wie kurze Geschichte ein, erlebt man ein furioses, fast schon märchenhaftes literarisches Abenteuer mit allerlei sympathischen wie skurrilen Figuren. 

 

Paul Auster – „Mond über Manhattan“

Freitag, 21. Januar 2022

(Rowohlt, 384 S., HC) 
Im Herbst 1965 kommt der 18-jährige Student Marco Stanley Fogg nach New York, um an der Columbia Literaturwissenschaft zu studieren. Als er nach neuen Monaten das Studentenwohnheim verlassen kann und in der West 112th Street ein Apartment bezieht, sind es die von seinem Onkel Victor geerbten Bücherkisten, mit denen der junge Mann die Räumlichkeiten möbliert. Als dieser im Frühjahr 1967 unerwartet im Alter von 52 Jahren verstirbt, verliert Fogg nicht nur seine letzte familiäre Bindung – seine Mutter kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, als Fogg elf war, einen Vater hat es nie gegeben, so dass sein Onkel zum Vater-Ersatz wurde - sondern auch den Halt in seinem Leben. 
Mit dem geerbten Geld kann Fogg sein Studium nicht zu Ende finanzieren, er leidet Hunger, verliert die Wohnung, deren Besonderheit vor allem darin besteht, dass mit der kleinen Aussicht auf den Broadway auch die Leuchtreklame eines chinesischen Restaurants zu sehen ist. Der „Moon Palace“-Schriftzug lässt Fogg an die Moon Men denken, an die Band seines Onkels, dessen Bücher er nach und nach verkauft, um von dem mickrigen Erlös Miete und Essen zu bezahlen. Als das nicht reicht und Fogg die Wohnung räumen und das Studium schmeißen muss, zieht Fogg als Obdachloser durch die Straßen, nächtigt im Central Park, hungert bis auf die Knochen ab, bis ihn die Zufallsbekanntschaft der 19-jährigen Kitty Wu vor dem sicheren Tod bewahrt. 
Sie besorgt ihm eine Bleibe bei seinem früheren Studienkollegen David Zimmer, wo er allmählich wieder zu Kräften kommt und schließlich eine Stelle als Vorleser beim exzentrischen, blinden und reichen 86-jährigen Thomas Effing bekommt. Dem alten, an den Rollstuhl gefesselten Mann liest er allerdings nicht nur vor, sondern er unternimmt auch Spaziergänge mit ihm und schreibt seine obskure Lebensgeschichte auf. Demnach hieß Effing früher Julian Barber, kam zufällig an viel Geld, als er an die Westküste reiste, und begann unter neuem Namen ein neues Leben. 
Als Effing stirbt, schreibt Fogg, der seinen Vornamen auf die Initialen M.S. verkürzt hat, wie vom alten Herrn gewünscht dessen Nachruf und beginnt, Effings Sohn Solomon Barber ausfindig zu machen. Als Barber nach einem Auslandsaufenthalt für ein langes Wochenende nach New York kommt, um mit Fogg über seinen Vater zu reden, findet der junge Mann heraus, dass seine Mutter eine der Studentinnen des Geschichtsprofessors war, der als Siebzehnjähriger einen biografisch gefärbten, nie veröffentlichten Roman über seinen Vater geschrieben hatte. Als sich Fogg mit dem Manuskripts auseinandersetzt, fügen sich die Puzzleteile seines Lebens allmählich zusammen, und er macht sich selbst auf eine abenteuerliche Reise in den Westen, um die Höhle zu suchen, die Effing in seiner Geschichte erwähnt hat … 
„Vielleicht war es die schiere Aussichtslosigkeit des Unternehmens, was bei mir den Ausschlag gab. Wenn ich auch nur die geringste Möglichkeit gesehen hätte, dass wir die Höhle finden könnten, würde ich mich wohl kaum auf die Suche eingelassen haben, aber die Vorstellung, auf eine sinnlose Suche auszuziehen, zu einer Reise aufzubrechen, die ein Fehlschlag werden musste, sagte meiner derzeitigen Sicht der Dinge zu. Wir würden suchen, aber wir würden nicht finden. Nur die Reise als solche war wichtig, und am Ende bliebe uns nichts als die Vergeblichkeit des Strebens.“ (S. 359) 
Von Beginn an in seiner schriftstellerischen Karriere hat sich bei Paul Auster Biografisches mit fiktionalen Geschichten vermischt. Neben den (auto-)biografischen Titeln „Die Erfindung der Einsamkeit“, „Das rote Notizbuch“, „Von der Hand in den Mund“ und „Die Geschichte meiner Schreibmaschine“ hat er auch in seinen frühen Romanen „Die New-York-Trilogie“ und „Im Land der letzten Dinge“ stets außergewöhnliche, wenn auch fiktionale Lebensgeschichten veröffentlicht, die bereits Austers Talent für die einfühlsame Beschreibung der Innen- und Außensicht seiner Figuren dokumentiert. 
Mit seinem 1989 veröffentlichten Roman „Moon Palace“, der im folgenden Jahr in deutscher Übersetzung von Werner Schmitz erschienen ist, schickt Auster seinen jungen Protagonisten Marco Stanley Fogg auf eine Sinnsuche von wortwörtlicher existentieller Bedeutung. Fogg, der sich aus großen Reisenden wie Marco Polo, Henry Morton Stanley und Phileas Fogg aus dem Roman „In 80 Tagen um die Welt“ von Jules Verne zusammensetzt, muss seit seiner Kindheit lernen, ohne Eltern aufzuwachsen, findet in seinem Jazz-Klarinette spielenden Onkel einen passenden Vater-Ersatz und muss auf die harte Tour die Herausforderungen des Erwachsenwerdens meistern – das alles unter den Begleiterscheinungen der ersten Mondlandung und dem Vietnamkrieg. 
Doch bevor auch Fogg fremde Welten erkunden kann, landet er ganz tief unten, bis auf die Knochen abgemagert lernt er schließlich eine unermessliche Woge an Hilfsbereitschaft und Liebe kennen, lernt aber auch, die Welt mit anderen Augen zu sehen, als er gezwungen wird, für seinen blinden Arbeitgeber Mr. Effing ganz alltägliche Dinge zu beschreiben. Als er sich auf eine hoffnungslose Reise begibt, nachdem er auch seine Liebe verloren hat, fügen sich die Puzzleteile seines Lebens endlich zusammen. 
Auster erweist sich bei dieser abenteuerlichen Odyssee als bravouröser Stilist, der mit seinen bildhaften Beschreibungen den Leser in die Handlung mit hineinzieht. Erst als sich Auster mit den zunehmend abenteuerlichen Lebensläufen von Foggs Verwandten, Vorfahren und Weggefährten auseinandersetzt, schleichen sich auch Längen ein, doch findet „Mond über Manhattan“ einen versöhnlichen Abschluss. Der Roman zeigt auf vielfältige Weise auf, welch ungewöhnliche Geschichten doch hinter unscheinbar wirkenden Menschen stecken, wie Wahrnehmung und Einstellung das Schicksal eines Menschen beeinflussen können.  

Paul Auster – „Im Land der letzten Dinge“

Mittwoch, 17. März 2021

(Rowohlt, 200 S., HC) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Paul Auster hat gleich mit seinem Debüt, der 1987 veröffentlichten, aus den Novellen „Stadt aus Glas“, „Schlagschatten“ und „Hinter verschlossenen Türen“ bestehenden „New-York-Trilogie“ international für Aufsehen gesorgt. Noch im gleichen Jahr erschien der kompakte Roman „In The Country of Last Things“, der zwei Jahre darauf in deutscher Übersetzung bei Rowohlt veröffentlicht wurde. In diesem dystopischen Briefroman lässt Auster eine junge Frau namens Anna Blume in einer unbestimmten Zeit und an einem nicht näher benannten Ort verzweifelt nach ihrem Bruder William suchen. Der Journalist wurde von seiner Zeitung vor einiger Zeit in die „Stadt“ geschickt, von wo er wöchentlich Berichte abliefern sollte, historische Hintergründe und Geschichten aus dem Leben, doch nach ein paar kurzen Nachrichten ließ William nichts mehr von sich hören. 
Trotz aller Warnungen macht sich Anna daraufhin auf eine zehntägige Überfahrt mit dem Schiff, findet sich in einer Stadt voller Straßen und hungernden Menschen wieder, die ihrem elenden Leben auf verschiedenen Weisen ein Ende setzen wollen. Entweder schließen sie sich den „Rennern“ an, die sich regelmäßig zusammenfinden, um dann kreuz und quer solange durch die Straßen hetzen, bis sie tot umfallen, oder sie stürzen sich im Rahmen eines öffentlichen Rituals mit dem „Letzten Sprung“ von Hochhäusern. Sie treten Mordvereinen bei und wartet gegen eine geringe Gebühr darauf, von einem ihnen zugeteilten Attentäter ermordet zu werden. 
Wer über mehr Vermögen verfügt, kann sich auch in Euthanasiekliniken begeben, um sich mehr oder weniger luxuriös aus dem Leben zu verabschieden. Das unstete Klima, der allgegenwärtige Hunger, die grässliche Mischung aus Tod, Abfall und Fäkalien, die die Straßen verstopft und die oft gefährliche Art, sich als Materialjäger seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sorgen für eine hoffnungslose Atmosphäre. Einziger Anhaltspunkt für Anna ist die Fotografie eines weiteren Reporters, die ihr Williams Chef auf ihre hoffnungslose Mission mitgegeben hat. 
Es dauert eine Ewigkeit, bis sie diesen Samuel Farr tatsächlich in einer heruntergekommenen Bibliothek entdeckt. Da ist der Mann nur noch ein Schatten im Vergleich zu der längst zerknitterten und ausgeblichenen Fotografie. Anna kommt bei dem Ehepaar Ferdinand und Isabel unter, übersteht in ihrer neuen Bleibe den harten Winter, muss sich aber der Zudringlichkeit des Mannes erwehren. Tags darauf liegt Ferdinand tot in einer Ecke, wird von Isabel und Anna, getarnt als Letzten Sprung, vom Dach des Hauses gestoßen. Als Isabel so schwer erkrankt, dass sie keine Nahrung, dann auch keine Flüssigkeiten aufnehmen und auch nicht mehr sprechen kann, besorgt ihr Anna ein Notizbuch, in das Isabel aber nur noch kurz etwas schreibt, bevor sie stirbt. Anna beschließt, das kaum benutzte Notizbuch zu nutzen, um ihrem alten Jugendfreund einen langen Brief von ihren Erlebnisse und Eindrücken in der „Stadt“ zu berichten, aus der es kein Entkommen zu geben scheint …
„Du siehst, womit man es hier zu tun hat. Nicht nur dass Dinge verschwinden – mit ihnen verschwindet zugleich auch die Erinnerung an sie. Dunkle Bereiche entstehen im Gehirn, und wer sich nicht ständig bemüht, sich die verlorenen Dinge zu vergegenwärtigen, dem kommen sie schnell für immer abhanden.“ (S. 97) 
Es ist nicht nötig, dass Paul Auster in seinem ebenso schmalen wie eindringlichen Roman „Im Land der letzten Dinge“ Orte und Zeiten präzisieren muss. Die lebendige Schilderung dessen, was seine Protagonistin in ihrem Notizbuch als Brief an ihren Jugendfreund über die Zustände in der nach außen hin abgeriegelten „Stadt“ berichtet, führt dem Leser allzu deutlich vor Augen, dass es selbst in unserer zivilisierten Wohlstandsgesellschaft jederzeit zu solch fürchterlichen Lebensumständen kommen kann, wenn beispielsweise von diktatorischen Staaten das Kriegsrecht verhängt worden ist und die Bevölkerung inmitten der Bombentrümmer am Verhungern ist. 
Auster lässt seine junge, aufopferungsvoll nach ihrem verschollenen Bruder suchende Anna Blume so einige Schicksalsschläge einstecken, aber irgendwie gelingt es ihr, all die Jahre zu überleben und Gefährten zu finden, die ihr das beschwerliche Leben angenehmer zu gestalten helfen. Selbst für Wohltätigkeit findet sich immer wieder eine Gelegenheit. Trotz des dystopischen Tons schleicht sich so durch die Augen der Briefschreiberin ein großes Maß an Hoffnung auf eine bessere Welt durch die Geschichte einer Suche, während der unglaubliche Zufälle dafür sorgen, dass es für Anna weitergehen kann. 
Die Warnung, die Auster trotz des Science-Fiction-Gewands seiner Geschichte mit seinem erschreckend realistisch wirkenden Szenario ausspricht, hallt jedenfalls lange nach. 

Paul Auster – „Die Erfindung der Einsamkeit“

Sonntag, 18. Juni 2017

(Rowohlt, 248 S., Tb.)
Bevor Paul Auster mit seiner experimentellen Krimi-Trilogie „Die New-York-Trilogie“ weltweit für Aufsehen sorgte, veröffentlichte er bereits einige Lyrik-Bände und auch das aus zwei Essays bestehende Buch „Die Erfindung der Einsamkeit“, mit dem der Autor vor allem den Tod seines Vaters verarbeitet und dabei ausführlich Themen wie Erinnerung, Einsamkeit, Leben und Tod und Zufall beleuchtet.
In „Portrait eines Unsichtbaren“ versucht Auster den Spuren seines Vaters zu folgen, den er Zeit seines Lebens eigentlich nicht gekannt, der sich seinem Sohn immer irgendwie entzogen hat. Drei Wochen nach dem plötzlichen Tod seines Vaters beginnt Auster, seine Erinnerungen niederzuschreiben, beginnend mit der telefonischen Nachricht, die ihn an einem Sonntagmorgen um 8 Uhr erreichte, der dreistündigen Fahrt nach New Jersey, dem Wissen, dass er über seinen Vater schreiben müsse. Was Auster dabei rückblickend irritiert, ist die Erkenntnis, dass sein Vater keine Spuren hinterlassen hatte, weder Frau noch Familie, die auf ihn angewiesen wäre.
„Seine Lebensweise hatte die Welt auf seinen Tod vorbereitet – war eine Art vorweggenommener Tod gewesen -, und falls und wenn man sich seiner erinnerte, dann nur undeutlich, allenfalls undeutlich.“ (S. 13) 
Er empfand keine Leidenschaft und war eigentlich unsichtbar, für andere ebenso wie für sich selbst wahrscheinlich auch. Nachdem Auster ständig versucht hatte, den abwesenden Vater zu finden, glaubt er, ihn auch nach dessen Tod suchen zu müssen. In den Schubladen der Schränke in dem Haus, das der Vater kurz vor seinem Tod noch verkauft hatte, stößt Auster auf Dinge, die er zwar nicht sehen oder wissen will, die aber nichtsdestotrotz für ihn Überbleibsel von Gedanken und Bewusstsein und Entscheidungen darstellen, darunter auch Schnappschüsse von den Flitterwochen seiner Eltern, ein Aktenschrank voller ungültiger Schecks aus dem Jahr 1953. Auster räumt das Haus für den künftigen Besitzer und ist als Möbelhändler, Spediteur und Überbringer schlechter Nachrichten tätig. Wie der Zufall es will, stößt Auster bei seinen Nachforschungen auf die Geschichte, wie sein Großvater Harry von dessen Ehefrau erschossen wurde. Am Ende eignet sich Auster zwar einige Gegenstände seines Vaters an, doch erzeugen auch sie nur die Illusion, mit seinem Vater vertraut zu sein, hat dieser doch nichts mehr damit zu tun. Und so bleibt dem Autor nur eins, nämlich über das Sterben nachzudenken und die Erinnerung an die Toten lebendig zu halten.
In „Das Buch der Erinnerung“ bezeichnet sich Auster kurz als A. und beginnt in der dritten Person über seine Arbeit als Übersetzer von französischen Autoren wie Blanchot und Mallarmé zu schreiben, über klassische Erinnerungstechniken, es folgen durchnummerierte Bücher der Erinnerung, in denen er beispielsweise über Heiligabend 1979 schreibt, über die karge Einrichtung seiner Wohnung, das Schnarchen seines Nachbarn.
Um in dieser Umgebung Frieden zu finden, muss er sich tiefer in sich selbst vergraben, aber je mehr er gräbt, umso mehr braucht er sich selbst auf. Interessant sind vor allem die Überlegungen zur Einsamkeit in Zusammenhang mit Jonas Aufenthalt im Wal und parallel dazu der von Gepetto im Bauch des Haifischs und die Frage, ob man seinen Vater retten muss, um ein richtiger Junge werden zu können. Weitere Exkurse führen zu Emily Dickinson, über die Natur des Zufalls, wie er als Übersetzer Worte zu anderen Worten werden und in seinem Innern ein unermessliches Babel entstehen lässt.  
Auster äußert in „Die Erfindung der Einsamkeit“ kluge Gedanken zu Themen, die seinen Lesern auch in den meisten der späteren Werke immer wiederbegegnen. Wie er dabei mit Ideen und Worten jongliert, Zufall und Sinn miteinander verknüpft, ist nicht immer leicht nachzuvollziehen, regt aber stets zum Nachsinnen an.

Paul Auster – „Die New York-Trilogie“

Sonntag, 19. März 2017

(Rowohlt, 375 S., Tb.)
Unter dem Namen William Wilson hat der New Yorker Schriftsteller Daniel Quinn nahezu im Jahrestakt einen Detektivroman veröffentlicht, nachdem er zuvor unter eigenem Namen noch Gedichte und kritische Essays geschrieben hatte. Das brachte ihm immerhin genügend ein, um nach dem halben Jahr, das er zum Schreiben eines Krimis benötigte, ein weiteres halbes Jahr mit Lesen, Kino und Spazierengehen durch die Stadt verbringen zu können. Doch dieser behagliche Rhythmus gerät aus dem Takt, als er eines Tages einen Anruf erhält, der eigentlich für einen Privatdetektiv namens Paul Auster gedacht gewesen ist. Auch wegen der Dringlichkeit ist Quinns Interesse geweckt.
Er soll einen Mann namens Peter Stillman davor beschützen, dass sein Vater ihn ermordet. Quinn alias Auster nimmt den Auftrag an, stöbert den Gesuchten auf und verfolgt ihn Tag und Nacht. Offensichtlich bewegt sich der Mann in bestimmten Grenzen, die Wege scheinen auf ein Schema hinzudeuten, auf Buchstaben, die mit dem Turmbau zu Babel zu tun haben.
„Er merkte, dass es keineswegs unangenehm war, Paul Auster zu sein. Obwohl er noch denselben Körper, denselben Verstand, dieselben Gedanken hatte wie sonst, war ihm zumute, als wäre er irgendwie aus sich selbst herausgenommen worden, als müsste er nicht mehr die Last seines eigenen Bewusstseins tragen. Durch einen einfachen Gedankentrick, eine geschickte kleine Namensänderung fühlte er sich unvergleichlich leichter und freier. Gleichzeitig wusste er, dass alles nur eine Illusion war.“ (S. 65) 
Und so verliert sich Quinn in „Stadt aus Glas“ bis zur Selbstaufgabe in einem Labyrinth der Identitäten und Illusionen. In der kürzesten der drei Novellen, „Schlagschatten“, wird dieses Thema auf noch abstraktere Weise fortgeführt. Hier werden die Figuren schlicht nach Farben benannt. Der von seinem Chef Brown eingearbeitete Blue bekommt in seinem New Yorker Büro am 3. Februar 1947 von White den Auftrag, einen Mann namens Black zu verfolgen und so lange wie möglich im Auge zu behalten. Auf den wöchentlichen Bericht, den White in genau definierter Form erwartet, folgt jeweils ein Scheck. Die Aufgabe erscheint nicht schwer. Blue bezieht eine Wohnung, die sein Auftraggeber für ihn angemietet hat, und beobachtet Black dabei, wie dieser in seiner Wohnung in Henry David Thoreaus „Walden“ liest und immer wieder in sein rotes Notizbuch schreibt. Irgendwann beginnt Blue, ebenfalls in „Walden“ zu lesen, sucht unter falschem Namen und verkleidet die Begegnung mit Black und wird für immer verändert …
Auch in „Hinter verschlossenen Türen“ wird der Leser mit einer Detektivgeschichte konfrontiert, die konventioneller beginnt als die beiden vorangegangenen. Vor sieben Jahren bekam der Ich-Erzähler einen Brief von einer Frau namens Sophie Fanshawe, die sich als Ehefrau seines besten Freundes entpuppt, mit dem er schon als Baby aufgewachsen ist, den er Zeit seines Lebens bewundert, aber irgendwann aus den Augen verloren hat. Fanshawe sei vor sechs Monaten spurlos verschwunden, schrieb sie. Der Erzähler wurde allerdings nicht damit beauftragt, Fanshawe zu suchen, sondern dessen unveröffentlichte Manuskripte zu sichten und zu entscheiden, was mit ihnen geschehen solle.
Kaum schlägt Fanshawes größtes Werk, der Roman „Niemalsland“, bei Kritik und Publikum ein, erhält der Erzähler einen Brief von Fanshawe. Indem er sich an die Biografie seines alten Freundes macht, begegnet er sich in vielerlei Hinsicht selbst …
Auch wenn die „New York-Trilogie“, deren drei Geschichten im Original zwischen 1985 und 1986 erschienen sind und den New Yorker Schriftsteller Paul Auster weltberühmt machten, zunächst voneinander unabhängig erscheinen, führt sie schon die thematische Ähnlichkeit zusammen. Was jeweils als klassische Detektivgeschichte beginnt, entwickelt sich im Verlauf der Handlung zu einer Auseinandersetzung zu Fragen der Rolle eines Autors und der Namen, unter denen er seine Werke veröffentlicht, es geht um die Biografien von Individuen, deren Sinn im Leben sich erst im Tod offenbart; letztlich geht es um Wahrnehmung und Identität, um Täuschung und Fiktion, um Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Auster erweist sich in diesem komplexen Territorium als stilistischer Meister. Mühelos zieht er den Leser in den Bann – vor allem bei „Stadt aus Glas“ und der hervorragenden letzten Geschichte „Hinter verschlossenen Türen“ -, lässt sich ihn von dem meist überraschten, dann zunehmend interessierten Erzähler/Protagonisten an die Hand nehmen und auf die Suche nach verschwundenen Personen gehen, deren Geschichte sich immer mehr mit der des Autors/Detektivs vermischt.
Am Ende jeder einzelnen Geschichte und vor allem am Ende der Trilogie bleibt der Leser ebenso fasziniert wie verwirrt zurück und beginnt bestenfalls, seine eigene Biografie und Identität zu hinterfragen.

Paul Auster – „4 3 2 1“

Montag, 6. März 2017

(Rowohlt, 1259 S., HC)
Als Enkel des aus Minsk stammenden Großvaters Isaac Reznikoff, der über Warschau, Berlin und Hamburg am Neujahrstag 1900 nach New York kam und sich fortan nach einem Missverständnis bei der Immigration Ichabod Ferguson nannte, wächst Archibald „Archie“ Ferguson im Newark der fünfziger Jahre auf.
Sein Vater Stanley, der tüchtigste von insgesamt drei Ferguson-Jungen, lernte 1943 seine damals 21-jährige Frau Rose Adler kennen, die bei dem Portraitfotografen Emanuel Schneiderman arbeitete, während er das lange Zeit erfolgreiche Geschäft Three Brothers Home World führte, bis es sich durch die kriminelle Energie seines Bruders Lew buchstäblich in Rauch aufgelöst hat, wobei er selbst in den Flammen umkam. Doch was wäre geschehen, wenn Stanley Ferguson nicht im Lagerhaus seines Geschäfts verbrannt wäre?
Dies ist nur eine der möglichen Weggabelungen im Leben von Archie Ferguson, der sich in den fünfziger Jahren für Baseball und Basketball begeistert, nach dem tragischen Autounfall mit seiner Tante Mildred aber an zwei Fingern verstümmelt wurde und seitdem eine Karriere als Journalist bzw. Autor einschlägt, sich in seine Cousine Amy verliebt (oder in die Schwester eines Freundes), aber seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einem Jungen macht und auch später keine eindeutigen Präferenzen bei der Partnerwahl hegt.
Die Sommerferien verbringt er mit anderen jüdischen Jugendlichen im Camp Paradise, wo er seinen guten Freund Artie Federman durch ein Hirnaneurysma verliert. Archie beginnt sich für klassische Musik, große Literatur oder grandiose Filme zu interessieren – je nachdem, wie sich die Wege seines Lebens ausgestalten. Ferguson erlebt die Wahl John F. Kennedys, die Kuba-Krise, die Attentate auf Kennedy und Martin Luther King, reist nach Paris und wird Walt-Whitman-Stipendiat an der Universität von Princeton.
„Er war nicht mehr der Junge, der mit vierzehn als schwachköpfiger Niemand Sohlenverwandte geschrieben hatte, doch er trug diesen Jungen noch immer in sich und spürte, dass sie beide einen langen gemeinsamen Weg vor sich hatten. Das Fremde mit dem Vertrauten verbinden: Das war es, was Ferguson anstrebte, die Welt so genau beobachten wie der hingebungsvollste Realist und sie trotzdem durch eine andere, leicht verzerrte Linse sehen, denn wer Bücher las, die nur auf Vertrautes eingingen, erfuhr zwangsläufig, was er schon wusste …“ (S. 659) 
Auch wenn Paul Austers neuer Roman „4 3 2 1“ weit umfangreicher ist als viele seiner bisherigen Bücher zusammen, bleibt er seinen bevorzugten Themen doch treu und verknüpft sie auf atemberaubend virtuose Weise. Es ist vor allem ein grandioser Coming-of-Age-Roman, der nicht nur eine Entwicklungsgeschichte beschreibt, sondern derer gleich vier. Der bei Auster so beliebt eingesetzte Zufall und seine Auswirkungen auf das weitere Geschehen und die Geschichte werden in „4 3 2 1“ zu gleich vier Lebensentwürfen ausgestaltet, die nebeneinandergestellt werden und stets interessante Züge annehmen.
Vor dem Hintergrund großer politischer Ereignisse wie dem Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegungen, Rassenkonflikten und Studentenunruhen, politischen Skandalen und Hiroshima entdeckt Archie Ferguson seine zügellose sexuelle Begierde, seine Liebe zu den großen kulturellen Errungenschaften, bewertet seine Beziehungen zu seinen Eltern, Freunden und Verwandten immer wieder neu und versucht letztlich nur, unter stets schwierigen Umständen und nach schweren emotionalen Rückschlägen seinen Weg und sein Glück zu finden.
Zwar verliert der Roman im letzten Viertel doch etwas an Schwung, aber die Idee, einen jungen Menschen über zwanzig Jahre lang auf vier verschiedenen Wege zu begleiten, ihn an der Columbia oder in Princeton studieren, ihn als Journalist oder Schriftsteller arbeiten und diese oder jene Menschen lieben zu lassen, ist in seiner Detailverliebtheit, in der sprachlichen Ausgestaltung und unter ausführlicher Einbeziehung all der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Begleiterscheinungen einfach großartig.
 Leseprobe Paul Auster - "4 3 2 1"

Paul Auster – „Sunset Park“

Sonntag, 10. August 2014

(Rowohlt, 317 S., HC)
Ähnlich wie die terroristischen Anschläge vom 9/11 hat die ab 2008 grassierende Finanzkrise die amerikanische Seele stark erschüttert und die kulturelle Produktion beeinflusst. Der vielfach international prämierte New Yorker Schriftsteller Paul Auster hat die Folgen der Wirtschaftskrise als Ausgangspunkt für seinen Roman „Sunset Park“ genommen, um ganz verschiedene Figuren in einem heruntergekommenen Haus in Sunset Park zusammenzuführen und ihre Geschichten zu erzählen.
Seit der achtundzwanzigjährige Miles Heller vor siebeneinhalb Jahren das College verlassen hat, schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch. Seit einem Jahr arbeitet er mit drei Kollegen für die Immobiliengesellschaft Dunbar in Florida und ist für die Entrümpelung der Häuser zuständig, die von ihren Eigentümern aufgegeben werden mussten. Während seine Kollegen sich immer wieder an den zurückgelassenen Dingen bereichern, beschränkt sich Miles darauf, sie zu fotografieren. Der Zufall oder das Schicksal will es, dass Miles eines Tages in einem Park in Miami der siebzehnjährigen Pilar begegnet, die wie er gerade in F. Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“ liest. Sie lieben sich, ziehen verbotenerweise zusammen, und um einer Gefängnisstrafe zu entgehen, kehrt Miles nach New York zurück, wo er bei seinem Jugendfreund Bing Nathan Unterschlupf findet. Bing betreibt nicht nur eine „Klinik für kaputte Dinge“, sondern besetzt mit zwei jungen Frauen ein verlassenes Haus im Brooklyner Viertel Sunset Park. Ellen Brice möchte eigentlich Malerin sein, schlägt sich aber stattdessen erfolglos als Immobilienmaklerin durch, die einer verflossenen Liebe nachtrauert, während Alice Bergstrom ihre Doktorarbeit verzweifelt zu beenden versucht und im Büro des PEN arbeitet. Miles komplettiert diese desillusionierte Wohngemeinschaft, in der nur wenige Regeln zu befolgen sind, wie Bing ihm erklärt.
„Jeder Bewohner hat eine Aufgabe zu erfüllen, aber von der Verantwortung für diese Aufgabe abgesehen, kann jeder kommen und gehen, wie es ihm beliebt. Er ist Hausmeister, Ellen ist Putzfrau, Alice kauft ein und kocht auch meistens. Vielleicht wolle Miles sich den Job mit Alice teilen und sich beim Einkaufen und Kochen mit ihr abwechseln. Miles hat keine Einwände. Er koche gern, sagt er, er habe im Laufe der Jahre ein Händchen dafür entwickelt, das wäre also kein Problem. Bing erklärt, Frühstück und Abendessen nähmen sie meistens gemeinsam ein, da sie alle knapp bei Kasse seien und so wenig wie möglich auszugeben versuchten. Dass sie ihre Mittel zusammenlegen, hat ihnen bisher schon gut geholfen, und jetzt mit Miles als neuem Mitbewohner werden die Kosten pro Nase noch weiter sinken.“ (S. 131) 
Miles nimmt nach Jahren, in denen er kein Wort von sich hören ließ, wieder Kontakt zu seinen Eltern auf. Morris Heller unterhält einen einst renommierten Kleinverlag, der nun aber kurz vor dem Bankrott steht – ebenso wie seine zweite Ehe mit der Schauspielerin Mary-Lee Swann. Die familiäre Wiedervereinigung verläuft schwierig. Während Vater und Sohn die unglücklichen Schicksale berühmter Baseball-Spieler Revue passieren lassen, ist es nur eine Frage der Zeit, die das Haus in Sunset Park von ihren Besetzern geräumt werden muss.
Es ist alles andere als ein hoffnungsvolles Bild, das Auster in seinem Roman zeichnet. Im Mittelpunkt seines episodenhaft an den einzelnen Figuren aufgehängten Dramas stehen Personen, die abgesehen von der Generation, die durch Miles Hellers Eltern personifiziert werden, nie Fuß gefasst haben in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Durch die Wirtschaftskrise hat die Mittelschicht nicht nur ihre Häuser, sondern auch ihre Zukunft verloren. Die vier Bewohner von Sunset Park haben kaum Aussicht auf einen gut bezahlten Job und müssen sich auf die elementarsten Bedürfnisse beschränken.  
Auster wechselt häufig die Erzählperspektive, lässt nicht nur die vier jungen Erwachsenen zu Wort kommen, die eine aus der Not geborene Wohngemeinschaft bilden, sondern auch Morris Heller, der vor den Trümmern seines mühselig aufgebauten Verlags und seiner Ehe steht. Immer wieder wird den Figuren ein Spiegel vorgehalten, sei es durch „Der große Gatsby“, durch den Film „Die besten Jahre unseres Lebens“, den Alice in ihrer Doktorarbeit thematisiert, oder die traurigen Schicksale berühmter Sportler, über die sich Miles und Morris meistens unterhalten.
„Sunset Park“ präsentiert ein glänzend geschriebenes und tiefsinnig beobachtbares Psychogramm einer verlorenen Generation, die ohne Heimat und Hoffnung erscheint und nicht die Möglichkeiten besitzt, ihre Träume und Leidenschaften auszuleben. Dass der Roman ohne Happy End auskommen muss, ist da nur konsequent.

Paul Auster - „Die Brooklyn Revue“

Mittwoch, 2. September 2009

(Rowohlt, 351 S., HC)
Nachdem der fast sechzigjährige ehemalige Versicherungsvertreter Nathan Glass die Scheidung von seiner Frau Edith hinter sich gebracht und das Haus in Bronxville verkauft hat, kehrt er nach 56 Jahren wieder in seine Heimat nach Brooklyn zurück. Dorthin will er sich zum Sterben zurückziehen, nachdem ihm Lungenkrebs diagnostiziert worden war, doch es bestehen gute Chancen auf Heilung.
Auch wenn seine 29-jährige Tochter Rachel insistiert, er solle sich eine Beschäftigung suchen, genügt es Nathan vorerst, fast täglich sein Mittagessen im Cosmic Diner einzunehmen, wo er sich hoffnungslos in die puertoricanische Kellnerin Marina verknallt hat, nimmt dann aber ein Projekt in Angriff, das er „Das Buch menschlicher Torheiten“ nennt, in das Nathan all seine begangenen Blamagen und Fehltritte einzutragen gedenkt. Bei einem Besuch im antiquarischen Buchladen „Brightman’s Attic“ trifft er zufällig seinen Neffen Tom Wood, dem Nathan eine grandiose akademische Karriere vorhersagte, der aber jahrelang Taxi gefahren war und schließlich bei Harry Brightman eine Anstellung in dessen Laden gefunden hat. Brightman kann auf ein schillerndes Leben verweisen, zu dem auch ein längerer Gefängnisaufenthalt zählt. Als Inhaber der Kunstgalerie „Dunkel Frères“ förderte er erfolgreich den Künstler Alec Smith und verkaufte nach dessen Tod weiterhin Bilder mit seinem Namen, die jedoch von einem anderen Künstler gefälscht wurden. Und schon plant Brightman den nächsten Coup, den Verkauf eines gefälschten Hawthorne-Manuskripts. Nathan rät dringend von dem Plan ab, doch Harry ist schon längst Feuer und Flamme für das ambitionierte Projekt … Gewohnt sprachgewandt und mit leisem Humor spinnt der Brooklyner Autor ein faszinierendes Geflecht von aneinander gereihten Torheiten.

Paul Auster - „Nacht des Orakels“

(Rowohlt, 286 S., HC)
Nachdem der 35-jährige Schriftsteller Sidney Orr im Januar 1982 an einer Subwaystation zusammenbricht, wird er mit inneren Blutungen, Knochenbrüchen, zwei Kopfverletzungen und neurologischen Schäden ins Krankenhaus eingeliefert. Nach einigen Wochen geben die Ärzte die Hoffnung auf, doch Sid hält durch und wird sogar nach vier Monaten aus dem Krankenhaus entlassen und von seiner bezaubernden Frau Grace liebevoll gepflegt. Als er wenige Monate darauf im „Paper Palace“ von Mr. Chang ein wundervolles blaues Notizbuch aus Portugal entdeckt, ist sogar seine Schreibblockade aufgehoben.
Die Geschichten strömen mit unglaublicher Leichtigkeit aus Sids Feder, enden aber immer irgendwie in einer Sackgasse. Er beginnt aber sogar ein Drehbuch für ein Remake von H.G. Wells’ „Die Zeitmaschine“ zu schreiben. Doch auf einmal beginnt sein gerade erst wieder in geordnete Bahnen gelenktes Leben aber ebenfalls wieder aus den Fugen zu geraten. Seine Frau benimmt sich äußerst merkwürdig, nachdem sie erfährt, dass sie schwanger ist, und bleibt sogar über Nacht fort. Mr. Chang kündigt ihm aus heiterem Himmel die Freundschaft, und Sid beginnt, merkwürdige Szenarien auch um seinen besten Freund, den berühmten Schriftsteller John Trause, zu spinnen… Paul Auster erweist sich einmal mehr als virtuoser Erzähler des Zufalls und geht der spannenden Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem „Vorher“ und dem „Nachher“ nach, der Möglichkeit, ob das Schreiben das Leben beeinflussen könne. „Wir leben in der Gegenwart, aber die Zukunft ist in jedem Augenblick in uns“, lässt Auster Trause am Ende sagen. „Vielleicht geht es beim Schreiben nur darum. Nicht Ereignisse der Vergangenheit aufzuzeichnen, sondern Dinge in der Zukunft geschehen zu lassen.“

Paul Auster - „Das Buch der Illusionen“

Dienstag, 1. September 2009

(Rowohlt, 384 S., HC)
Den Literaturprofessor David Zimmer kennen wir bereits aus Austers vorzüglichem Roman „Mond über Manhattan“. Mittlerweile ist er ein sehr einsamer, fast gebrochener Mann, der den Schmerz durch den Tod seiner Frau und seiner beiden Söhne nach einem Flugzeugabsturz mit Whiskey zu betäuben versucht. Vor ein paar Jahren schrieb er ein Buch über den Stummfilmkomiker und –regisseur Hector Mann, der im Januar 1929 spurlos verschwand. „Die stumme Welt des Hector Mann“ erschien 1988 – wenig später erhält Zimmer einen geheimnisvollen Brief, in dem ihm die Möglichkeit eröffnet wird, Hector Mann kennenzulernen.
 Es tauchen überall in der Welt längst für verschollen gehaltene Filme auf, und Zimmer setzt seine Lehrtätigkeit aus, um die Filme in Paris, London und in den USA zu betrachten. Mit neuem Lebenswillen macht er sich an die Übersetzung von Chateaubriands umfangreichen Memoiren, bis eines Abends eine Frau vor dem Haus des Professors auftaucht und ihn mit gezückter Pistole auffordert, sie nach New Mexico zu begleiten, um den im Sterben liegenden Hector Mann zu treffen. Zimmer tritt in eine mysteriöse Welt aus Liebe und Leidenschaft, Kunst und Täuschung. Paul Auster erweist sich mit seinem neuen Roman wieder mal als brillanter Geschichtenerzähler, der trotz aller liebevoll geschilderter melancholischer Stimmungen stets auch Hoffnungsschimmer zu transportieren versteht, die sich hinter all den rätselhaften Ereignissen verbergen, deren Zeuge nicht nur der Protagonist des Romans, sondern auch der Leser wird.