Andrea De Carlo – „Margherita und der Mond“

Mittwoch, 28. April 2021

(Diogenes, 288 S., Pb.) 
Eigentlich wollte Margherita Malventi auf jeden Fall einen anderen Beruf als ihr faschistischer, von Gegensätzen wie Naivität und autoritärem Gehabe, aggressivem Auftreten und konventioneller Höflichkeit, Größenwahn und Depressionen geprägter Vater Achille ergreifen, doch letztlich ist sie genau in die Fußstapfen ihres etwas klein geratenen Vaters getreten, der einst als Sternekoch ein berühmtes Restaurant unter seinem Namen in Venedig geführt hatte, sich aber auf die falschen Leute einließ und sein Restaurant verlor. Die mittlerweile vierzigjährige Margherita führt ebenfalls ein kleines Restaurant in Venedig, hat sich aber entschlossen, auf ganz andere Weise zu kochen als ihr tyrannischer alter Herr. 
Mit ihrem Restaurant kommt sie gerade so über die Runden, der Beruf macht ihr Spaß. Allein die egozentrische Art der Männer in ihrem Leben bereiten Margherita Sorgen. Neben ihrem Vater, der sich so gar nicht für sie interessiert, lebt sie zwar mit ihrem Mann Luca in einer Wohnung, doch eben nebenher als mit ihm zusammen. Als ihr Vater zu einer Fernseh-Kochshow nach Mailand eingeladen wird, lässt sie sich darauf ein, ihn zu begleiten – einerseits als Abwechslung zu ihrem in Routinen erstarrten Alltag, anderseits hofft sie, durch den Trip ihrem Vater etwas näherzukommen. 
Doch die Hoffnungen werden schnell enttäuscht. Während ihr Vater über die aufgeblasenen Schaumschläger in den Fernsehkochshows herzieht und das für die Show verabredete Gericht beharrlich nach seinen speziellen Zutaten zubereiten will, entflieht Margherita der tristen Studioatmosphäre und rekapituliert einmal mehr in melancholischer Stimmung ihr bisheriges Leben. Das Theater, das ihr Vater schon während der Aufzeichnung der Kochshow abzog, setzt sich schließlich im Hotelrestaurant fort, als Margheritas Vater den Chefkoch wegen des völlig verhunzten Risottos zur Rechenschaft ziehen will. Dabei macht Margherita die Bekanntschaft des Franzosen Jules, der in ihr eine besondere Saite zum Klingen bringt und sie in wenigen Momenten schon besser zu kennen scheint als Luca oder ihr Vater es je könnten … 
„Was mich am meisten beunruhigte, war nicht etwa all das, was er über mich erraten hatte, sondern vielmehr das beunruhigende Gefühl, dass er wirklich wusste, wer ich war: dass er um mein Verhältnis zum Mond, zu meiner Arbeit und zu meinem Vater wusste. So schien es mir jedenfalls. Vielleicht war ich ja so sehr daran gewöhnt, dass Luca und meinem Vater jegliches Interesse an mir abging, dass ich den erstbesten Mann, bei dem das anders war, gleich außergewöhnlich fand …“ (S. 150) 
Drei Jahre nach seiner ursprünglichen Veröffentlichung ist Andrea De Carlos Roman „Una di luna“ auch hierzulande in deutscher Übersetzung erhältlich. „Margherita und der Mond“ erzählt die Geschichte einer Frau, die stets im Schatten ihres einst berühmten Vaters stand und letztlich doch so von ihm geprägt wurde, dass sie nach wie vor in der Nähe ihrer Eltern lebt und ebenfalls Karriere als Köchin gemacht hat.  
Andrea De Carlo hat schon immer ein feines Gespür für die Psychologie seiner Figuren gehabt. In dieser Hinsicht stellt sein neuer Roman keine Ausnahme dar. Dass sich ein Großteil der Geschichte um das Kochen dreht, erlaubt dem wortgewandten Autor, mit unzähligen sinnlichen Ein- und Ausdrücken zu spielen, und zwar so eindringlich, dass man als Leser die beschriebenen Zutaten selbst auf der Zunge zu schmecken vermag. Während die Geschichte selbst eher unspektakulär und ohne große Überraschungen auf ein viel zu vorhersehbares Ende dahintreibt, entfaltet De Carlo das Innenleben seiner sympathischen Protagonistin in allen Facetten, macht dabei deutlich, wie Margherita sich zwischen den Männern in ihrem Leben zu behaupten versucht, ohne jedoch einen Hauch von Beachtung zu ernten. 
Während die Beziehungen zu ihrem Vater und zu Luca jedoch fein aufgedröselt werden, bleibt die von Zufällen und „Zaubern“ geprägte Bekanntschaft mit Jules eher an der Oberfläche, wirkt wie ein Versprechen auf eine bessere Zukunft. Stilistisch bleibt De Carlo auch mit seinem neuen Roman eine Klasse für sich, als Geschichtenerzähler hat er jedoch schon packender unterhalten.  

Annalena McAfee – „Blütenschatten“

(Diogenes, 336 S., HC) 
Eve Laing steht im Alter von sechzig Jahren eigentlich am Höhepunkt ihrer Karriere. Sie hat sich vom Status der Muse des berühmten Malers Florian Kiš zu einer weithin anerkannten Künstlerin etabliert, die mit einigen Assistenten und Gehilfen in ihrem Atelier in East London an einer Retrospektive arbeitet, die ihren prominenten Status in der Kunstwelt zementieren soll. Doch vor fünf Monaten hat sie die Ehe mit dem berühmten Architekten Kristof Axness durch eine Affäre mit ihrem gerade mal dreißigjährigen Gehilfen Luka und damit ihr Leben in den Sand gesetzt. 
Bei einem Spaziergang durch das nächtliche London lässt sie ihr Leben Revue passieren. Sie denkt an ihre Zeit nach der Kunstakademie zurück, als sie in New Yorks Lower East Side davon träumte, sich als Künstlerin zu behaupten, und dann mit dem zehn Jahre älteren, vielversprechenden Architekten Kristof zurück nach Europa ging, wo sie ihre gemeinsame Tochter Nancy zur Welt brachte, aber auch schnell das Gefühl bekam, im Schatten ihres aufstrebenden Mannes und unter den Anforderungen des Familienlebens zu schrumpfen. Zwar hatte sie mit dem georgianischen Einfamilienhaus Delauney Gardens bereits der Gipfel an Wohnkomfort in ihrem Leben, doch leben Kristof und sie aneinander vorbei, jeder für sich in seiner Karrieregestaltung gefangen, in der private Nähe nicht mehr möglich scheint. Da kommt ihr der junge Luka gerade recht, mit dem sie zunächst unbemerkt von ihrem stets beschäftigten Mann auch die Nächte in ihrem Atelier um die Ohren schlägt. 
Die Affäre, in die sie sich mit aller Leidenschaft stürzt, tut ihr gut, fließt auch energetisch in ihre Arbeit ein, die Luka mit der Kamera einfängt und sie dabei interviewt. Doch das Glück bekommt erste Risse, als Luka immer kritischere, fast schon beleidigende Töne bei seinen Fragen anschlägt, als sie die Ausstellung ihrer verhassten, aber weitaus erfolgreicheren Rivalin Wanda Wilson besucht und böse vorgeführt wird. Noch klammert sich Eve an die Aussicht auf eine erfolgreiche Ausstellung, an die leidenschaftliche Affäre, während sich am Horizont finstere Wolken zusammenbrauen … 
„Nachdem sie ein Leben lang darum gekämpft hatte, ein gewisses Gleichgewicht zwischen dem häuslichen Leben und den Anforderungen der Arbeit zu finden, entschied sich Eve für die Arbeit, ließ die Zügel fahren und genoss das köstliche Ohnmachtsgefühl des freien Falls in ihr Inneres. Sie pfiff auf Konventionen und Gewissensbisse. Das war alles, was zählte, hier wollte sie sein – in der anschwellenden Woge von Kreativität und Sinnlichkeit.“ (S. 233) 
Als Gründerin der Kunst- und Literaturbeilage des „Guardian“ und Feuilletonredakteurin bei der „Financial Times“ kennt die aus London stammende und mit ihrem berühmten Mann Ian McEwan in der Nähe von London lebende Annalena McAfee die Kunstszene Londons wie kaum eine Zweite. Wenn sie aus der Perspektive ihrer eher unsympathischen, selbstverliebten und arroganten Protagonistin das Ringen um Anerkennung, den abschätzenden Blick auf Konkurrentinnen und erfolgsverwöhnte Männer schildert, wirkt das ebenso glaubwürdig wie die Beschreibungen ganz handwerklicher Tätigkeiten, das Vorbereiten der Leinwände, das Anmischen der Farben, die Bestückung der Herbarien. 
Doch weit spannender als der Einblick in das künstlerische Schaffen sind die Innenansichten einer alternden Künstlerin, die durch die Affäre mit einem halb so alten Mann ihrer Karriere und ihrem Leben noch einmal die Leidenschaft und den Schwung verleihen will, der sie durch den Alltag an der Seite eines international berühmten und nach wie vor gefragten Architekten etwas im Schatten verschwinden ließ, aus dem sie mit aller Kraft heraustreten möchte. Ein nächtlicher Spaziergang dient als erzählerischer Rahmen für den weitschweifigen, doch stets unterhaltsamen Rückblick auf Eve Laings Leben und Karriere. 
Schon früh zeichnet sich das Drama ab, auf das sie hier zusteuert und das letztlich das Ergebnis fataler Fehleinschätzungen wirkt. Dazu zählt die Tatsache, dass sie als Florians Muse nur eine von vielen kurzweiligen Geliebten des berühmten Malers gewesen ist, dass ihre ehemalige Kommilitonin Wanda mit ihrer spektakulär inszenierten Aktionskunst viel erfolgreicher geworden ist als sie selbst, dass sie das Leben ihrer Tochter als Influencerin nicht ernst nehmen kann. 
Zwar braucht „Blütenschatten“, McAfees dritter Roman nach „Zeilenkrieg“ und „Zurück nach Fascaray“, etwas Anlaufschwung, aber sobald die Figur der Blütenmalerin durch ihre Selbstbeschreibungen an Kontur gewinnt, entwickelt sich ein in sich stimmiges Portrait einer nach Ruhm und Anerkennung lechzenden Künstlerin, die mit ihren Stillleben wie das Relikt einer vergangenen Epoche wirkt. 
Im Gegensatz dazu sprechen ihre Tochter Nancy und ihre Erzfeindin Wanda mit der Verwendung neuer Medien und sinnlich direkt ansprechender Präsentation den Geschmack des modernen Publikums viel direkter an. Das vorhersehbare Ende macht aber auch deutlich, wie schnell eine mühsam aufgebaute Karriere aufgrund von Selbsttäuschung und Fehleinschätzung in Sekundenschnelle zu Staub zerfallen kann.  

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 6) „Münsters Fall“

Samstag, 17. April 2021

(btb, 318 S., HC) 
Nachdem sich Hauptkommissar Van Veeteren auf unbestimmte Zeit zur Ruhe gesetzt hat und es nun in einem Antiquariat weitaus entspannter angehen lässt, hat sein ehemaliger Kollege Kommissar Münster bei der Kriminalpolizei in Maardam alle Hände voll zu tun, den bestialischen Mord an dem 72-jährigen Rentner Waldemar Leverkuhn aufzuklären. Bei 28 Messerstichen gehen die Ermittler von einer ungeheuren Wut aus, die der Täter/die Täterin gegenüber dem Opfer empfunden haben muss, doch weder die Befragungen von Leverkuhns Freunden, mit denen er am Abend zuvor im Freddy’s den Gewinn der Lottogemeinschaft in Höhe von 20.000 Gulden feucht-fröhlich gefeiert hatte, noch seiner Frau und den Nachbarn deuten in eine dementsprechende Richtung. Es lassen sich auch keine Zeugen für den Zeitraum zwischen dem Verlassen der Kneipe bis zur Entdeckung der Leiche durch seine Frau Marie-Louise finden, die den Abend bei ihrer Freundin und ehemaligen Arbeitskollegin Emmeline von Post in Bossingen verbracht und ihren Mann bei ihrer Heimkehr entdeckt hatte, allerdings erst gegen Viertel vor drei nachts die Polizei informierte. 
Dann verschwinden zwei weitere Menschen in diesem Zusammenhang, Felix Bonger, einer von Leverkuhns Freunden aus der Tippgemeinschaft, und Leverkuhns Nachbarin Else van Eck. Da auch Leverkuhns Kinder wenig über ihr Verhältnis zu ihrem Vater verlauten lassen, ist Münster so ratlos, dass er schließlich Van Veeteren um Unterstützung bittet. 
Als Leverkuhns Frau plötzlich den Mord an ihrem Mann gesteht, erklärt sich der alte Hauptkommissar a.D. bereit, der Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Er ist sich sicher, dass Frau Leverkuhn unschuldig ist und mit ihrem Geständnis jemanden schützen will. Während Münster und seine Kollegin Ewa Moreno noch einmal die Kinder des Opfers nach Hintergründen zu ihrem Vater befragen wollen, kommen sich die beiden auch persönlich näher, was die Arbeit nicht unbedingt leichter macht: Morena hat sich gerade von ihrem Freund Claus getrennt, der sich allerdings droht umzubringen, und Münster hat sich mit seiner Frau Synn auch schon etwas auseinandergelebt. Um in dem schwierigen Fall voranzukommen, versucht sich Münster noch einmal an Van Veeterens Ermittlungsgrundsätze zu erinnern … 
„Je älter er geworden war, umso wichtiger erschien es ihm, sich selbst zu schützen und die Dinge auf Distanz zu halten. Und erst wenn die anfänglichen Wogen der Abscheu sich langsam legten, abebbten, hatte es Sinn, sich dem Ganzen intensiver zuzuwenden, genau zu prüfen und zu versuchen, sich in die Natur der Straftat hineinzuvertiefen. In ihren wahrscheinlichen Hintergrund. Die Ursachen und Motive. Den Kern des Ganzen, wie Van Veeteren es nannte. Das Muster. Einen Teil dieser Strategien hatte sicher der Hauptkommissar ihm vermittelt, aber bei weitem nicht alle.“ (S. 75) 
In seinem sechsten Fall bleibt der kauzige Hauptkommissar Van Veeteren einmal außen vor, überlässt seinem jungen Kollegen Münster die Hauptbühne und zieht sich als nahezu stiller Beobachter hinter die Kulissen zurück. Münster ergeht es allerdings nicht besser oder schlechter als seinem in vielen Dingen verehrten Vorbild, denn so trostlos und brutal das Leben eines 72-Jährigen sein Ende findet, so mühsam und ergebnislos tappen Münster, Moreno & Co. durch die Ermittlungen, die letztlich zur Aufdeckung eines erschütternden Familiengeheimnisses führen, das sich bereits in den ersten Beobachtungen andeutet, dass die drei Leverkuhn-Kinder kaum Kontakt zu ihren Eltern gepflegt haben. 
Es sind auch weniger die schleppenden Ermittlungserfolge, die „Münsters Fall“ lesenswert machen, sondern die menschlichen Tragödien von fast Shakespeare’schen Ausmaßen, die sich nicht nur in der Familie des Ermordeten entfalten, sondern auch im Leben der Ermittler – wenn da auch in weitaus alltäglicheren Dimensionen. Nesser erweist sich einmal mehr als ebenso feiner Stilist wie Erzähler, der in gemächlichem Tempo den Fall zwar immer im Auge hat, aber vor allem ein Gespür für seine Figuren entwickelt und ihre Beziehungen zueinander. Wie hier Liebe und Eifersucht, Freiheit und Abhängigkeit, Schuld und Sühne, Mut und Verantwortung thematisiert und sogar immer wieder mit einem Hauch von Humor aufgelockert werden, macht „Münsters Fall“ eher zu einem gelungenen Drama als zu einem konventionellen Krimi.  

Stewart O‘Nan – „Sommer der Züge“

Sonntag, 11. April 2021

(Rowohlt, 478 S., HC) 
Als ihn die Nachricht erreicht, dass sein Vater im Sterben liegt, macht sich James Langer mit seiner Frau Anne und ihrem Sohn Jay auf den Weg nach Montauk, Long Island. In diesem Sommer des Jahres 1943 geht es für die Langer-Familie aber nicht nur darum, Abschied vom Familienoberhaupt zu nehmen, sondern die tief liegenden Wunden zu heilen, die die Ereignisse der letzten Zeit mit sich brachten. James hat durch seine Affäre mit seiner sechzehnjährigen Schülerin Diane nicht nur seinen Job, sondern auch das Vertrauen seiner Frau verloren. Anne wiederum rächt sich an ihrem Mann durch eine Affäre mit dem jungen Soldaten Martin, fühlt sich dadurch aber nicht wirklich besser, denn über allen persönlichen Krisen liegt die am schwersten wiegenden Tatsache, dass ihr ältester Sohn Rennie im Krieg gegen die Japaner auf der Aleuteninsel Attu kämpft, während seine Verlobte Dorothy in San Diego sein Kind zur Welt bringt. 
Seit Wochen haben die Langers nichts mehr von Rennie gehört, der im Gefecht schwer verwundet wird, aber überlebt. Als er nach Hause kommt, fehlen ihm meist die Worte, was nicht nur an dem mit Draht zusammengeklammerten Kiefer und der schlecht sitzenden Gebissprothese liegt, sondern auch an den traumatischen Erinnerungen an einen Krieg, an dem er nie teilnehmen wollte. 
Derweil hofft James, dass ihm seine Frau irgendwann seinen Fehltritt verzeiht, dass sie mit der Rückkehr nach Galesburg gemeinsam wieder zu dem Leben zurückkehren können, bevor die Dinge außer Kontrolle gerieten. 
„An seine eigenen Versöhnungsbemühungen konnte er sich nicht mehr erinnern, nur an die Trauer um Diane. Schweigen, Autofahrten. Anne hatte den Grund wissen wollen, und was hätte er ihr sagen sollen? Er hatte sich selbst nicht mehr erkannt. Er hatte sich gefühlt, als wäre er aus einem Rausch erwacht, voll Reue und doch erstaunt, dass er so lange ohne Bewusstsein gewesen war. Er glaubte zu sehen, dass Anne langsam erkannte, wo sie stand und was sie getan hatte.“ (S. 462) 
Stewart O‘Nan hat sich bereits in seinen vorangegangenen Romanen „Engel im Schnee“ und „Die Speed Queen“ als einfühlsamer wie präziser Erzähler erwiesen, der sich so tief in die inneren Welten seiner ganz alltäglichen Protagonisten eingräbt, dass sie seinem Publikum wie lebensechte Figuren vorkommen, deren Sehnsüchte, Hoffnungen, Träume und Ängste jederzeit nachzuvollziehen sind. Auch sein 1998 veröffentlichtes Buch „A World Away“, das ein Jahr später in deutscher Übersetzung mit dem etwas irreführenden Titel „Sommer der Züge“ erschienen ist, bringt die erstaunliche Fähigkeit des Autors zum Ausdruck, die problematischen Beziehungen innerhalb einer Familie zu sezieren, wobei diese größtenteils aus der Gewalt resultieren, die diese Menschen einander antun. 
Obwohl „Sommer der Züge“ in Kriegszeiten spielt und mit Rennie ein Familienmitglied aktiv in den militärischen Auseinandersetzungen zwischen den USA und Japan involviert ist, führt O‘Nan hier sehr schön vor, wie Rennie eigentlich den Kriegsdienst verweigert hatte und er sich erst für einen Kriegseinsatz als Sanitäter an der Front meldete, als einer seiner College-Freunde im Krieg umgekommen war. Zu dem Zeitpunkt übten seine Familie und die Kleinstädter aber schon so viel moralischen Druck auf den jungen Mann aus, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb, als seinen Teil zum Wohl der Gemeinschaft beizutragen.  
O‘Nan wechselt immer wieder die Erzählperspektiven, beschreibt sowohl die kleinsten Anzeichen, nach denen James bei seiner Frau sucht, dass sie ihn wieder an ihrem Leben teilhaben lässt, lässt Anne rekapitulieren, was sie dabei empfunden hat, als sie von dieser unmöglichen Affäre ihres Mannes erfahren hat und wie sie nun versucht, die Affäre mit Martin zu beenden. Rennie kommt mit seinen Erlebnissen an der Front und der schwierigen Wiedereingliederung ins Leben nach seiner Rückkehr ebenso zu Wort wie seine Verlobte, die schwanger in einer Waffenfabrik arbeitet und ebenso wie Rennies Eltern verzweifelt auf seine Rückkehr hofft. 
All das wird begleitet von wunderbar präzisen Beschreibungen des Alltags, der Natur ebenso wie der Musik und den Filmen im Kino, die Jay besucht. So entsteht ein zutiefst intimes, Leben und Tod, Gewalt und Liebe, Trost und Vergebung, Ende und Neuanfang austarierendes Familien- und Gesellschaftsportrait, wie es nur ein so begnadeter, vielseitiger Erzähler wie Stewart O‘Nan vorlegen kann.  

Michael Connelly – (Renée Ballard: 2, Harry Bosch: 21) „Night Team“

Samstag, 3. April 2021

(Kampa, 448 S., HC) 
Auch wenn Harry Bosch längst in Rente ist, kommt er doch nicht davon los, weiter in ungeklärten Fällen zu ermitteln, teils als Privatermittler, teils als Reservist für das San Fernando Police Department. Als er sich unbeobachtet in der Hollywood Division nach der Akte der fünfzehnjährigen Prostituierten Daisy Clayton sucht, wird er von Renée Ballard überrascht, einer einst beim Los Angeles Police Department in der Robbery-Homicide Division tätigen Detektivin, die zur sogenannten Late Show, der berühmt-berüchtigten Nachtschicht des LAPD, strafversetzt wurde, nachdem sie ihren damaligen Vorgesetzten Robert Olivas wegen sexueller Belästigung angezeigt hatte. Ballard ist neugierig, was Bosch an dem Fall so fesselt, und findet ihn so interessant, dass sie Bosch anbietet, ihn bei der Suche nach Daisys Mörder, der ihre Leiche in einem Müllcontainer entsorgt hatte, zu unterstützen, denn ihr stehen immerhin Mittel und Wege zur Verfügung, auf die Bosch als pensionierter Cop nicht zurückgreifen kann. 
In offizieller Mission untersucht Bosch darüber hinaus die Ermordung des früheren Gangsterbosses Cristobal „Uncle Murda“ Vega. Zwar kann Bosch das ehemalige Gang-Mitglied Martin Perez ausfindig machen, der auch zu einer Aussage gegen den mutmaßlichen Mörder Tranquillo Cortez bereit ist, doch wird dieser wenig später ermordet. Bei der Aufdeckung des Department-internen Lecks widerfährt Bosch die nächste Panne. 
Nach seiner Suspendierung kann sich Bosch nun ganz auf den Fall von Daisy konzentrieren, deren ehemals drogenabhängige Mutter bei ihm vorübergehend wohnt, wodurch er seine Tochter Maddie kaum noch zu sehen bekommt. Währenddessen ackert Ballard – immer wieder auch mit Bosch zusammen -die sogenannten „Filzkarten“ durch, auf denen die Ermittler Notizen zu den Interviews mit Zeugen eintragen. Dabei stößt sie auf einen Tatortreiniger, den sie sich einmal aus der Nähe betrachten will. 
„Mord war Mord, und Ballard wusste, dass jeder Fall die uneingeschränkte Aufmerksamkeit der Polizei verdiente. Aber die Ermordung einer Frau ging Ballard immer besonders nahe. Fast immer war bei den Fällen, mit denen sie sich befasste, extreme Brutalität im Spiel. Und fast immer waren die Täter Männer. Das hatte etwa Beunruhigendes und zutiefst Ungerechtes, das über die grundsätzliche Ungerechtigkeit eines gewaltsamen Todes hinausging. Sie fragte sich, wie Männer sich verhalten würden, wenn sie in dem beständigen Wissen lebten, allein wegen ihrer Größe und ihrer Konstitution jede Sekunde ihres Lebens dem anderen Geschlecht unterlegen zu sein.“ (S. 387) 
Seit Michael Connelly Anfang der 1990er Jahre mit „Schwarzes Echo“ seinen ersten Harry-Bosch-Roman veröffentlichte, kann er auf über 20 Bestseller mit seinem charismatischen, sturköpfigen und gerechtigkeitsliebenden Protagonisten zurückblicken, der mittlerweile nicht nur seit 2014 in der Amazon-Serie „Bosch“ Form angenommen hat, sondern auch ein Alter erreicht hat, in dem er gewiss einfach seine Altersruhe genießen könnte. 
Doch wie langjährige Bosch-Fans wissen, lassen dem ehemaligen Detective bei der Mordkommission des LAPD ungelöste Fälle auch nach Jahren keine Ruhe. Da Connelly bereits in früheren Romanen immer wieder Begegnungen zwischen seiner prominentesten Figur und anderen Protagonisten weiterer Reihen wie um Boschs Halbbruder Mickey Haller oder Terry McCaleb eingebaut hatte, darf sich nun auch Connellys neueste Erfindung, die in die Late Show versetzte Ermittlerin Renée Ballard, mit Bosch zusammen auf Verbrecherjagd machen. Dabei stehen zwei ganz unterschiedliche Fälle im Mittelpunkt, die allerdings zeigen, wie gut Ballard und Bosch miteinander harmonieren. 
Connelly beschreibt die oft ermüdende Polizeiarbeit wie gewohnt detailliert, aber ohne seine Leserschaft zu langweilen. Stattdessen bleibt das Publikum durch die akkurat geschilderten Ermittlungsschritte und die daraus gewonnenen Erkenntnisse immer auf Augenhöhe mit Bosch und Ballard, denen der Autor jeweils eine eigene Erzählperspektive zuordnet. So wie Bosch und Ballard braucht auch der Leser einen langen Atem, bis die beiden Fälle zufriedenstellend gelöst sind. Dabei steht Bosch auch vor der moralischen Entscheidung, wie ein skrupelloser Killer wie Cortez der Gerechtigkeit zugeführt werden soll. 
Dass er letztlich den korrekten Weg wählt, bildet die Grundlage für weitere gemeinsame Ermittlungen von Ballard und Bosch. Auch wenn „Night Team“ nicht zu den allerbesten Werken aus Connellys Feder zählt - dazu entwickelt sich die Story zu geradlinig und kommt zu wenig Spannung auf - , liegt der Roman mit seinem authentisch wirkendem Plot und den glaubwürdigen und vielschichtigen Figuren weit über dem Genre-Durchschnitt. Auf weitere Romane von Michael Connelly – egal mit welchen Hauptfiguren – darf man sich also getrost freuen.