Ray Bradbury – „Der illustrierte Mann“

Montag, 8. Juni 2020

(Diogenes, 317 S., Tb.)
Während seiner zweiwöchigen Wanderschaft durch Wisconsin begegnet dem namenlosen Ich-Erzähler an einem warmen Nachmittag Anfang September auf einer einsamen Landstraße ein großer Mann mit langen Armen und dicken Händen. Er sei auf der Suche nach einem Job, eröffnet der Unbekannte dem Erzähler, seit vierzig Jahren habe er keinen dauerhaften Job mehr gehabt. Wenig später erfährt der Erzähler auch den Grund: Als sich der Mann mit dem kindlichen Gesicht seiner viel zu warmen Kleidung entledigt, kommen Tätowierungen ans Tageslicht, die den ganzen Körper des Mannes bedecken. Das Problem sei, erklärt der Tätowierte, dass sich die Bilder nachts zu bewegen beginnen, die ihm vor fünfzig Jahren von einer alten Hexe gemacht worden waren.
Letztlich sind achtzehn Geschichten in den Tätowierungen verborgen. So leben die Menschen in der Zukunft in schalldichten Lebensglück-Häusern, die die Aufgaben der Hausfrau, Mutter und Kindermädchen übernehmen und dessen zwölf mal zwölf Meter großes und neun Meter hohes Kinderzimmer das Prunkstück darstellt. George Hadley und seine Frau Lydia sind beunruhigt, dass ihre Kinder Peter und Wendy mittels telepathischer Gedankenströme eine lebensechte afrikanische Steppe haben entstehen lassen, der sie sich nicht mehr entziehen wollen, seit ihre Eltern ihnen verboten hatten, mit der Rakete nach New York zu fliegen. Dafür rächen sich sie sich jetzt auf ihre Weise …
Vor allem geht es aber um Reisen in den Weltraum. In „Kaleidoskop“ werden Raumfahrer, nachdem ihr Schiff von einem Kometen getroffen und aufgeschlitzt worden ist, in den Weltraum hinausgeschleudert und in verschiedene Richtungen getrieben. Während sie immer schneller auseinandertreiben, bleiben sie zunächst noch über Funk verbunden. Zwischen dem Kommandanten Hollis und Applegate werden lange währende Animositäten ausgesprochen. Lespere wiederum blickt zufrieden auf sein Leben zurück, der auf dem Mars, der Venus und dem Jupiter jeweils reiche Frauen hatten, die ihn verwöhnten. Als Stone von einem Meteorenschwarm mitgerissen wird, beginnt Hollis mit Reue auf seine Verfehlungen zurückzublicken …
Andere Geschichten wie die Apartheit thematisierende Story „Die andere Haut“, die religiös motivierte Erzählung „Der Mann“, „Der Raumfahrer“, „Die Feuerballons“ oder „Der Besucher“ entwickeln verschiedene Szenarien, die Bradbury bereits in seinem gefeierten Debüt „Die Mars-Chroniken“ thematisiert hat, so das sinnlose Morden aus Angst oder Gier, das Einschleppen von Seuchen, die die Urbewohner eines Planeten dahinraffen, Atomkriege, vor denen die Menschen auf andere Planeten flüchten, aber auch das Verbannen und Zerstören von Büchern unbequemer Autoren wie Hawthorne, Blackwood, Poe, Lovecraft, Machen und Bierce in „Die Verbannten“ sind aus Bradburys Debüt und seinem nachfolgenden berühmten Meisterwerk „Fahrenheit 451“ bekannt.
„Diese sauberen jungen Raumfahrer mit ihren antiseptischen Pumphöschen und Aquariumshelmen, mit ihrer neuen Religion. Um ihre Hälse tragen sie Skalpelle an goldenen Kettchen, auf ihren Köpfen Diademe von Mikroskopen. In ihren geheiligten Fingern halten sie dampfende Weihrauchgefäße, die in Wirklichkeit nur Sterilisatoren sind, im mit ihnen die Keime des Aberglaubens abzutöten.“ (S. 170) 
Mit „Der illustrierte Mann“ hatte Ray Bradbury 1951 seinen Ton gefunden und die Science Fiction vom ihrem eher trockenen technisch-wissenschaftlichen Ton befreit und ihr eine einfühlsame poetische Note verliehen. Die stilistisch ausgefeilte, bilderreiche und assoziative Sprache, die Bradbury wie kein zweiter Vertreter seiner Zunft zu verwenden versteht, darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter seinen einfallsreichen Weltraummärchen eine zutiefst pessimistische Weltsicht steckt. In seiner Vorstellung schleppen die Menschen nicht nur ihre Krankheiten und ihre Sucht nach Besitz und Macht auf andere Planeten ein, sondern auch Rassenprobleme und die Angst vor subversiven Schriften, Andersaussehenden und Andersdenkenden.
Der ewige Traum des Menschen, den Weltraum zu erkunden und andere Planeten zu besiedeln, wird bei Bradbury zum Symbol, die ungelösten Probleme und unerfüllten Sehnsüchte, aber auch Urängste einfach auszulagern. In der Weite und Leere ausgestorbener Marsstädte werden die vertrauten Probleme auf ihren Kern zurückgeführt. Allein Bradburys verehrungswürdige Fabulierkunst lässt in den Pointen seiner Geschichten die Hoffnung am Leben, dass der Mensch doch noch aus seinen Fehlern lernt und sich auf das Wesentliche zu besinnen vermag.

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