Jo Nesbø – (Harry Hole: 4) „Fährte“

Sonntag, 22. September 2019

(Ullstein, 576 S., Tb./eBook)
Harry Hole sucht an einem Freitagnachmittag im Oktober die Bankfiliale an der Osloer Bogstadvei auf, als er Zeuge wird, wie Männer in identischen, dunklen Overalls auf den Schalter von Stine Grette zugehen und auf die Öffnung der Geldautomaten drängen. Doch als der Bankraub schon vorüber war und die Täter mit ihrer Beute nur noch verschwinden müssen, beobachtet Harry, wie einer der Bankräuber Stine Grette etwas ins Ohr flüstert und beobachtet, wie ihr die Bedeutung seiner Worte bewusst werden, bevor er sie erschießt. Dieser brutale Überfall stellt aber nur den Anfang einer ganzen Reihe von Bankrauben dar, die dem sogenannten „Exekutor“ zugeschrieben werden. Während der Fall zunächst an den Leiter des Raubdezernats, Rune Ivarsson, geht, sind Holes Gedanken noch immer bei seiner ermordeten Freundin und Kollegin Ellen Gjelten, deren Tod nach Holes Meinung noch immer nicht aufgeklärt ist. Dafür war ihm sein Kollege Tom Waaler zu schnell am Tatort gewesen, um den des Mordes verdächtigten Neonazi Sverre Olsen im Feuergefecht zu erschießen.
Da der politisch gut vernetzte Ivarsson aber keine Ergebnisse im „Exekutor“-Fall aufweisen kann, stellt Hole mit der Videoanalystin Beate Lønn eigene Ermittlungen an. Er gelangt schließlich zu der Auffassung, dass der Banküberfall an gut getarnter Mord gewesen ist. Doch bevor sich Hole näher mit dem Fall befassen kann, gerät er selbst in den Fokus einer anderen Ermittlung: Während seine Lebensgefährtin Rakel in Moskau vor Gericht versucht, das Sorgerecht für ihren Sohn Oleg zu bekommen, trifft sich Hole mit seiner alten Geliebten Anna. Allerdings erwacht Hole nach einem Filmriss auf der Treppe vor ihrer Wohnung und kann sich nicht erinnern, warum Anna sich in ihrem Bett umgebracht haben sollte. Hole verschweigt den Ermittlern, dass er der Letzte gewesen sei, der Anna vor ihrem Tod lebend gesehen hat, und wird mit geheimnisvollen Emails traktiert, deren Absender genauestens über die Tat Bescheid zu wissen scheint.
„In zwei Tagen sollte Anna beerdigt werden, und niemand zweifelte daran, dass sie durch ihre eigene Hand zu Tode gekommen war. Der Einzige, der dort gewesen war und ihnen hätte widersprechen können, war er selbst, doch er konnte sich an nichts erinnern. Weshalb konnte er es dann nicht einfach auf sich beruhen lassen? Er hatte alles zu verlieren und nichts zu gewinnen. Und eins kam noch hinzu: Warum konnte er die Sache nicht einfach vergessen, um Rakel und seiner selbst willen?“ (Pos. 1533) 
In seinem vierten Harry-Hole-Roman dreht der in Oslo lebende Jo Nesbø groß auf. Norwegens erfolgreichster Autor lässt seinen prominenten, alkoholsüchtigen Antihelden wieder auf eine waschechte Krise zusteuern, denn nachdem bereits drei Frauen aus Holes früheren Leben sich entweder selbst getötet haben oder umgebracht worden sind, setzt ihm auch Annas Tod mächtig zu. Um den „Exekutor“-Fall zu lösen, lässt sich Hole auf ein gefährliches Spiel mit dem Bankräuber Raskol Baxhet ein, der sich überraschenderweise selbst gestellt hat und einige Bedingungen im Gegenzug für seine Hilfe stellt. Um zu seinem Ziel zu gelangen, muss Hole schon ein besserer Spieler sein als Raskol.
Nesbø erweist sich als raffinierter Meister komplexer Handlungsstränge, die er diesmal aber stringenter entwickelt als im vorangegangenen Band „Rotkehlchen“. Indem er den für Harry Hole noch unaufgeklärten Mord an dessen Kollegin Ellen Gjelten aufgreift, nimmt Nesbø nicht nur den Faden des Vorgängers auf, sondern entwickelt für Hole unangenehme Parallelen zum Tod seiner früheren Geliebten Anna. Geschickt verwebt der Autor Harry Holes Bemühungen, sowohl Annas Mörder als auch den „Exekutor“ zu identifizieren, legt eine Fährte, die sowohl nach Afrika als auch nach Brasilien führt, und jongliert so souverän mit überraschenden Wendungen, dass die Spannung auf einem sehr hohen Level gehalten wird. Dadurch, dass Harry Holes derzeitige Lebensgefährtin in Moskau verweilt, konzentriert sich Holes Gefühlsleben eher auf die Beziehung, die er mit Anna geführt hat, aber auch in anderer Hinsicht macht Nesbø immer wieder deutlich, dass Harry Hole zwar ein begnadeter Ermittler ist, aber nach wie vor eine zutiefst gebrochene Persönlichkeit, die sich immer wieder selbst aus dem alkoholindizierten Sumpf ziehen muss. Mit psychologischem Feingefühl und sorgfältiger Figurenzeichnung gelingt Nesbø mit „Fährte“ ein großartiger, vielschichtiger und extrem spannender Krimi, der gekonnt mit immer neuen Überraschungen aufwartet.
Leseprobe Jo Nesbø - "Fährte"

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