Dennis Lehane – „Spur der Wölfe“

Samstag, 27. Juni 2020

(Ullstein, 511 S., HC)
Boston im Jahr 1975. Die drei elfjährigen Freunde Sean Devine, Jimmy Marcus und Danny Boyle stammen allesamt aus dem Stadtteil East Buckingham, doch während Jimmy und Danny in den „Flats“ unten am Penitentiary-Kanal südlich der Buckingham Avenue wohnen, lebt Sean im nördlich der Avenue gelegenen „Point“, wo die Menschen die besseren Jobs hatten und nicht zur Miete lebten, sondern als Eigentümer. Sean, Jimmy und Danny haben es letztlich ihren Vätern zu verdanken, dass sie überhaupt Freunde geworden sind. Doch das spielerische Feixen und Boxen auf der Straße im Point findet ein jähes Ende, als ein dunkelbraunes Auto auf ihrer Höhe anhält, der eine der zwei Männer aussteigt und die Jungs zur Räson bringt.
Als der Mann, der für die Jungs wie ein Cop aussieht, nach ihren Adressen fragt und erfährt, dass Danny aus den Flats stammt, fordert er ihn auf einzusteigen. Vier Tage lang wird der Junge vermisst, wird von den beiden Männern missbraucht, kann schließlich fliehen und kehrt für immer verändert zurück. 25 Jahre später holt die Vergangenheit die einstmaligen Freunde wieder ein. Jimmy, der bereits im Alter von siebzehn Jahren eine Gang angeführt hat und nach einigen raffinierten Einbrüchen eine mehrjährige Haftstrafe absitzen musste. Seit seiner Freilassung hat er sich scheinbar ein rechtschaffenes Leben aufgebaut. Schließlich konnte er während seiner Haft nicht bei seiner ans Krebs sterbenden Frau sein, was ihn schwer mitgenommen hat.
Deshalb setzt er nun alles daran, für seine Familie da zu sein, für seine neue Frau Annabeth ebenso wie für seine beiden Töchter Nadine und Katie. Er unterhält einen kleinen Eckladen, mit den beiden Savage-Brüdern aber auch weiterhin „andere“ Geschäfte. Ausgerechnet an Nadines Erstkommunion wird die 19-jährige Katie aber ermordet im Penitentiary-Park aufgefunden.
Es wird Sean Devines erster Fall nach seiner einwöchigen Suspendierung bei der Mordkommission der State Police. Wie seine Ermittlungen ergeben, hat Katie in ihrer Todesnacht mit ihren beiden Freundinnen Diane und Eve im McGills ausgelassen gefeiert. Am nächsten Morgen wollte sie mit ihrem heimlichen Freund Brendan Harris nach Las Vegas durchbrennen, um zu heiraten, doch verliert sich danach ihre Spur. Dave Boyle war einer der letzten, der Katie im McGills lebend gesehen hat. Er tauchte mitten in der Nacht mit schwer verletzter Hand und einer Schnittwunde am Bauch zuhause auf und erzählte seiner Frau Celeste, dass er möglicherweise einen Mann umgebracht habe. Celeste kommen allerdings Zweifel an der Geschichte ihres Mannes, die sie ausgerechnet mit Jimmy teilt, der nur von dem Wunsch getrieben ist, den Mörder seiner Tochter zu bestrafen.
„Ich werde den Mann finden, der dich da unten auf den Tisch gebracht hat, und ich werde ihn vernichten. Und seine Angehörigen – wenn er welche hat – werden größeren Kummer empfinden als die deinigen, Katie. Weil sie niemals Gewissheit besitzen werden, was mit ihm geschehen ist. Und mach dir keine Gedanken darüber, ob ich dazu fähig bin, mein Schatz. Daddy ist dazu fähig. Du wusstest es nicht, aber Daddy hat schon einmal getötet. Daddy hat getan, was zu tun war. Und er kann es wieder tun.“ (S. 333)
Nachdem der aus Boston stammende Dennis Lehane in den 1990er Jahren mit fünf Krimis seiner Reihe um die beiden Privatermittler Kenzie und Gennaro u.a. mit dem Shamus Award für den besten Erstlingsroman und dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet worden war, legte er 2001 mit „Mystic River“ seinen ersten Roman jenseits seiner populären Krimi-Reihe vor und präsentierte ein zutiefst verstörendes, psychologisch fein gezeichnetes Kriminal-Drama, das Clint Eastwood zwei Jahre später kongenial mit Stars wie Sean Penn (als Jimmy Marcus), Kevin Bacon (als Sean Devine) und Tim Robbins (als Dave Boyle) verfilmte.
Lehane erweist sich in „Mystic River“ (das hierzulande zunächst unter dem Titel „Spur der Wölfe“ veröffentlicht wurde) als Meister detaillierter Milieuzeichnungen. Ein Großteil des Dramas bezieht seine Tragik nämlich aus den Unterschieden zwischen der in den Flats lebenden Arbeiterklasse und den im Point lebenden Angestellten mit den besseren Jobs. Minutiös zeichnet der Autor die Lebensgeschichten der drei Protagonisten nach, nutzt den Zeitsprung von 25 Jahren zwischen Daves Entführung und den nicht näher beschriebenen Ereignissen, denen der Elfjährige vier Tage lang ausgesetzt war, und den Ereignissen der Ermordung von Jimmys ältester Tochter Katie, um die Biografien von Jimmy, Sean und Dave aufzuarbeiten.
Ähnlich wie sein Publikum lässt Lehane auch die beteiligten Figuren lange Zeit darüber im Ungewissen, unter welchen Umständen Katie genau zu Tode gekommen ist und wie sich Dave seine Verletzungen zugezogen hat. Einen Zusammenhang zwischen beiden Ereignissen herzustellen liegt natürlich nahe, doch die nicht bewiesene Annahme setzt eine fürchterliche Kette von weiteren Geschehnissen in Gang, die der Bestseller-Autor meisterhaft inszeniert. Dabei spielt Lehane gleich mehrere große emotionale Themen, Liebe, Fürsorglichkeit und Vertrauen ebenso wie Gewalt, Verrat und Mord. Aus diesem schwergewichtigen Potpourri geht letztlich niemand als Gewinner hervor.

Andrea De Carlo – „Die ganz große Nummer“

Samstag, 20. Juni 2020

(Piper, 384 S., Pb.)
Der dreiundzwanzigjährige Alberto Scarzi treibt im Mailand der 70er Jahre meist ziellos zwischen Studium, musikalischen Übungen mit seiner japanischen Akustikgitarre und unentschlossenen Überlegungen, welcher der schönen Künste er sich widmen sollte, hin und her, als ihr eine Bekannte von der Uni den Kontakt zum Verleger Damiano Diamantini vermittelt. Der suche nämlich einen Autor bzw. Rockexperten für seine geplante Musikbuchreihe über die bedeutendsten italienischen cantautori. Beim Abendessen mit dem Verleger und seiner Mutter werden die Details geklärt. Jedes Buch sollte ein ausführliches Interview, eine wunderbare Fotostrecke sowie ein poetisches-literarisches Essay von Diamantini enthalten, das den eigentlichen Kern der jeweiligen Bücher bilden sollte. Das Drumherum würde nur den Köder für die Jungbanausen darstellen, um sie auf das Terrain der Literatur zu führen.
Nachdem sich ein erster gemeinsamer von Alberto und Damiano mit dem Liedermacher Flavio Sbozzari als Fiasko erweist, wagt sich Alberto an einen ganz großen Namen: Der berühmte Bernard Ohanian, der sich gerade in Mailand aufhält, um einen seiner ins Italienische übersetzten Romane vorzustellen. Mit seinem Freund Raimondo Vaiastri, der ebenso wie Alberto keine Ahnung hatte, was er mit seinem Leben anfangen soll, besucht er die Buchpräsentation, doch zu dem erhofften Interview kommt es natürlich nicht. Doch als Alberto die Idee entwirft, seinem Verleger ein erfundenes Interview mit Ohanian vorzulegen, ist auch Raimondo begeistert. Tatsächlich funktioniert der Plan, aus Raimondo Vaiastri einen berühmten Rock-Journalisten zu machen, der seinen Namen für das ausführliche Interview hergibt, das Alberto wiederum aus den Eindrücken, die er von der Buchpräsentation und aus bisher veröffentlichten Interviews zusammenbastelt.
Nachdem die Arbeit beendet ist, packt Alberto der Drang, nach Amerika zu gehen. Er verkauft seine 1959er BMW und fliegt mit seiner aktuellen Freundin Cristina nach Boston, wo die beiden zunächst bei Yoko Williams unterkommen, einer deprimierten Frau, die mit einem dreißig Jahre älteren armenischen Galeriebesitzer zusammengelebt hat, der sie aber wegen einer 18-jährigen Blondine verlassen habe. Währenddessen schluckt Damiano den Schwindel, blättert zwei Millionen Lire für das Buch hin, so dass Alberto und Raimondo schon den nächsten großen Coup aushecken. Während Raimondo immer mehr in der Rolle des berühmten Rockjournalisten aufgeht, macht sich Alberto in den Staaten auf die Reise zu dem nächsten Star, der in der Reihe von Diamantini Press vorgestellt wird. Als die Bücher aber auch international vermarktet werden, fliegt der Schwindel auf …
„Mir schien, dass ich mich damals himmelschreiend nachlässig, ja sträflich oberflächlich verhalten hatte: Es war völlig absurd, rein gar nichts aus meinem Leben gemacht zu haben, in dem es keinerlei Hektik und Mühe gab und das der Zufall oder eine Schicksalsfügung mir an die Hand gegeben hatte. Mir fiel es schwer zu glauben, dass ich so zerstreut und fatalistisch gewesen war und nicht einmal den Versuch unternommen hatte, die unklaren Ideen, die mir durch den Kopf schwirrten, auf den Prüfstand der Realität zu bringen. Wie konnte ich nur denken, dass mir dafür noch alle Zeit der Welt zur Verfügung stünde?“ (S. 271) 
Mit seinen ersten Bestsellern „Creamtrain“, „Zwei von zwei“ und „Techniken der Verführung“ hat sich der Mailander Schriftsteller Andrea De Carlo seit den 1980er Jahren eine treue Fangemeinde aufgebaut, die begeistert den meist männlichen jungen Protagonisten seiner Geschichten durch die unwegsamen Irrungen und Wirrungen der Liebe und des Lebens folgen. Auch in seinem 2002 veröffentlichten und zwei Jahre später auch als „Die ganz große Nummer“ ins Deutsche übersetzten Roman „I veri nomi“ stehen zwei Freunde im Mittelpunkt eines irrwitzigen Road Trips, der aus Alberto und Raimondo definitiv andere Menschen macht und sie mit allerlei interessanten Menschen und Versuchungen, Träumen und Enttäuschungen konfrontiert.
Dass sie dabei ihr Glück überstrapazieren, ist natürlich vorhersehbar, aber wie Alberto und Raimondo diesen großen Schwindel vorbereiten und durchziehen, verdient den größten Respekt und wunderbar vergnüglich zu lesen. De Carlo versteht es wieder einmal souverän, mit seinem eleganten Stil, humorvollen Szenen und lebendigen Dialogen sein Publikum zu fesseln. Allerdings wird der Erzählfluss auch immer wieder durch Erinnerungen an die Menschen und Schlüsselerlebnisse aus dem früheren Leben des Ich-Erzählers Alberto unterbrochen, und auch in der Gegenwart bekommt nahezu jede Person, mit denen es Alberto zu tun bekommt, ein eigenes Kapitel. Das beginnt vor allem im letzten Drittel zu nerven, wenn die eigentliche Geschichte längst erzählt ist und Alberto und Raimondo zwischen den Ländern und Kontinenten nur noch hin- und hertreiben, sich jahrelang gar nicht oder über Briefe verständigen, sich aber nie wirklich ganz aus den Augen verlieren.

Ray Bradbury – „Fahrenheit 451“

Samstag, 13. Juni 2020

(Diogenes, 228 S., HC)
In einer unbestimmten Zukunft leben die Menschen in einer totalitären Gesellschaft, in der die Feuerwehr nicht mehr damit beauftragt wird, Feuer zu löschen, sondern Bücher zu verbrennen. Die darin vermittelten Gedanken wurden vom politischen System nämlich dafür verantwortlich gemacht, dass sich die Menschen ihrer Individualität bewusst geworden sind, so dass Andersartige und -denkende diskriminiert, ausgebeutet und in Kriegen bekämpft wurden. Diese Entwicklung hat man nicht nur durch das Verbot des Besitzes von Büchern in den Griff bekommen, sondern auch durch die massenhafte Verbreitung von Rauschmitteln und Videoleinwänden, die für unangestrengte Zerstreuung sorgen. Einer dieser Feuerwehrmänner ist der 30-jährige Guy Montag, der mit seinen Kollegen immer dann ausrückt, wenn irgendwo in der Stadt verbotene Bücher ausfindig gemacht worden sind. Während sich die Feuerwehr um die Bücher kümmert, sorgen mechanische Spürhunde dafür, dass die bücherbesitzenden Staatsfeinde aufgespürt und festgesetzt bzw. sofort getötet werden.
Doch als er eines Nachts beim Spazierengehen die 17-jährige Clarisse McClellan kennenlernt, gerät sein systemkonformes Denken ins Wanken. Nicht nur ihr weltoffenes, neugieriges Wesen irritiert Montag, sondern letztlich die Frage, ob er glücklich sei, denn er kann sich weder erinnern, wie er seine Frau Mildred überhaupt kennengelernt hat, noch was an ihr besonders liebenswert sein soll, da sie über keine nennenswerte Eigenschaften verfügt.
Als Mildred auch noch an einer vermeintlich versehentlichen Überdosis Beruhigungspillen beinahe stirbt und Montag bei einem seiner Einsätze erleben muss, wie eine Frau sich lieber mit ihren Büchern verbrennen lässt, als sich dem System zu unterwerfen, lässt sich Montag krankschreiben und wird von seinem Captain Beatty besucht, der ihn darüber aufklärt, wie das rapide Bevölkerungswachstum mit den zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden Massenmedien wie die Fotografie, das Fernsehen und der Rundfunk dafür sorgten, dass sich die Medien auf den niedrigsten gemeinsamen Nenner einigen mussten und literarische Klassiker wie politische Diskurse auf Zusammenfassungen von Zusammenfassungen reduziert wurden. Unter der Last des Beruflebens wurde das Lernen vernachlässigt, Vergnügungen in Form von Sportveranstaltungen, Cartoons in Buchform und Filmen in Massen produziert. Da das Unvertraute Grauen verursachte und ‚intellektuell‘ zu einem Schimpfwort wurde, musste jeder gleich gemacht und damit glücklich gemacht werden, denn wo es nichts mehr Überragendes gab, musste man sich nicht mehr miteinander messen.
Doch Montag gibt sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden und beginnt, Bücher in seine Wohnung zu schmuggeln, um sie mit Mildred zu lesen. Doch Mildred ist alles andere als davon angetan, so dass sich Montag Unterstützung bei dem pensionierten Literaturprofessor Faber holt. Als seine Frau ihn schließlich denunziert und Montag seinen Vorgesetzten in Brand setzt, wird er zur Flucht in die nahe gelegenen Wälder gezwungen, wo er auf eine Gruppe von Dissidenten stößt, die Montag in ihre Mitte nehmen.
„In der kommenden Woche werden wir eine Menge einsamer Menschen treffen, und den ganzen nächsten Monat und das ganze nächste Jahr. Und wenn man uns fragt, was wir eigentlich tun, könnt ihr sagen: ‚Wir erinnern uns.‘ Damit werden wir uns auf Dauer durchsetzen. Und eines Tages erinnert sich der Mensch an so viel, dass er den größten Bagger aller Zeiten herstellt und das größte Grab aller Zeiten aushebt und den Krieg hineinbefördert und das Ganze zuschüttet.“ (S. 213) 
In der Neuausgabe zum 50. Jubiläum dieses dystopischen Klassikers der Science-Fiction-Literatur hat Ray Bradbury sowohl im neuen Vorwort als auch im Nachwort eindringlich geschildert, wie er natürlich durch die Bücherverbrennung im Hitler-Deutschland, die Gerüchte über Stalins Streichholzmänner und die Hexenjagd von Salem einerseits, von der römischen, griechischen und ägyptischen Mythologie andererseits zu „Fahrenheit 451“ inspiriert wurde, einem Konglomerat aus den fünf Kurzgeschichten „Scheiterhaufen“, „Strahlender Phönix“, „Die Verbannten“, „Usher II“ und „Der Fußgänger“, das zunächst als 25.000 Wörter umfassende Novelle „The Fire Man“ 1951 in Galaxy Science Fiction veröffentlicht wurde und nach der Verdoppelung der Wortanzahl schließlich 1953 als Roman „Fahrenheit 451“ das Licht der Welt erblickt.
Auch wenn das Streben des politischen Systems nach in jeder Hinsicht betäubten Gesellschaft in Bradburys Klassiker thematisiert wird, geht es dem 2012 verstorbenen Schriftsteller vor allem um die Gefahr, die den Büchern durch niveaulose Massenmedien droht, wie er im Nachwort betont. Seit der früh eingeführten Begegnung zwischen Montag und dem aufgeweckten Mädchen Clarisse macht Bradbury in „Fahrenheit 451“ (bekanntermaßen ist der Titel der Temperatur abgeleitet, bei der Papier Feuer fängt und verbrennt) deutlich, welch mannigfaltige Gefühle und Denkweisen und Geschichten Romane, Gedichte und auch Sachbücher beim Leser erwecken und so dazu anleiten, einen eigenen Sinn im Leben zu finden und sich selbst und sein Denken im Spiegel anderer Menschen und ihren Gedanken und Gefühlen zu reflektieren. Dabei findet Bradbury stets selbst wunderschön poetische Worte, um auf der einen Seite die trostlose Welt der konturlosen Menschen in einem totalitären System und auf der anderen Seite die mannigfaltigen Sinneseindrücke und Gedankengänge weltoffener und nachdenkender Bürger darzustellen. Ein Blick auf die geopolitische Weltkarte zeigt, dass Bradburys Werk leider nach wie vor sehr aktuell ist.

Ray Bradbury – „Der illustrierte Mann“

Montag, 8. Juni 2020

(Diogenes, 317 S., Tb.)
Während seiner zweiwöchigen Wanderschaft durch Wisconsin begegnet dem namenlosen Ich-Erzähler an einem warmen Nachmittag Anfang September auf einer einsamen Landstraße ein großer Mann mit langen Armen und dicken Händen. Er sei auf der Suche nach einem Job, eröffnet der Unbekannte dem Erzähler, seit vierzig Jahren habe er keinen dauerhaften Job mehr gehabt. Wenig später erfährt der Erzähler auch den Grund: Als sich der Mann mit dem kindlichen Gesicht seiner viel zu warmen Kleidung entledigt, kommen Tätowierungen ans Tageslicht, die den ganzen Körper des Mannes bedecken. Das Problem sei, erklärt der Tätowierte, dass sich die Bilder nachts zu bewegen beginnen, die ihm vor fünfzig Jahren von einer alten Hexe gemacht worden waren.
Letztlich sind achtzehn Geschichten in den Tätowierungen verborgen. So leben die Menschen in der Zukunft in schalldichten Lebensglück-Häusern, die die Aufgaben der Hausfrau, Mutter und Kindermädchen übernehmen und dessen zwölf mal zwölf Meter großes und neun Meter hohes Kinderzimmer das Prunkstück darstellt. George Hadley und seine Frau Lydia sind beunruhigt, dass ihre Kinder Peter und Wendy mittels telepathischer Gedankenströme eine lebensechte afrikanische Steppe haben entstehen lassen, der sie sich nicht mehr entziehen wollen, seit ihre Eltern ihnen verboten hatten, mit der Rakete nach New York zu fliegen. Dafür rächen sich sie sich jetzt auf ihre Weise …
Vor allem geht es aber um Reisen in den Weltraum. In „Kaleidoskop“ werden Raumfahrer, nachdem ihr Schiff von einem Kometen getroffen und aufgeschlitzt worden ist, in den Weltraum hinausgeschleudert und in verschiedene Richtungen getrieben. Während sie immer schneller auseinandertreiben, bleiben sie zunächst noch über Funk verbunden. Zwischen dem Kommandanten Hollis und Applegate werden lange währende Animositäten ausgesprochen. Lespere wiederum blickt zufrieden auf sein Leben zurück, der auf dem Mars, der Venus und dem Jupiter jeweils reiche Frauen hatten, die ihn verwöhnten. Als Stone von einem Meteorenschwarm mitgerissen wird, beginnt Hollis mit Reue auf seine Verfehlungen zurückzublicken …
Andere Geschichten wie die Apartheit thematisierende Story „Die andere Haut“, die religiös motivierte Erzählung „Der Mann“, „Der Raumfahrer“, „Die Feuerballons“ oder „Der Besucher“ entwickeln verschiedene Szenarien, die Bradbury bereits in seinem gefeierten Debüt „Die Mars-Chroniken“ thematisiert hat, so das sinnlose Morden aus Angst oder Gier, das Einschleppen von Seuchen, die die Urbewohner eines Planeten dahinraffen, Atomkriege, vor denen die Menschen auf andere Planeten flüchten, aber auch das Verbannen und Zerstören von Büchern unbequemer Autoren wie Hawthorne, Blackwood, Poe, Lovecraft, Machen und Bierce in „Die Verbannten“ sind aus Bradburys Debüt und seinem nachfolgenden berühmten Meisterwerk „Fahrenheit 451“ bekannt.
„Diese sauberen jungen Raumfahrer mit ihren antiseptischen Pumphöschen und Aquariumshelmen, mit ihrer neuen Religion. Um ihre Hälse tragen sie Skalpelle an goldenen Kettchen, auf ihren Köpfen Diademe von Mikroskopen. In ihren geheiligten Fingern halten sie dampfende Weihrauchgefäße, die in Wirklichkeit nur Sterilisatoren sind, im mit ihnen die Keime des Aberglaubens abzutöten.“ (S. 170) 
Mit „Der illustrierte Mann“ hatte Ray Bradbury 1951 seinen Ton gefunden und die Science Fiction vom ihrem eher trockenen technisch-wissenschaftlichen Ton befreit und ihr eine einfühlsame poetische Note verliehen. Die stilistisch ausgefeilte, bilderreiche und assoziative Sprache, die Bradbury wie kein zweiter Vertreter seiner Zunft zu verwenden versteht, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter seinen einfallsreichen Weltraummärchen eine zutiefst pessimistische Weltsicht steckt. In seiner Vorstellung schleppen die Menschen nicht nur ihre Krankheiten und ihre Sucht nach Besitz und Macht auf andere Planeten ein, sondern auch Rassenprobleme und die Angst vor subversiven Schriften, Andersaussehenden und Andersdenkenden.
Der ewige Traum des Menschen, den Weltraum zu erkunden und andere Planeten zu besiedeln, wird bei Bradbury zum Symbol, die ungelösten Probleme und unerfüllten Sehnsüchte, aber auch Urängste einfach auszulagern. In der Weite und Leere ausgestorbener Marsstädte werden die vertrauten Probleme auf ihren Kern zurückgeführt. Allein Bradburys verehrungswürdige Fabulierkunst lässt in den Pointen seiner Geschichten die Hoffnung am Leben, dass der Mensch doch noch aus seinen Fehlern lernt und sich auf das Wesentliche zu besinnen vermag.

Ray Bradbury – „Die Mars-Chroniken“

Donnerstag, 4. Juni 2020

(Diogenes, 262 S., Tb.)
Bereits seit zwanzig Jahren leben Yll und Ylla K auf dem Mars am Rande eines leeren, toten Meeres in einem Haus, das bereits ihre Vorfahren seit zehn Jahrhunderten bewohnten. Als sie ihrem Mann von einem Traum erzählt, in dem sie einen riesigen Mann mit schwarzen Haaren, blauen Augen und weißer Haut namens Nathaniel York geküsst habe, nachdem er mit einem Raumschiff vom Himmel herabgekommen sei. Als das Raumschiff tatsächlich landet, erschießt Yll aus purer Eifersucht zwei Raumfahrer der ersten Mars-Mission.
Im August 1999 landet die zweite Expedition von der Erde auf dem Mars, der bei den telepathisch kommunizierenden Einheimischen als Tyrr bekannt ist. Captain Williams ist nach der erfolgreichen Landung nach Feiern zumute, doch bei den Marsianern stößt er auf völliges Desinteresse, bis er feststellt, dass die menschenähnlichen Wesen, denen er begegnet und die behaupten, sowohl von der Erde als auch vom Saturn und Jupiter zu stammen, an einer Geisteskrankheit leiden, mit denen die Leute ihre eigenen Trugbilder erschaffen.
In der Nervenheilanstalt ist der behandelnde Arzt Herr Xxx fasziniert von dem Phänomen, dass Captain Williams sogar eine Rakete mit Besatzung erschaffen könne, sieht aber als einzige Möglichkeit, ihn zu heilen, dessen Tötung an. Da diese „Halluzinationen“ aber danach nicht verschwinden, glaubt auch der Psychologe, sich infiziert zu haben, und erschießt auch sich selbst. Nachdem die ersten beiden Expeditionen erfolglos verliefen, landet im April 2000 eine dritte Expedition unter dem Kommando von Captain John Black auf dem Mars. Die 16-köpfige Crew landet in der Nähe einer Stadt, die kurioserweise einer amerikanischen Kleinstadt aus dem Jahr 1926 gleicht und in der die Raumfahrer längst verstorbene Verwandte und Bekannte treffen, bei denen sie übernachten. Während die Männer noch überlegen, ob sie irrtümlich wieder auf der Erde gelandet sind oder eine Zeitreise unternommen haben, werden sie allesamt einer von den Marsianers erschaffenen Halluzination, die aus den Erinnerungen der Expeditionsteilnehmer erschaffen worden ist, und überleben die Nacht nicht.
Im Juni 2001 landet schließlich die vierte Expedition auf dem Mars, doch der Archäologe Jeff Spender muss durch den mitgereisten Arzt feststellen, dass die Marsianer Opfer der von den Menschen eingeschleppten Windpocken geworden sind. Da er befürchtet, dass die Menschen auf dem Mars ähnlich gewalttätig wie auf der Erde aufgetreten sind, will er die Ankunft weiterer Expeditionen hinauszögern, doch schon im August kommen die ersten Siedler …
„Der Weltraum war ein Betäubungsmittel – siebzig Millionen Meilen leeres All hatten eine lähmende Wirkung, sie ließen Erinnerungen einschlafen, entvölkerten die Erde, löschten die Vergangenheit aus und erlaubten es den Menschen, hier ihr Leben zu leben. Doch heute abend, ganz plötzlich, waren die Toten wiederauferstanden, die Erde war wieder bewohnt, die Erinnerungen meldeten sich, und eine Million Namen wurden ausgesprochen: Was wohl der und der heute abend macht auf der Erde?“ (S. 210) 
Gleich mit seinem ersten, 1950 durch Doubleday veröffentlichten Roman „Die Mars-Chroniken“ gelang dem US-amerikanischen Schriftsteller Ray Bradbury ein bahnbrechender Erfolg. Die in Romanform zusammengeführten Kurzgeschichten, die Bradbury zwischen 1946 und 1950 in verschiedenen Science-Fiction-Magazinen veröffentlicht hatte, zählen mittlerweile zu den klassischen literarischen Dystopien und zur Standardlektüre in den Schulen. Auch wenn das Buch verschiedene Mars-Expeditionen zwischen 1999 und 2026 thematisiert, geht es Bradbury nicht so sehr um die Begegnung zwischen Menschen und außerirdischen Lebensformen, wie sie besonders populär Steven Spielberg in Filmen wie „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ (1977) und „E.T. – Der Außerirdische“ (1982) in märchenhaft-verklärter Form präferierte, sondern um die Auseinandersetzung des Menschen mit fremden Lebensformen an sich, wozu bereits andere Rassen als die eigene zählen. Offensichtlich sind die Parallelen zur Eroberung von Amerika, bei der die Ureinwohner durch die eingeschleppten Krankheiten der Invasoren dahingerafft wurden, aber auch die gerade in den 1950er Jahren vorherrschende Angst der US-Amerikaner vor einem Dritten Weltkrieg. Der Mars dient Bradbury also nur als Projektionsfläche für die Sehnsüchte und Ängste der Menschen, die immer wieder mit Mord und Krieg auf mehr oder weniger diffuse Bedrohungen reagieren und dabei ganze Landstriche, Städte, Kontinente, ja Planeten zerstören. Dabei findet Bradbury jedoch immer einen wunderbar poetischen Ton, der die letztlich nüchtern aufgezählten Schrecken und Katastrophen noch furchtbarer erscheinen lassen, als hätte der Mensch kein Bewusstsein für die zerstörerischen Dämonen in seinem Herzen. Auch wenn „Die Mars-Chroniken“ von Morden, Einsamkeit und unerfüllten Sehnsüchten handelt, verleitet dieser Klassiker ebenso zum reflektierten Nachsinnen wie zum Träumen.