(Diogenes, 336 S., HC)
Eve Laing steht im Alter von sechzig Jahren eigentlich am Höhepunkt ihrer Karriere. Sie hat sich vom Status der Muse des berühmten Malers Florian Kiš zu einer weithin anerkannten Künstlerin etabliert, die mit einigen Assistenten und Gehilfen in ihrem Atelier in East London an einer Retrospektive arbeitet, die ihren prominenten Status in der Kunstwelt zementieren soll. Doch vor fünf Monaten hat sie die Ehe mit dem berühmten Architekten Kristof Axness durch eine Affäre mit ihrem gerade mal dreißigjährigen Gehilfen Luka und damit ihr Leben in den Sand gesetzt.
Bei einem Spaziergang durch das nächtliche London lässt sie ihr Leben Revue passieren. Sie denkt an ihre Zeit nach der Kunstakademie zurück, als sie in New Yorks Lower East Side davon träumte, sich als Künstlerin zu behaupten, und dann mit dem zehn Jahre älteren, vielversprechenden Architekten Kristof zurück nach Europa ging, wo sie ihre gemeinsame Tochter Nancy zur Welt brachte, aber auch schnell das Gefühl bekam, im Schatten ihres aufstrebenden Mannes und unter den Anforderungen des Familienlebens zu schrumpfen. Zwar hatte sie mit dem georgianischen Einfamilienhaus Delauney Gardens bereits der Gipfel an Wohnkomfort in ihrem Leben, doch leben Kristof und sie aneinander vorbei, jeder für sich in seiner Karrieregestaltung gefangen, in der private Nähe nicht mehr möglich scheint. Da kommt ihr der junge Luka gerade recht, mit dem sie zunächst unbemerkt von ihrem stets beschäftigten Mann auch die Nächte in ihrem Atelier um die Ohren schlägt.
Die Affäre, in die sie sich mit aller Leidenschaft stürzt, tut ihr gut, fließt auch energetisch in ihre Arbeit ein, die Luka mit der Kamera einfängt und sie dabei interviewt. Doch das Glück bekommt erste Risse, als Luka immer kritischere, fast schon beleidigende Töne bei seinen Fragen anschlägt, als sie die Ausstellung ihrer verhassten, aber weitaus erfolgreicheren Rivalin Wanda Wilson besucht und böse vorgeführt wird. Noch klammert sich Eve an die Aussicht auf eine erfolgreiche Ausstellung, an die leidenschaftliche Affäre, während sich am Horizont finstere Wolken zusammenbrauen …
„Nachdem sie ein Leben lang darum gekämpft hatte, ein gewisses Gleichgewicht zwischen dem häuslichen Leben und den Anforderungen der Arbeit zu finden, entschied sich Eve für die Arbeit, ließ die Zügel fahren und genoss das köstliche Ohnmachtsgefühl des freien Falls in ihr Inneres. Sie pfiff auf Konventionen und Gewissensbisse. Das war alles, was zählte, hier wollte sie sein – in der anschwellenden Woge von Kreativität und Sinnlichkeit.“ (S. 233)
Als Gründerin der Kunst- und Literaturbeilage des „Guardian“ und Feuilletonredakteurin bei der „Financial Times“ kennt die aus London stammende und mit ihrem berühmten Mann Ian McEwan in der Nähe von London lebende Annalena McAfee die Kunstszene Londons wie kaum eine Zweite. Wenn sie aus der Perspektive ihrer eher unsympathischen, selbstverliebten und arroganten Protagonistin das Ringen um Anerkennung, den abschätzenden Blick auf Konkurrentinnen und erfolgsverwöhnte Männer schildert, wirkt das ebenso glaubwürdig wie die Beschreibungen ganz handwerklicher Tätigkeiten, das Vorbereiten der Leinwände, das Anmischen der Farben, die Bestückung der Herbarien.
Doch weit spannender als der Einblick in das künstlerische Schaffen sind die Innenansichten einer alternden Künstlerin, die durch die Affäre mit einem halb so alten Mann ihrer Karriere und ihrem Leben noch einmal die Leidenschaft und den Schwung verleihen will, der sie durch den Alltag an der Seite eines international berühmten und nach wie vor gefragten Architekten etwas im Schatten verschwinden ließ, aus dem sie mit aller Kraft heraustreten möchte. Ein nächtlicher Spaziergang dient als erzählerischer Rahmen für den weitschweifigen, doch stets unterhaltsamen Rückblick auf Eve Laings Leben und Karriere.
Schon früh zeichnet sich das Drama ab, auf das sie hier zusteuert und das letztlich das Ergebnis fataler Fehleinschätzungen wirkt.
Dazu zählt die Tatsache, dass sie als Florians Muse nur eine von vielen kurzweiligen Geliebten des berühmten Malers gewesen ist, dass ihre ehemalige Kommilitonin Wanda mit ihrer spektakulär inszenierten Aktionskunst viel erfolgreicher geworden ist als sie selbst, dass sie das Leben ihrer Tochter als Influencerin nicht ernst nehmen kann.
Zwar braucht „Blütenschatten“, McAfees dritter Roman nach „Zeilenkrieg“ und „Zurück nach Fascaray“, etwas Anlaufschwung, aber sobald die Figur der Blütenmalerin durch ihre Selbstbeschreibungen an Kontur gewinnt, entwickelt sich ein in sich stimmiges Portrait einer nach Ruhm und Anerkennung lechzenden Künstlerin, die mit ihren Stillleben wie das Relikt einer vergangenen Epoche wirkt.
Im Gegensatz dazu sprechen ihre Tochter Nancy und ihre Erzfeindin Wanda mit der Verwendung neuer Medien und sinnlich direkt ansprechender Präsentation den Geschmack des modernen Publikums viel direkter an. Das vorhersehbare Ende macht aber auch deutlich, wie schnell eine mühsam aufgebaute Karriere aufgrund von Selbsttäuschung und Fehleinschätzung in Sekundenschnelle zu Staub zerfallen kann.
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