Ray Bradbury – „Die Mars-Chroniken“

Donnerstag, 4. Juni 2020

(Diogenes, 262 S., Tb.)
Bereits seit zwanzig Jahren leben Yll und Ylla K auf dem Mars am Rande eines leeren, toten Meeres in einem Haus, das bereits ihre Vorfahren seit zehn Jahrhunderten bewohnten. Als sie ihrem Mann von einem Traum erzählt, in dem sie einen riesigen Mann mit schwarzen Haaren, blauen Augen und weißer Haut namens Nathaniel York geküsst habe, nachdem er mit einem Raumschiff vom Himmel herabgekommen sei. Als das Raumschiff tatsächlich landet, erschießt Yll aus purer Eifersucht zwei Raumfahrer der ersten Mars-Mission.
Im August 1999 landet die zweite Expedition von der Erde auf dem Mars, der bei den telepathisch kommunizierenden Einheimischen als Tyrr bekannt ist. Captain Williams ist nach der erfolgreichen Landung nach Feiern zumute, doch bei den Marsianern stößt er auf völliges Desinteresse, bis er feststellt, dass die menschenähnlichen Wesen, denen er begegnet und die behaupten, sowohl von der Erde als auch vom Saturn und Jupiter zu stammen, an einer Geisteskrankheit leiden, mit denen die Leute ihre eigenen Trugbilder erschaffen.
In der Nervenheilanstalt ist der behandelnde Arzt Herr Xxx fasziniert von dem Phänomen, dass Captain Williams sogar eine Rakete mit Besatzung erschaffen könne, sieht aber als einzige Möglichkeit, ihn zu heilen, dessen Tötung an. Da diese „Halluzinationen“ aber danach nicht verschwinden, glaubt auch der Psychologe, sich infiziert zu haben, und erschießt auch sich selbst. Nachdem die ersten beiden Expeditionen erfolglos verliefen, landet im April 2000 eine dritte Expedition unter dem Kommando von Captain John Black auf dem Mars. Die 16-köpfige Crew landet in der Nähe einer Stadt, die kurioserweise einer amerikanischen Kleinstadt aus dem Jahr 1926 gleicht und in der die Raumfahrer längst verstorbene Verwandte und Bekannte treffen, bei denen sie übernachten. Während die Männer noch überlegen, ob sie irrtümlich wieder auf der Erde gelandet sind oder eine Zeitreise unternommen haben, werden sie allesamt einer von den Marsianers erschaffenen Halluzination, die aus den Erinnerungen der Expeditionsteilnehmer erschaffen worden ist, und überleben die Nacht nicht.
Im Juni 2001 landet schließlich die vierte Expedition auf dem Mars, doch der Archäologe Jeff Spender muss durch den mitgereisten Arzt feststellen, dass die Marsianer Opfer der von den Menschen eingeschleppten Windpocken geworden sind. Da er befürchtet, dass die Menschen auf dem Mars ähnlich gewalttätig wie auf der Erde aufgetreten sind, will er die Ankunft weiterer Expeditionen hinauszögern, doch schon im August kommen die ersten Siedler …
„Der Weltraum war ein Betäubungsmittel – siebzig Millionen Meilen leeres All hatten eine lähmende Wirkung, sie ließen Erinnerungen einschlafen, entvölkerten die Erde, löschten die Vergangenheit aus und erlaubten es den Menschen, hier ihr Leben zu leben. Doch heute abend, ganz plötzlich, waren die Toten wiederauferstanden, die Erde war wieder bewohnt, die Erinnerungen meldeten sich, und eine Million Namen wurden ausgesprochen: Was wohl der und der heute abend macht auf der Erde?“ (S. 210) 
Gleich mit seinem ersten, 1950 durch Doubleday veröffentlichten Roman „Die Mars-Chroniken“ gelang dem US-amerikanischen Schriftsteller Ray Bradbury ein bahnbrechender Erfolg. Die in Romanform zusammengeführten Kurzgeschichten, die Bradbury zwischen 1946 und 1950 in verschiedenen Science-Fiction-Magazinen veröffentlicht hatte, zählen mittlerweile zu den klassischen literarischen Dystopien und zur Standardlektüre in den Schulen. Auch wenn das Buch verschiedene Mars-Expeditionen zwischen 1999 und 2026 thematisiert, geht es Bradbury nicht so sehr um die Begegnung zwischen Menschen und außerirdischen Lebensformen, wie sie besonders populär Steven Spielberg in Filmen wie „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ (1977) und „E.T. – Der Außerirdische“ (1982) in märchenhaft-verklärter Form präferierte, sondern um die Auseinandersetzung des Menschen mit fremden Lebensformen an sich, wozu bereits andere Rassen als die eigene zählen. Offensichtlich sind die Parallelen zur Eroberung von Amerika, bei der die Ureinwohner durch die eingeschleppten Krankheiten der Invasoren dahingerafft wurden, aber auch die gerade in den 1950er Jahren vorherrschende Angst der US-Amerikaner vor einem Dritten Weltkrieg. Der Mars dient Bradbury also nur als Projektionsfläche für die Sehnsüchte und Ängste der Menschen, die immer wieder mit Mord und Krieg auf mehr oder weniger diffuse Bedrohungen reagieren und dabei ganze Landstriche, Städte, Kontinente, ja Planeten zerstören. Dabei findet Bradbury jedoch immer einen wunderbar poetischen Ton, der die letztlich nüchtern aufgezählten Schrecken und Katastrophen noch furchtbarer erscheinen lassen, als hätte der Mensch kein Bewusstsein für die zerstörerischen Dämonen in seinem Herzen. Auch wenn „Die Mars-Chroniken“ von Morden, Einsamkeit und unerfüllten Sehnsüchten handelt, verleitet dieser Klassiker ebenso zum reflektierten Nachsinnen wie zum Träumen.

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