William Boyd – „Trio“

Sonntag, 28. März 2021

(Kampa, 432 S., HC) 
Während ihr Mann Reggie im Sommer 1968 im britischen Brighton den Film mit dem schwülstigen Titel „Emily Bracegirdles außerordentlich hilfreiche Leiter zum Mond“ abgedreht, lässt sich seine Frau Elfrida Wing mal wieder einen neuen Romantitel einfallen. Seit sie vor zehn Jahren mit „Das große Spektakel“ ihren letzten Roman veröffentlichte, ist sie zu nichts anderem mehr fähig gewesen, als ihr Notizbuch mit möglichen Titeln für einen neuen Roman zu füllen, doch der einmal thematisierte und dann stets wiederholte Vergleich ihrer Werke mit denen von Virginia Woolf hat ihre eigene Produktivität letztlich zum Erliegen gebracht und sie in den Alkohol getrieben. Talbot Kydd produziert den Film, frönt dabei seinem Hobby der Fotografie, mit der er seine geheimen homosexuellen Neigungen ausleben kann. Die Dreharbeiten verlaufen allerdings nicht reibungslos. 
Die 28-jährige Hauptdarstellerin Anny Viklund beginnt eine Affäre mit ihrem Filmpartner Troy, einem Pop-Sänger, dessen abknickende Karriere durch den Film wieder in Schwung kommen soll. Als Annys Liebhaber, der französische Philosoph Jacques Soldat, überraschend am Set auftaucht, braucht er nur die beiden bei ihrem Filmkuss zu beobachten, um zu begreifen, dass die beiden etwas miteinander haben. Doch richtig kompliziert wird es für Anny, als ihr Ex-Mann Cornell Weekes nach seiner Flucht aus dem Gefängnis ebenfalls bei ihr auftaucht und sie um Geld bittet, damit er für immer untertauchen und aus ihrem Leben verschwinden kann. 
Als das FBI den flüchtigen Terroristen jedoch festnehmen kann und das Bargeld bei ihm entdeckt, droht die ganze Filmproduktion zu kippen. Elfrida, die zunächst noch mit großem Elan für ihren Roman über Virginia Woolfs letzten Tag ihres Lebens recherchiert, entdeckt, dass ihr ohnehin treuloser Mann eine Affäre ausgerechnet mit der zusätzlich an Bord geholten Drehbuchautorin Janet unterhält, was sie mehr als sonst erschüttert und zu alkoholinduzierten Halluzinationen führt … 
„Ich bin am Ende meiner Kräfte, gestand Elfrida sich ein, völlig am Ende. Ihre Ehe war eine schmähliche Farce, und sie war offenkundig nicht in der Lage, mehr als ein paar Zeilen jenes Romans zu Papier zu bringen, der sie doch retten, die Jahre des Schweigens ungeschehen und ihren Ruhm wiederbeleben sollte. Zu allem Überfluss war ihr Arm von winzigen Parasiten befallen, die sich an ihrer Haut gütlich taten. Das war mehr, als ein Mensch ertragen konnte.“ (S. 350) 
Mit seinem neuen Roman „Trio“ taucht der in Ghana als Sohn schottischer Eltern und dann in Großbritannien aufgewachsene Bestseller-Autor William Boyd in die schillernde Welt einer Filmproduktion ein, zeigt aber von Beginn an auf, mit welch inneren Dämonen seine drei Hauptakteure zu kämpfen haben, auf die sich der Romantitel bezieht. Während die Schriftstellerin Elfrida Wing aber eher ihren eigenen, einsamen, durch freigebigen Wodka-Genuss vermeintlich leichteren Kampf gegen ihre Schreibblockade ausficht und sich durch ihre Recherche zum Selbstmord von Virginia Woolf selbst in eine ähnlich selbstzerstörerische Lage manövriert, sind die Beziehungen der Filmleute untereinander etwas komplizierter gestrickt. Dabei reichen Boyd nur wenige Hinweise auf die Machenschaften hinter den Kulissen, wo sich mit Geld und Erpressung alles regeln lässt, wo Stunt-Doubles für ausgerissene Hauptdarsteller etwas mehr eingesetzt werden als geplant und der ehemalige Pop-Star und Hauptdarsteller im Abspann des Films noch einen Titel singen darf, damit seine Karriere auch wirklich wieder einen Schub nach vorn bekommt. 
Auch wenn der Autor es versäumt, den interessanten Hintergrund der 1968er Bewegung mehr in seinem Plot zu berücksichtigen und auch nicht besonders tiefsinnig bei der Ausgestaltung seiner Figuren vorgegangen ist, ist ihm mit „Trio“ ein durchweg vergnüglicher Roman gelungen, der die moralischen Verfehlungen seiner Anti-Helden ebenso locker abhandelt wie die kurzfristigen Änderungen im Drehbuch und bei der Produktion. 
Am Ende spielen die drei Figuren nicht nur ihre Rollen als Kulturproduzenten, sondern auch in ihrem eigenen Leben. Boyd bringt diese anstrengenden Rollenwechsel ebenso ironisch wie temporeich voran, verändert durch kurze Kapitel stets die Erzählperspektiven und wirbelt so furios durch die teils tragisch verlaufenden Schicksale des Trios. 

John Grisham – „Der Regenmacher“

Dienstag, 23. März 2021

(Hoffmann und Campe, 576 S., HC) 
Nach den fünf – allesamt verfilmten! – Bestsellern „Die Jury“, „Die Firma“, „Die Akte“, „Der Klient“ und „Die Kammer“ legte John Grisham 1995 (zwei Jahre später in deutscher Übersetzung) mit „Der Regenmacher“ seinen nächsten großen Wurf vor. Mehr noch als in seinen vorangegangenen Werken inszeniert der ehemalige Rechtsanwalt und Abgeordnete den juristischen Kampf eines noch jungen und unerfahrenen Anwalts gegen einen mächtigen, mit scheinbar unbegrenzten finanziellen Mitteln ausgestatteten Konzern. 
Gegen den Willen seines Vaters, einem ehemaligen Marineinfanteristen und Ingenieur, der seinen Sohn wegen Insubordination schon auf eine Militärschule zu schicken beabsichtigt hatte und eine immense Abneigung gegen Anwälte empfand, entschloss sich Rudy Baylor schon früh, selbst Anwalt zu werden. Ironischerweise kam sein Vater ums Leben, nachdem er von einer Leiter gefallen war, diese seine Firma verkaufte. Seine Mutter heiratete einen pensionierten Postbeamter, mit dem sie die 50.000 Dollar aus der Lebensversicherung mit Reisen in ihrem Winnebago durchbrachte. 
Im letzten Semester seines Jurastudiums belegt Rudy ausschließlich Vorlesungen, die nicht mit großer Arbeit verbunden sind, darunter das Seminar zu juristischen Problemen älterer Leute. Hier muss sich Rudy nur regelmäßig mit seinen Kommilitonen ins Cypress Gardens Senior Citizens Building begeben, um sich mit wirklichen juristischen Problemen wirklicher Menschen auseinanderzusetzen. Rudy bekommt es zunächst mit Miss „Birdie“ Birdsong zu tun, die ihr Testament zu ändern beabsichtigt. Ihrem derzeit gültigen Testament zufolge hat sie zwanzig Millionen Dollar zu verteilen, doch die bisher begünstigten Söhne und Enkelkinder sollen nun aus dem Testament gestrichen werden. Stattdessen soll der Großteil ihres Vermögens einem Fernsehprediger zugutekommen. Da Rudy völlig abgebrannt ist und er bislang vergeblich einen Job in einer der Anwaltskanzleien in Memphis an Land ziehen konnte, nimmt er Miss Birdies Angebot an, für eine sehr geringe Miete bei ihr in einer eigenen Wohnung auf ihrem Grundstück zu wohnen und sie dafür bei ihrer Gartenarbeit zu unterstützen. Viel mehr Kopfzerbrechen bereitet Rudy allerdings ein anderer Fall, der an ihn herangetragen wird: Dot und Buddy Black berichten ihm, dass ihr Sohn Donny Ray an Leukämie erkrankt sei, doch obwohl sein Zwillingsbruder der ideale Spender für eine lebensrettende Knochenmarktransplantation wäre, habe es die Versicherungsgesellschaft Great Benefit mehrmals strikt abgelehnt, die Kosten in Höhe von 200.000 Dollar für die Operation zu übernehmen, obwohl dieser Eingriff in dem Vertrag nicht ausgeschlossen sei. Rudy holt sich Rat bei Professor Max Leuberg, der einen leidenschaftlichen Hass auf Versicherungsgesellschaften verspürt und in der Vergangenheit mit Verfahren zu tun gehabt habe, bei denen die Geschworenen die Versicherungen zu horrenden Strafen verurteilt hätten. 
Tatsächlich scheint dieser Fall zum Himmel zu stinken. Je mehr Rudy und seine Helfershelfer im Sumpf wühlen, desto mehr kommen sie einem ungeheuerlichen System auf die Spur, bei dem Great Benefit grundsätzlich alle größeren Ansprüche abweist und sich nur bei den Fällen auf eine Zahlung einlässt, wenn ihre Kunden mit Anwälten drohen. Da weder die Blacks noch Rudy sich auf einen Vergleich einlassen wollen, steht Rudy kurz nach seinem bestandenen Examen im Gerichtssaal, um gegen mehrere hochbezahlte, erfahrene Anwälte und ihren offensichtlich mit krimineller Energie vorgehenden Mandanten zu kämpfen … 
„So also sterben die Unversicherten. In einer Gesellschaft voll reicher Ärzte und funkelnder Krankenhäuser und mit den allerneuesten medizinischen Gerätschaften und dieser Unmenge von Nobelpreisträgern in aller Welt ist es empörend, dass jemand wie Donny Ray dahinsiechen muss und ohne angemessene ärztliche Behandlung sterben muss.“ (S. 348) 
John Grisham versteht es, seine Leserschaft schon mit den ersten Seiten zu packen und bis zum fulminanten Finale nicht mehr loszulassen. Indem er erstmals seinen Protagonisten als Ich-Erzähler einsetzt, bekommt das Publikum die Geschichte ausschließlich aus seiner Sicht zu hören, ohne dass beispielsweise beleuchtet wird, was beispielsweise die Gegenseite im Schilde führt. Dadurch hält Grisham die Spannung auf einem konstant hohen Niveau, denn der Leser befindet sich stets auf Augenhöhe mit seinem Helden, für den man nur Sympathie empfinden kann. Grisham und damit sein junger Protagonist nehmen sich viel Zeit, die Fälle von Miss Birdie und den Blacks aufzudröseln, wobei die Testamentsangelegenheit der alten Frau eher amüsantere Züge trägt, während das Schicksal des sterbenskranken Donny Way natürlich auch den Leser auf seine Seite zieht und klar Stellung gegenüber dem Versicherungskonzern bezieht. Allerdings strapaziert Grisham die Schwarz-Weiß-Malerei über Gebühr. 
Bei der Gerichtsverhandlung kommt letztlich keine wirkliche Spannung mehr auf, weil die Beweisführung so einseitig ausfällt, der Richter parteiisch ist und das Management von Great Benefit einfach nur genüsslich vorgeführt wird. Hier hätte ein wenig mehr Ausgewogenheit wesentlich zur Glaubwürdigkeit der Geschichte beigetragen. Davon abgesehen bietet „Der Regenmacher“ einen wunderbaren Einblick in die Nöte junger Prozessanwälte, die sich oft mit recht drögen Fällen abgeben müssen, um überhaupt ihre laufenden Kosten bezahlen zu können. Und natürlich steckt auch eine gute Portion, wenn auch wenig subtile Gesellschaftskritik in diesem Buch, das auf die Verfehlungen großer Konzerne ohne Rücksicht auf Verluste und ohne Blick auf die Menschen, die sie eigentlich vertreten, verweist und den Schutzbedürftigen eine Stimme verleiht. 

 

Paul Auster – „Im Land der letzten Dinge“

Mittwoch, 17. März 2021

(Rowohlt, 200 S., HC) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Paul Auster hat gleich mit seinem Debüt, der 1987 veröffentlichten, aus den Novellen „Stadt aus Glas“, „Schlagschatten“ und „Hinter verschlossenen Türen“ bestehenden „New-York-Trilogie“ international für Aufsehen gesorgt. Noch im gleichen Jahr erschien der kompakte Roman „In The Country of Last Things“, der zwei Jahre darauf in deutscher Übersetzung bei Rowohlt veröffentlicht wurde. In diesem dystopischen Briefroman lässt Auster eine junge Frau namens Anna Blume in einer unbestimmten Zeit und an einem nicht näher benannten Ort verzweifelt nach ihrem Bruder William suchen. Der Journalist wurde von seiner Zeitung vor einiger Zeit in die „Stadt“ geschickt, von wo er wöchentlich Berichte abliefern sollte, historische Hintergründe und Geschichten aus dem Leben, doch nach ein paar kurzen Nachrichten ließ William nichts mehr von sich hören. 
Trotz aller Warnungen macht sich Anna daraufhin auf eine zehntägige Überfahrt mit dem Schiff, findet sich in einer Stadt voller Straßen und hungernden Menschen wieder, die ihrem elenden Leben auf verschiedenen Weisen ein Ende setzen wollen. Entweder schließen sie sich den „Rennern“ an, die sich regelmäßig zusammenfinden, um dann kreuz und quer solange durch die Straßen hetzen, bis sie tot umfallen, oder sie stürzen sich im Rahmen eines öffentlichen Rituals mit dem „Letzten Sprung“ von Hochhäusern. Sie treten Mordvereinen bei und wartet gegen eine geringe Gebühr darauf, von einem ihnen zugeteilten Attentäter ermordet zu werden. 
Wer über mehr Vermögen verfügt, kann sich auch in Euthanasiekliniken begeben, um sich mehr oder weniger luxuriös aus dem Leben zu verabschieden. Das unstete Klima, der allgegenwärtige Hunger, die grässliche Mischung aus Tod, Abfall und Fäkalien, die die Straßen verstopft und die oft gefährliche Art, sich als Materialjäger seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sorgen für eine hoffnungslose Atmosphäre. Einziger Anhaltspunkt für Anna ist die Fotografie eines weiteren Reporters, die ihr Williams Chef auf ihre hoffnungslose Mission mitgegeben hat. 
Es dauert eine Ewigkeit, bis sie diesen Samuel Farr tatsächlich in einer heruntergekommenen Bibliothek entdeckt. Da ist der Mann nur noch ein Schatten im Vergleich zu der längst zerknitterten und ausgeblichenen Fotografie. Anna kommt bei dem Ehepaar Ferdinand und Isabel unter, übersteht in ihrer neuen Bleibe den harten Winter, muss sich aber der Zudringlichkeit des Mannes erwehren. Tags darauf liegt Ferdinand tot in einer Ecke, wird von Isabel und Anna, getarnt als Letzten Sprung, vom Dach des Hauses gestoßen. Als Isabel so schwer erkrankt, dass sie keine Nahrung, dann auch keine Flüssigkeiten aufnehmen und auch nicht mehr sprechen kann, besorgt ihr Anna ein Notizbuch, in das Isabel aber nur noch kurz etwas schreibt, bevor sie stirbt. Anna beschließt, das kaum benutzte Notizbuch zu nutzen, um ihrem alten Jugendfreund einen langen Brief von ihren Erlebnisse und Eindrücken in der „Stadt“ zu berichten, aus der es kein Entkommen zu geben scheint …
„Du siehst, womit man es hier zu tun hat. Nicht nur dass Dinge verschwinden – mit ihnen verschwindet zugleich auch die Erinnerung an sie. Dunkle Bereiche entstehen im Gehirn, und wer sich nicht ständig bemüht, sich die verlorenen Dinge zu vergegenwärtigen, dem kommen sie schnell für immer abhanden.“ (S. 97) 
Es ist nicht nötig, dass Paul Auster in seinem ebenso schmalen wie eindringlichen Roman „Im Land der letzten Dinge“ Orte und Zeiten präzisieren muss. Die lebendige Schilderung dessen, was seine Protagonistin in ihrem Notizbuch als Brief an ihren Jugendfreund über die Zustände in der nach außen hin abgeriegelten „Stadt“ berichtet, führt dem Leser allzu deutlich vor Augen, dass es selbst in unserer zivilisierten Wohlstandsgesellschaft jederzeit zu solch fürchterlichen Lebensumständen kommen kann, wenn beispielsweise von diktatorischen Staaten das Kriegsrecht verhängt worden ist und die Bevölkerung inmitten der Bombentrümmer am Verhungern ist. 
Auster lässt seine junge, aufopferungsvoll nach ihrem verschollenen Bruder suchende Anna Blume so einige Schicksalsschläge einstecken, aber irgendwie gelingt es ihr, all die Jahre zu überleben und Gefährten zu finden, die ihr das beschwerliche Leben angenehmer zu gestalten helfen. Selbst für Wohltätigkeit findet sich immer wieder eine Gelegenheit. Trotz des dystopischen Tons schleicht sich so durch die Augen der Briefschreiberin ein großes Maß an Hoffnung auf eine bessere Welt durch die Geschichte einer Suche, während der unglaubliche Zufälle dafür sorgen, dass es für Anna weitergehen kann. 
Die Warnung, die Auster trotz des Science-Fiction-Gewands seiner Geschichte mit seinem erschreckend realistisch wirkenden Szenario ausspricht, hallt jedenfalls lange nach. 

Stephen King - "Später"

Sonntag, 14. März 2021

(Heyne, 304 S., HC) 
Der neunjährige Jamie Conklin wächst bei seiner alleinerziehenden Mutter Tia in Manhattan auf, wo sie in die Fußstapfen ihres Bruders, den an Demenz erkrankten Literaturagenten Harry, getreten ist. Dank der erfolgreichen „Roanoke“-Reihe des Bestseller-Autors Regis Thomas kommen Mutter und Sohn einigermaßen gut über die Runden, doch dann stirbt Thomas, bevor er den abschließenden Band seiner Reihe abgeschlossen hat. Doch Tia hat eine Lösung für das Problem parat: Außer ihr weiß niemand, dass ihr kleiner Schatz über die Fähigkeit verfügt, tote Menschen zu sehen – wie der kleine Cole in M. Night Shyamalans Mystery-Thriller „The Sixth Sense“. 
Im Gegensatz zum jungen Filmhelden kann Jamie die Verstorbenen aber nur für kurze Zeit in der Nähe des Ortes erkennen, an dem sie gestorben sind, oder bei ihrer Beerdigung bzw. an Lieblingsplätzen. Nachdem Jamie gerade erst dem emeritierten Universitätsprofessor Mr. Burkett verraten konnte, wo seine verstorbene Frau ihre Ringe versteckt hatte, soll der Junge nun von Regis Thomas in Erfahrung bringen, wie die unvollendete Geschichte ausgeht, schließlich gibt es noch einige Geheimnisse zu lösen, die als eine Art Cliffhanger den Erfolg der schlüpfrigen Buchreihe sichergestellt haben. Währenddessen hat sich Tia mit der Polizistin Liz eingelassen, doch als sie Drogen in ihrem Besitz findet, schmeißt Tia die von der Innenrevision ohnehin beobachtete Polizistin wieder vor die Tür. Jamies außergewöhnliche Fähigkeiten kommen aber immer wieder zum Einsatz, vor allem für Liz, die ihre im Niedergang befindliche Karriere wieder in Schwung bringen will, indem sie mit Jamies Hilfe die letzte, noch nicht detonierte Bombe des langjährig gesuchten Attentäters Therriault und schließlich die heiße Ware eines getöteten Drogendealers finden will. 
Im Gegensatz zu allen bisherigen Toten, die nach gut drei Tagen völlig verschwunden sind, wird Jamie von dem verrückten Bombenleger aber weiterhin belästigt … 
„Ich wusste, dass die Toten eine Wirkung auf Lebende haben konnten, das war keine Überraschung, aber immer wenn ich es zuvor gesehen hatte, war die Wirkung minimal gewesen. Professor Burkett hatte den Kuss seiner Frau wie einen Hauch gespürt. Liz hatte gespürt, wie Regis Thomas ihr ins Gesicht gepustet hatte. Aber das, was ich gerade erlebt hatte – die zerplatzende Lampe, der sich zitternd drehende Türknauf, der Kurier, der vom Fahrrad gestürzt war -, das hatte eine ganz andere Dimension.“ (S. 194) 
Stephen King ist nicht nur für apokalyptische Epen wie „The Stand – Das letzte Gefecht“, die Saga um den „Dunklen Turm“ und „Die Arena“ berühmt geworden, er hat auch der literarischen Form der Kurzgeschichte wieder mehr Anerkennung verschafft und sich mit „The Green Mile“ erfolgreich an dem Experiment des Fortsetzungsromans versucht. 
In den vergangenen Jahren hat er gelegentlich auch kürzere Romane verfasst, die er als Hommage an die klassischen Pulp-Krimis versteht und bei Hard Case Crime veröffentlicht hat. Nach „Colorado Kid“ (2005) und „Joyland“ (2013) folgt nun der (vorerst?) abschließende Band „Später“. Dabei ist die Geschichte zunächst nicht besonders originell. Kings Ich-Erzähler, der als Zweiundzwanzigjähriger auf die Ereignisse zurückblickt, die ihm im Alter von neun Jahren widerfahren sind, macht keinen Hehl daraus, dass die Grundidee Shyamalans Horror-Blockbuster entlehnt ist, aber es scheint, dass dem Bestseller-Autor auch nicht in erster Linie an einer typischen Geister-Geschichte gelegen ist, sondern eher an dem mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck kommenden Subtext. 
So wie schon in „Finderlohn“ rechnet King ganz offen mit den dubiosen Praktiken im Literaturbetrieb ab, wo sich Bestseller-Autoren den Gesetzen des Marktes unterwerfen und ihr Publikum mit einer Mischung aus exotischen Abenteuern und Sex unterhalten, wobei sie sich auch gern Ghostwritern bedienen, die dafür sorgen, dass der Strom an verkaufsträchtigen Geschichten nicht versiegt. Darüber hinaus hat King seine Geschichte sicher ganz bewusst in die Obama-Zeit des Jahres 2008 angesiedelt, als der Börsencrash dafür sorgte, dass unzähligen Menschen ihr Zuhause verloren, weil sie Opfer fauler Hypotheken geworden sind. Auch Jamie Conklins Familie war unter den Leidtragenden. Ausführlich lässt King seinen Protagonisten beschreiben, zunächst Onkel Harry, dann auch seine Mutter in einen vermeintlich lukrativen Fonds investierten und alles verloren. 
Daraus resultierend haben sowohl Jamies Mutter als auch ihre Freundin Liz einen extremen Egoismus entwickelt, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Da machen sie eben auch nicht davor Halt, die außergewöhnliche Gabe eines kleinen Jungen mit fast krimineller Energie auszunutzen. Neben diesen gesellschaftskritischen Tönen überzeugt „Später“ aber auch als geschickt konstruiertes Thriller-Horror-Drama, das am Ende ordentlich an Fahrt gewinnt und mit einer feinen Pointe überrascht, auch wenn sie nicht so stark ist wie im vage vergleichbaren Film „The Sixth Sense“.  

Daniel Woodrell – „Der Tod von Sweet Mister“

Samstag, 13. März 2021

(Liebeskind, 192 S., HC) 
Der dreizehnjährige, von seinem Stiefvater Red meist nur als „Fettsack“ bezeichnete Morris „Shug“ Atkins wächst in den Ozarks, dem Hinterland von Missouri, auf und muss Tag für Tag miterleben, wie seine Umwelt vor die Hunde geht. Seine einstmals schöne Mutter Glenda hängt eigentlich nur and er Flasche, nennt den Rum-Cola-Mix, den ihr Shug regelmäßig in eine Thermoskanne abfüllen muss, verniedlichend nur „Tee“, während der nichtsnutzige Red kommt und geht, wie er will. Seinen ungeliebten Stiefsohn nimmt er allerdings auf seinen Raubzügen mit. Während er selbst im Auto wartet, verschafft sich Shug als Verkäufer der Farmer-Zeitung „Grit“ Zugang zu vorher ausgekundschafteten Häusern und klaut schwerkranken Menschen ihre Schmerzmittel. 
Shug empfindet dabei immerhin so viel Mitgefühl, dass er den bettlägerigen Menschen noch ein paar Pillen dalässt, damit ihre Angehörigen rechtzeitig Nachschub besorgen können. Shug ist alles andere als wohl bei diesen Raubzügen, zu denen er aufgefordert wird, doch fehlt ihm die Kraft, dem verhassten Red Paroli bieten zu können. Stattdessen behagt Shug der Gedanke, für seine Mutter mehr als nur ein Kind zu sein. Ihre vertrauten, liebevollen Gesten machen ihm Mut, etwas mehr als mütterliche Zuneigung einzufordern. Doch als sich Glenda in den Koch Jimmy Vin Pierce verguckt, der Glenda und Shug in seinem grünen Thunderbird in schicke Restaurants ausführt und vor allem Glenda von einem anderen Leben träumen lässt, kommt es zur Katastrophe … 
„Eine Weile schwankten die normalen Tage. Manchmal dachte ich, das Haus würde zittern. Es war alles ganz normal, und jeden Tag drängten sich Dinge auf, die nicht normal waren. Ein Haus, das zitterte, warf alles ab. Jimmy Vin hielt sich fern und ließ Glenda mit ihren Gedanken allein; sie war ständig betrunken. Jeden Tag wartete sie auf ihn, versuchte zu lächeln, wartete, wurde immer unruhiger, aber er tauchte nicht auf. Noch vor dem Mittagessen nahm sie ihre silberne Thermoskanne mit ins Schlafzimmer, lag da und fragte ab und zu, ob ich den Thunderbird in der Nähe gesehen hätte.“ (S. 154) 
15 Jahre nach seinem Romandebüt „Cajun Blues“, dem Auftakt seiner „Bayou“-Trilogie, und fünf Jahre vor seinem erfolgreich verfilmten Bestseller „Winters Knochen“ widmete sich der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell 2001 mit „Der Tod von Sweet Mister“ einmal mehr dem White Trash im unwirtlichen Ozark-Plateau. Hier gehen die Menschen kaum geregelten Jobs nach, kümmern sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten und kommen nur durch krumme Dinge über die Runden. 
In dieser trostlosen Welt wächst der als Ich-Erzähler eingesetzte Shug auf, der im Alter von gerade mal dreizehn Jahren mitansehen muss, wie seine Familie vor die Hunde geht. Seine einst hübsche Mutter Glenda, die ihren Sohn auch mal liebevoll „Sweet Mister“ nennt, scheint eher auf die Fürsorge ihres Sohnes angewiesen zu sein als andersherum. In seinem jungen Alter bleibt Shug allerdings nichts anderes übrig, als nach dem Willen der egoistischen Erwachsenen zu tanzen. So geht Shug durch die harte Schule des Lebens. 
„Der Tod von Sweet Mister“ – der doppeldeutige Titel deutet es bereits an – ist eine Coming-of-Age-Geschichte der düsteren Sorte. Echte Zuneigung scheint es unter diesen Hillbillys nicht zu geben, und jeder zarte Versuch, daran etwas zu ändern, endet mit einer Katastrophe. Im Gegensatz zu vielen Horror-Filmen, die im Hillbilly-Milieu angesiedelt sind, wie „Texas Chainsaw Massacre“, „The Hills Have Eyes“ oder „Wrong Turn“, bedient sich Woodrell aber keiner Klischees, sondern erweckt in seiner unnachahmlich fesselnden Sprache seine Figuren zu echtem Leben, ohne sie zu verurteilen. Von Beginn macht der Autor aber auch deutlich, dass es aus diesem Schlammassel keinen Ausweg gibt. Sein dreizehnjähriger Protagonist wird nur herumgeschubst, als Projektionsfläche für die wahre Liebe von seiner Mutter missbraucht, von seinem eigennützigen Stiefvater zu kriminellen Handlungen angestiftet und muss so auf die harte Tour lernen, wie die Welt der Erwachsenen tickt und sich dreht. Ein Happy End kann es in dieser rauen Welt, in der es den Menschen an allem mangelt, nicht geben. 

Daniel Woodrell – „In Almas Augen“

Donnerstag, 11. März 2021

(Liebeskind, 188 S., HC) 
Im Sommer 1929 kommt es in einer Kleinstadt in Missouri während einer Tanzveranstaltung in der Arbor Dance Hall zu einer nie aufgeklärten Explosion, bei der am Ende 42 Menschen ihr Leben verloren. Vor allem die Haushälterin Alma DeGeer Dunahew lassen die schrecklichen Ereignisse ihr Leben lang nicht los, schließlich verlor sie auch ihre geliebte Schwester Ruby in den Flammen. Ihr Enkel Alek ist zwölf, als er den Sommer 1965 bei ihr verbringt und die Geschichte aus ihrem Mund zu hören bekommt. 
Sofort ist der Junge fasziniert, schließlich handelt es sich um eine aufregende Geschichte um Feuer, Flammen und Tod. Es gab viele Tote, aber wenige Verdächtige, ein Rätsel, das nie gelöst wurde. Doch Alma, die weder „Großmutter“ noch „Omama“ genannt werden wollte, hat ihre eigene Theorie, wer hinter dem Unglück gesteckt haben könnte. Alma, so berichtet der Ich-Erzähler Alek, hatte die Schule nur bis zum Ende der dritten Klasse besuchen dürfen, hat sich auf den Feldern ihres gewalttätigen Vaters Cecil DeGeer abgerackert, um dann als Dreizehnjährige in die Stadt zu entfliehen und dort Jobs als Köchin, Wäscherin und Dienstmagd anzutreten.
 Sie hatte ein entbehrungsreiches, von Enttäuschungen und Verlusten geprägtes Leben hinter sich, heiratete den alkoholsüchtigen Nichtsnutz Buster, bekam drei Kinder, verlor aber zwei von ihnen. Bei ihren gemeinsamen Spaziergängen durch die Stadt gab Alma stets Episoden aus ihrem Leben dort zum Besten. Am ausführlichsten berichtete Alma von ihrem Leben als Magd bei der einflussreichen Bankiersfamilie Glencross. Im Gegensatz zu ihr selbst verstand es ihre zehn Jahre jüngere Schwester Ruby, ihr attraktives Äußeres und ihren Charme gekonnt einzusetzen, um die Herzen jener gut gestellten Männer zu betören, die sie mit Geschenken überhäuften, bis sich spendablere Männer fanden. Schließlich begann sie eine Affäre mit dem verheirateten Arthur Glencross – mit offenbar tödlichen Folgen. Alma ist über diesen Verlust nie hinweggekommen. 
„Sie ließ sich aus reiner Vergesslichkeit die Haare wachsen, bis sie zu lang für die Küchenarbeit waren; ihre Gedanken richteten sich nun schon so viele Wochen und Monate auf anderes, doch als sie in einem Badezimmerspiegel die volle Haarlänge sah, beschloss sie auf der Stelle, sie für immer wachsen zu lassen. Sie hatte die heilige Eingebung, dass Haar von geradezu unwirklicher Länge eine öffentliche, hingebungsvolle Ehrung der Toten wäre, der Toten und ihrer eigenen Mission, für die Gestorbenen Gerechtigkeit oder Rache zu erwirken, das eine oder das andere, aber am liebsten beides.“ (S. 115f.) 
Der US-amerikanische Schriftsteller Daniel Woodrell ist ein Meister der geschliffenen Sprache. Das hat er mit seiner „Bayou“-Trilogie ebenso bewiesen wie mit den erfolgreich verfilmten Bestsellern „Wer mit dem Teufel reitet“ und „Winters Knochen“ sowie dem mit dem P.E.N. ausgezeichneten Roman „Tomatenrot“. In dem 2014 auch auf Deutsch erschienenen Roman „In Almas Augen“ erzählt er weniger einen auf wahren Begebenheiten beruhenden Krimi oder die Biografie einer alten Frau, die zu viel Schreckliches in ihrem Leben verarbeiten musste, sondern letztlich das Portrait einer Kleinstadt in den Ozarks, Missouri, wo Woodrell auch seine Romane „Winters Knochen“ und „Der Tod von Sweet Mister“ spielen lässt. Nicht von ungefähr spielen die Ereignisse im Jahr 1929, als der New Yorker Börsencrash die Schere zwischen Arm und Reich noch stärker auseinanderklaffen ließ. 
Auch wenn Woodrell einen Ich-Erzähler einsetzt und durch ihn zunächst die Lebensgeschichte dessen Großmutter präsentieren lässt, erweist sich „In Almas Augen“ als ein vielschichtiges Potpourri von Einzelschicksalen. Da ist die fünfzehnjährige Dimple Powell, die schon ein ganzes Jahr lang in ihrem Zimmer tanzen geübt hatte und hoffte, auf dem Fest von Jungs auch zum Tanzen aufgefordert zu werden, oder Mr. Lawrence Meggs, der stets Säcke mit Lockfutter in die Bäume am Rand seines Hofs hängte und im Alter von siebzehn Jahren bei seinen Cousins in Cousins zwei Laster kennenlernte, denen er bis heute frönt, dem Alkohol und den Frauen. Es gibt den unfähigen Prediger und den Bankräuber, der sich Irish Flannigan nannte. Woodrell reiht die oft nur kurze Kapitel umfassenden Einzelschicksale in nicht chronologischer Reihenfolge aneinander und entwirft so ein komplexes Panorama eines Kleinstadtlebens, das sich letztlich auf eine unglückselige Liebesgeschichte mit fatalen Folgen reduzieren lässt. 
Wer sich auf die vielen Sprünge zwischen Zeiten und Figuren einlassen mag, wird mit einer großartig erzählten Geschichte belohnt, die jede Konvention sprengt, dafür den Leser mit scharfsinnigen Beobachtungen und entfesselter Sprachgewandtheit verwöhnt.  

Daniel Woodrell – „Winters Knochen“

Sonntag, 7. März 2021

(Liebeskind, 224 S., HC) 
Als ihr Vater, der weithin bekannte Meth-Kocher Jessup Dolly, nicht wie versprochen mit einer Tüte voller Geld und schöner Sachen zurückkommt, nachdem er sich mit seinem blauen Capri auf den Weg gemacht hatte, liegt es an der gerade mal sechzehnjährigen Ree, die Familie zu versorgen. Dabei fehlt es der in ärmlichen Verhältnissen im Hinterland von Missouri lebenden Familie an allem. Während ihre katatonische Mutter sich um nichts mehr kümmern kann, sorgt Ree dafür, dass ihre jüngeren Brüder Harold und Sonny zu essen bekommen und zur Schule gefahren werden. 
Von Deputy Baskin erfährt Ree, dass Jessup einmal mehr angeklagt wird, in einer Woche zu seinem Gerichtstermin erscheinen muss, doch nirgends aufzufinden ist. Sollte er zu dem Termin nicht erscheinen, verfällt die gestellte Kaution, für die Jessup das Haus und den angrenzenden Wald verpfändet hat. Um das Heim ihrer Familie nicht zu verlieren, bleibt Ree nichts anderes übrig, als nach ihrem Vater zu suchen. 
Sie fängt bei Jessups älteren Bruder, Onkel Teardrop, doch wird ihr auch auf den weiteren Stationen ihrer Suche unmissverständlich klar gemacht, dass sie besser ihre Finger von der Sache lässt. Von Merab Milton und ihren Schwestern wird sie sogar brutal zusammengeschlagen. Schließlich kann Onkel Teardrop gerade noch Schlimmeres verhindern. Ree kommt immer mehr zu der Überzeugung, dass ihr Vater tot ist, doch um das zu beweisen und damit ihr Zuhause zu retten, muss sie die Leiche finden, so zerschunden ihr Körper und angegriffen ihre Psyche auch sein mag … 
„Alles Mögliche tanzt einem im Kopf herum, meist nicht jene Erinnerungen, die man mit ganz bestimmten Gedanken zurückzurufen versucht hat, doch meist holen selbst die ungewollt tänzelnden Gedanken Gefühle herbei, locken sie hervor oder lassen zumindest ein Gewirr davon zurück. Weiß legte sich auf das Fensterbrett, Schneeflocken stolzierten umher, wehten gegen die Glasscheiben, und Ree tastete mit der Hand auf dem Fußboden herum, schüttelte eine weitere blaue Tablette heraus, lehnte sich zurück und wartete auf das schwarze Loch.“ (S. 187) 
Nachdem der in St. Louis und Kansas City aufgewachsene Daniel Woodrell seinen freiwilligen Dienst bei den Marines und das College absolviert hatte, nahm er am renommierten Iowa Writers' Workshop teil und lieferte 1986 sein Romandebüt „Cajun Blues“ ab, den ersten Teil seiner Bayou-Trilogie. Sein Roman „Wer mit dem Teufel reitet“ wurde ebenso verfilmt (1999 durch Ang Lee) wie das vorliegende Buch 2010 durch Debra Granik mit Jennifer Lawrence in der Hauptrolle. 
Obwohl die Geschichte gerade mal 220 Seiten umfasst, packt sie den Leser von der ersten Seite an. Das ist vor allem Woodrells kraftvoller, farbenprächtiger Sprache zu verdanken, aber schließlich hat er mit der leiderprobten Teenagerin Ree auch eine charismatische, kämpferische und willensstarke Protagonistin geschaffen, die sich nicht nur aufopferungsvoll um ihre Familie kümmert, sondern auch unbeirrt nach ihrem verschollenen Vater sucht, wobei sie sich nicht mal von der brutalen Behandlung durch ihre entfernte Verwandtschaft abschrecken lässt. 
Dem Autor gelingt es, die von Hügeln und Tälern geprägte Landschaft der Ozarks wunderbar zur Geltung zu bringen und die oft unwirtlichen Verhältnisse mit den schwierigen Charakteren des White-Trash-Milieus zu verknüpfen. Hier fügen sich Sittenzusammengehörigkeit und Verdorbenheit zu einem schicksalhaften Gemisch, das eigentlich kein Happy End hervorbringen kann. So unerbittlich kalt die Natur sich hier im Winter präsentiert, so hart gehen auch die dort lebenden Menschen miteinander um, die sich allesamt mit illegalen Aktivitäten ihren Lebensunterhalt verdienen oder davon profitieren wie die Kautionsagenten. Unter diesen Bedingungen lässt es sich nur leben, wenn die strengen Regeln der eingeschworenen Gemeinschaft eingehalten werden, oder man stark genug ist, für die eigenen Überzeugungen durch die Hölle zu gehen.  

David Baldacci – (Amos Decker: 4) „Downfall“

Donnerstag, 4. März 2021

(Heyne, 528 S., HC) 
Da Amos Decker, verwitweter und nach wie vor alleinstehender Special Agent beim FBI, nicht weiß, wie er den von seinem Chef Bogart verordneten Zwangsurlaub von seinem Dienst in der Sondereinheit in Washington verbringen soll, nimmt er die Einladung seiner Partnerin Alex Jamison an und begleitet sie zu ihrer Schwester Amber nach Baronville ins nördliche Pennsylvania. Dort feiert Alex‘ Nichte Zoe ihren sechsten Geburtstag. Amber und Zoe sind erst vor kurzem in die einst blühende Bergbaustadt gezogen, die ihren Namen den Barons verdankt, die in der Stadt etliche Minen und Fabriken gegründet haben. Doch von dem alten Glanz ist nicht mehr viel übrig geblieben. Die Minen und Fabriken sind geschlossen, etliche Häuser stehen nach ihrer Zwangsversteigerung leer. Amber und Zoe sind erst vor kurzem in die Stadt gezogen, weil Ambers Mann einen gut bezahlten Job als Manager im neuen Logistikzentrum bekommen hat. 
Kurz nach seiner Ankunft im Haus der Mitchells bemerkt Decker im Nachbarhaus ein seltsames Flackern und geht mitten im aufziehenden Sturm dem Ursprung nach. Schließlich entdeckt er einen Kurzschluss als Ursache der merkwürdigen Lichtblitze, die auslösende Flüssigkeit, die mit freiliegenden Leitungen in Berührung gekommen ist, entpuppt sich allerdings als Blut. Doch Decker und die ihm nachgeeilte Jamison entdecken noch mehr, ein Mann hängt von der Decke, doch weist er keine äußeren Verletzungen auf. Bei der weiteren Durchsuchung des Hauses entdeckt Decker im Keller eine weitere Leiche, einen Mann im Keller – in Polizeiuniform. 
Als die örtliche Polizei eingeschaltet wird, wollen die Detectives Marty Green und Donna Lassiter nichts von einer Unterstützung durch das FBI wissen, doch Decker lässt sich in seinem Urlaub nicht davon abbringen, auf eigene Faust zu ermitteln. Als ein weiterer Doppelmord an verdeckt ermittelnden DEA-Agenten entdeckt wird, übernimmt die DEA die Ermittlungen, wobei die leitende Agentin Kemper aber die Beteiligung der beiden FBI-Agenten duldet. Decker nimmt sich die drei einzigen Nachbarn in der Nähe des Tatorts vor und erfährt, dass mit dem mittlerweile verarmten John Baron nur noch ein Nachfahre des Baron-Clans in der Stadt lebt. Obwohl er in der Befragung verneint, auch nur eine der getöteten Personen zu kennen, finden Decker & Co. bald heraus, dass dem nicht so ist. Baronville scheint fest in der Hand eines boomenden Handels mit Opiaten zu sein, die Bewohner einen immensen Hass gegen den in der Stadt verbliebenen John Baron zu verspüren. 
Decker glaubt jedoch nicht, dass Baron für die Morde verantwortlich ist, die ihm offensichtlich in die Schuhe geschoben werden sollen, doch bei seinen Ermittlungen bringt er sich selbst in die Schusslinie der skrupellosen Drogenhändler … 
„Ging es hier nur um Drogen? Viele Menschen waren wegen Drogen gestorben. Und allen Berichten zufolge befand sich Baronville in den Klauen derselben Opioid-Krise, die auch andere Teile des Landes terrorisierte. Anscheinend waren er und Jamison mittendrin gelandet.“ (S. 228) 
Seit Lee Child mit seinem charismatischen Ex-Militärpolizei-Ermittler Jack Reacher den Prototyp des einzelgängerischen Super-Ermittlers etabliert hat, sind auch Bestseller-Autor David Baldacci einige interessante Figuren in den Sinn gekommen, die er in verschiedenen Reihen zum Zuge kommen lässt. Ein besonderes Highlight stellt dabei die Serie um den „Memory Man“ Amos Decker dar, einem 1,95 Meter großen Hünen, der seit einer schweren Kopfverletzung beim Football über ein fotografisches Gedächtnis verfügt und zudem bestimmte Farben mit Zahlen, Orten, Gegenständen oder Emotionen verbinden kann. Vor allem sein fotografisches Gedächtnis kommt Decker auch in „Downfall“ zugute. Ähnlich wie Lee Child seinen Protagonisten immer wieder an abgelegenen Orten ungewöhnliche Fälle lösen lässt, schickt auch Baldacci hier Decker an einen an sich unscheinbaren, eher heruntergekommenen Ort, wo sich gleich mehrere untypische Todesfälle ereignen. Der Autor inszeniert dabei einen raffiniert und dich gewobenen Plot, der nicht nur DEA, FBI und örtliche Polizei – mit den üblichen Vorbehalten gegenüber der jeweils anderen Behörden - gemeinsam ermitteln lässt, sondern auch ein typisches Bild amerikanischer Städte zeichnet, die einst von dem Zustrom an Arbeitern zu den neu gegründeten Fabriken profitiert haben und dann durch den Niedergang der Industrie und die Bankenkrise von Leerstand, Armut und Drogenabhängigkeit heimgesucht wurden. 
Vor diesem Hintergrund bietet „Downfall“ einen hochkomplexen Kriminalfall mit ebenso vielen Opfern und Tätern, und nach und nach ist es natürlich vor allem Decker, der die nach und nach freigelegten Puzzleteile zu einem ebenso stimmigen wie verstörenden Gesamtbild zusammenfügt. Neben dem durchweg fesselnden Kriminalfall räumt Baldacci seinem außergewöhnlichen Ermittler aber auch einige persönliche Momente ein, denn eine weitere Kopfverletzung während seiner Zeit in Baronville lässt ihn nun auch empathischer für das Schicksal seiner Mitmenschen werden. 
So präsentiert sich „Downfall“ als perfekter Thriller, den man nicht mehr aus der Hand legen mag!