(btb, 318 S., HC)
Nachdem sich Hauptkommissar Van Veeteren auf unbestimmte Zeit zur Ruhe gesetzt hat und es nun in einem Antiquariat weitaus entspannter angehen lässt, hat sein ehemaliger Kollege Kommissar Münster bei der Kriminalpolizei in Maardam alle Hände voll zu tun, den bestialischen Mord an dem 72-jährigen Rentner Waldemar Leverkuhn aufzuklären. Bei 28 Messerstichen gehen die Ermittler von einer ungeheuren Wut aus, die der Täter/die Täterin gegenüber dem Opfer empfunden haben muss, doch weder die Befragungen von Leverkuhns Freunden, mit denen er am Abend zuvor im Freddy’s den Gewinn der Lottogemeinschaft in Höhe von 20.000 Gulden feucht-fröhlich gefeiert hatte, noch seiner Frau und den Nachbarn deuten in eine dementsprechende Richtung. Es lassen sich auch keine Zeugen für den Zeitraum zwischen dem Verlassen der Kneipe bis zur Entdeckung der Leiche durch seine Frau Marie-Louise finden, die den Abend bei ihrer Freundin und ehemaligen Arbeitskollegin Emmeline von Post in Bossingen verbracht und ihren Mann bei ihrer Heimkehr entdeckt hatte, allerdings erst gegen Viertel vor drei nachts die Polizei informierte.
Dann verschwinden zwei weitere Menschen in diesem Zusammenhang, Felix Bonger, einer von Leverkuhns Freunden aus der Tippgemeinschaft, und Leverkuhns Nachbarin Else van Eck. Da auch Leverkuhns Kinder wenig über ihr Verhältnis zu ihrem Vater verlauten lassen, ist Münster so ratlos, dass er schließlich Van Veeteren um Unterstützung bittet.
Als Leverkuhns Frau plötzlich den Mord an ihrem Mann gesteht, erklärt sich der alte Hauptkommissar a.D. bereit, der Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Er ist sich sicher, dass Frau Leverkuhn unschuldig ist und mit ihrem Geständnis jemanden schützen will. Während Münster und seine Kollegin Ewa Moreno noch einmal die Kinder des Opfers nach Hintergründen zu ihrem Vater befragen wollen, kommen sich die beiden auch persönlich näher, was die Arbeit nicht unbedingt leichter macht: Morena hat sich gerade von ihrem Freund Claus getrennt, der sich allerdings droht umzubringen, und Münster hat sich mit seiner Frau Synn auch schon etwas auseinandergelebt. Um in dem schwierigen Fall voranzukommen, versucht sich Münster noch einmal an Van Veeterens Ermittlungsgrundsätze zu erinnern …
„Je älter er geworden war, umso wichtiger erschien es ihm, sich selbst zu schützen und die Dinge auf Distanz zu halten. Und erst wenn die anfänglichen Wogen der Abscheu sich langsam legten, abebbten, hatte es Sinn, sich dem Ganzen intensiver zuzuwenden, genau zu prüfen und zu versuchen, sich in die Natur der Straftat hineinzuvertiefen. In ihren wahrscheinlichen Hintergrund. Die Ursachen und Motive. Den Kern des Ganzen, wie Van Veeteren es nannte. Das Muster. Einen Teil dieser Strategien hatte sicher der Hauptkommissar ihm vermittelt, aber bei weitem nicht alle.“ (S. 75)
In seinem sechsten Fall bleibt der kauzige Hauptkommissar Van Veeteren einmal außen vor, überlässt seinem jungen Kollegen Münster die Hauptbühne und zieht sich als nahezu stiller Beobachter hinter die Kulissen zurück. Münster ergeht es allerdings nicht besser oder schlechter als seinem in vielen Dingen verehrten Vorbild, denn so trostlos und brutal das Leben eines 72-Jährigen sein Ende findet, so mühsam und ergebnislos tappen Münster, Moreno & Co. durch die Ermittlungen, die letztlich zur Aufdeckung eines erschütternden Familiengeheimnisses führen, das sich bereits in den ersten Beobachtungen andeutet, dass die drei Leverkuhn-Kinder kaum Kontakt zu ihren Eltern gepflegt haben.
Es sind auch weniger die schleppenden Ermittlungserfolge, die „Münsters Fall“ lesenswert machen, sondern die menschlichen Tragödien von fast Shakespeare’schen Ausmaßen, die sich nicht nur in der Familie des Ermordeten entfalten, sondern auch im Leben der Ermittler – wenn da auch in weitaus alltäglicheren Dimensionen. Nesser erweist sich einmal mehr als ebenso feiner Stilist wie Erzähler, der in gemächlichem Tempo den Fall zwar immer im Auge hat, aber vor allem ein Gespür für seine Figuren entwickelt und ihre Beziehungen zueinander. Wie hier Liebe und Eifersucht, Freiheit und Abhängigkeit, Schuld und Sühne, Mut und Verantwortung thematisiert und sogar immer wieder mit einem Hauch von Humor aufgelockert werden, macht „Münsters Fall“ eher zu einem gelungenen Drama als zu einem konventionellen Krimi.
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