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Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 7) „Playback“

Donnerstag, 31. August 2023

(Diogenes, 236 S., HC) 
Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren, die ihren Lebensunterhalt damit verdienten, für einen Hungerlohn ihre Geschichten in zehn Cents teuren Pulp-Zeitschriften zu veröffentlichen, hat es Raymond Chandler (1888-1959) geschafft, ab 1939 auch Romane zu veröffentlichen und mit seiner Figur des moralischen Privatdetektives Philip Marlowe eine Gallionsfigur des von ihm stark mitgeprägten Genres des Hardboiled-Krimis zu schaffen. 1958, fünf Jahre nach „Der lange Abschied“, erschien mit „Playback“ der siebte und letzte Marlowe-Roman. Der einzige nicht verfilmte Marlowe-Roman erschien nun in einer Neuübersetzung von Ulrich Blumenbach und mit einem Nachwort von Paul Ingendaay
Philip Marlowe soll im Auftrag des Rechtsanwalts Clyde Umney aus L.A., der wiederum für eine einflussreiche Kanzlei in Washington tätig ist, in einem Zug eine junge Frau identifizieren, ihr unauffällig folgen, bis sie sich irgendwo ein Zimmer genommen hat, und dann Bericht erstatten. Angesichts der spärlichen Informationen, die ihm von Umneys Sekretärin Miss Vermilyea übermittelt werden, ist Marlowe fast abgeneigt, den Auftrag nicht anzunehmen, doch sowohl die Sekretärin als auch die zu beschattende Person sehen attraktiv genug aus, um sein Interesse zu wecken. Es handelt sich um die 1,62m große, rothaarige und nicht mal dreißigjährige Eleanor King, der Marlowe bis in ein Hotel nach Esmeralda folgt, wo sie unter dem Namen Betty Mayfield eingecheckt hat. 
Marlowe bekommt jedoch nicht nur das Gefühl, dass ihm wesentliche Informationen vorenthalten worden sind, sondern bekommt es auch noch mit zwei undurchsichtigen Typen zu tun: Larry Mitchell drängt sich Betty Mayfield auf so sichtlich unangenehme Weise auf, dass sie kurzerhand Reißaus nimmt. Und dann scheint Marlowes Berufskollege Ross Goble aus Kansas City ebenfalls auf die junge Frau angesetzt worden zu sein. Marlowe kann die Mayfield zwar in Del Mar ausfindig machen, hat es aber nach seiner Rückkehr nach Esmeralda mit einem weiteren Problem zu tun. Auf dem Balkon der jungen Frau liegt der verhasste Mitchell, mit Mayfields Pistole erschossen. Mayfield macht Marlowe schöne Augen und ein verheißungsvolles Angebot, wenn er sich um die Leiche kümmert. 
Dann findet Marlowe einen weiteren Mann tot vor…
„Ich musste zur Polizei und den Erhängten melden. Nur hatte ich keine Ahnung, was ich ihnen sagen sollte. Warum war ich zu seinem Haus gegangen? Weil er, wenn er die Wahrheit gesagt hatte, Mitchells Aufbruch am Morgen mitbekommen hatte. Und warum hatte das eine Bedeutung? Weil ich hinter Mitchell her war. Ich wollte ein vertrauliches Gespräch mit ihm führen. Worüber? Und von da an hatte ich nur noch Antworten, die zu Betty Mayfield führten…“ (S. 169) 
„Playback“, Raymond Chandlers letzter Philip-Marlowe-Roman, hatte eine schwierige Geburt hinter sich, musste der Autor doch mitten im Schreibprozess den Tod seiner über alles geliebten Frau Cissy verarbeiten, u.a. in einem teuren Privatsanatorium. Dass „Playback“ letztlich nicht ganz die Intensität und komplexe Spannungsdramaturgie aufweist wie beispielsweise „Der tiefe Schlaf“ und „Der lange Abschied“, kann daher kaum überraschen. Aber auch wenn „Playback“ weniger Tote und weniger Spannung aufweist, hat der Roman seine starken Momente, fährt einige interessante Figuren auf, zu denen neben der obligatorischen, unberechenbaren Femme fatale auch der sympathische Polizeicaptain Alessandro und der charismatische Henry Clarendon IV. zählen, und unterhält immer wieder mit einigen knisternd erotischen Momenten, pointierten Dialogen und treffenden Milieubeschreibungen. 
Das macht zwar noch kein Meisterwerk aus, stellt aber einen würdigen Abgang für eine Ikone unter den Privatdetektiven dar. 

 

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 3) „Das hohe Fenster“

Montag, 31. Oktober 2022

(Diogenes, 320 S., HC) 
Mit dem Privatdetektiv Philip Marlowe hat Raymond Chandler (1888-1959) eine Kultfigur der Kriminalliteratur und den Prototyp des melancholischen, eigenbrödlerischen Ermittlers geschaffen, der vor allem in der Verkörperung durch Humphrey Bogart in Howard Hawks‘ Verfilmung von „The Big Sleep“ (1946) nachhaltig in Erinnerung blieb. Zu Hollywood hatte der Schriftsteller seit jeher eine innige Beziehung. So schrieb Chandler die Drehbücher zu Billy Wilders „Frau ohne Gewissen“ (1944), George Marshalls „Die blaue Dahlie“ (1946) und Alfred Hitchcocks „Der Fremde im Zug“ (1951), während die meisten seiner acht Marlowe-Romane auch verfilmt wurden. Das 1942 veröffentlichte Werk „The High Window“ war übrigens der erste Marlowe-Roman, der verfilmt wurde. Nun erscheint „Das hohe Fenster“ bei Diogenes als Teil der Neuübersetzungen der Philip-Marlowe-Reihe. 
Philip Marlowe wird nach Pasadena gebeten, wo mit Mrs. Elizabeth Bright Murdock die mürrische und zänkische Witwe von Jasper Murdock im Stadtteil Oak Knoll lebt. Sie beauftragt Marlowe damit, ihr eine wertvolle Goldmünze wiederzubeschaffen, die als sogenannte Brasher-Dublone Teil einer limitieren Probeprägung aus dem 18. Jahrhundert ist und mit einem Wert von zehntausend Dollar beziffert wird. Der alte Herr hat in seinem Testament verfügt, dass seine Münzsammlung auch nicht zu Lebzeiten seiner Frau – auch nicht in Teilen - veräußert werden dürfe. Marlowes Auftraggeberin hätte den Diebstahl auch nicht bemerkt, wenn nicht ein gewisser Mr. Elisha Morningstar aus Los Angeles angerufen hätte, um sich nach dem Verkauf der Münze zu erkundigen. 
Erst bei der Überprüfung der Sammlung sei ihr das Fehlen des kostbaren Stücks aufgefallen. Mit der ebenfalls verschwundenen Schwiegertochter, der ehemaligen Revue-Tänzerin Linda Conquest, hat Mrs. Murdock auch gleich die passende Verdächtige an der Hand. Diskretion ist natürlich Pflicht. Vor allem Mrs. Murdocks Sohn Leslie solle nichts von der Sache erfahren, wahrscheinlich wisse er ohnehin nicht, dass die Münze verschwunden ist. Da nur die Hausbewohner und Angestellten an die verschlossene Kassette mit den Münzen herangekommen sein könnten, nimmt Marlowe auch Mrs. Murdocks pflichtbewusste Privatsekretärin Merle Davis und Leslie Murdock ins Visier. 
Auf dem Weg nach Los Angeles zum Münzhändler Morningstar bemerkt Marlowe, dass er von einem sandfarbenen Coupé verfolgt wird, dessen Fahrer sich wenig später als ungeschickter Privatdetektiv George Anson Phillips entpuppt. Als sich Marlowe mit ihm in dessen Wohnung treffen will, findet er Anson allerdings tot vor. Doch bei diesem Todesfall bleibt es nicht. Marlowe gerät bei seinen Ermittlungen immer tiefer in ein Dickicht von unglücklichen Verbindungen, Gewissensbissen und Ungereimtheiten… 
„Die beinernen Schachfiguren, rot und weiß, standen marschbereit in Reih und Glied und wirkten so zackig, kompetent und kompliziert wie immer am Anfang einer Partie. Es war zehn Uhr abends, ich saß in meiner Wohnung, hatte eine Pfeife im Mund, einen Drink am Ellbogen und nichts im Kopf als zwei Mordopfer und das Rätsel, wie Mrs. Elizabeth Bright Murdock ihre Brasher-Dublone zurückbekommen haben konnte, wenn ich die in der Tasche hatte.“ (S. 131) 
Einmal mehr Philip Marlowe mit einem höchst komplizierten Fall betraut, der den aufgeweckten Privatdetektiv von einer kratzbürstigen und geizigen wie wohlhabenden Witwe über eine völlig verhuschte Privatsekretärin bis in die verruchte Welt der Nachtclubs, ihrer Betreiber und Angestellten führt, die von einem besseren Leben träumen und das große Los gezogen zu haben glauben, wenn sie in eine reiche Familie einheiraten können. 
Auf gewohnt lakonische wie vertrackte Art führt Chandler seinen ausgebufften Protagonisten durch die verschiedenen Milieus, lässt ihn stets einen selbstbewussten, kecken Ton anschlagen, wenn ihm die Cops, selbstgefällige Lackaffen und schmierige Unterweltgrößen zu dumm kommen, und entwirrt am Ende ein höchst kompliziertes Geflecht an Ereignissen und Abhängigkeiten, die auf einen Vorfall von acht Jahren zurückzuführen sind. Vor allem die pointierten Dialoge, die in Ulrich Blumenbachs neuer Übersetzung ebenso zeitgemäß wie modern wirken, machen „Das hohe Fenster“ zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, ebenso die versierten Beobachtungen, die Marlowe von seinem Umfeld anstellt. Dagegen wirkt der Fall selbst, das wird spätestens in Marlowes langem Monolog am Ende deutlich, etwas arg konstruiert. Davon abgesehen bieten gerade die Momente, in denen Marlowe es mit seiner Auftraggeberin und deren Privatsekretärin zu tun bekommt, höchst vergnügliche Episoden, die dokumentieren, dass Marlowe jede Art von Menschen zu nehmen versteht und sich von niemandem einschüchtern lässt.

 

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 4) „Die Lady im See“

Samstag, 30. Oktober 2021

(Diogenes, 326 S., HC) 
Raymond Chandler (1888-1959) zählt neben Dashiell Hammett und James M. Cain zu den großen amerikanischen Hardboiled-Krimiautoren. Seine Figur des melancholischen Privatdetektivs Philip Marlowe hat nicht zuletzt durch Humphrey Bogarts Verkörperung in Howard Hawks' „Tote schlafen fest“ die Vorstellung des Publikums von einem Privatdetektiv geprägt. Leider hat Chandler bis zu seinem Tod nur sieben Marlowe-Romane (neben etlichen Kurzgeschichten) geschrieben, die nun nach und nach in einer Neuedition vom Diogenes Verlag erscheinen. „Die Lady im See“ stellt dabei den vierten Band in der Chronologie dar. 
Als Philip Marlowe das Treloar Building an der Olive Street betritt, wo die Gillerlain Company ihren Sitz hat, ist er auf dem Weg zu Derace Kingsley, dem Geschäftsführer des Kosmetik-Unternehmens. Er beauftragt Marlowe damit, seine Ehefrau Crystal zu suchen, die vor einem Monat einen Wochenendtrip zum gemeinsamen Wochenendhaus in der Nähe vom Puma Point unternommen hat, aber seitdem nicht mehr gesehen wurde. Das letzte Lebenszeichen seiner Frau erhielt Kingsley in Form eines Telegramms, in der Crystal ankündigte, über die mexikanische Grenze zu gehen, um sich scheiden zu lassen. Offenbar wollte sie ihren Liebhaber, den Gigolo Chris Lavery, heiraten, doch der habe Kingsley vor kurzem gegenüber behauptet, Crystal seit zwei Monaten nicht mehr gesehen zu haben. Marlowe macht sich also auf den Weg zum Privatsee Little Fawn Lake, wo er mit Bill Chess den Verwalter der Häuser von Kingsley und seines Freundes trifft. 
Von ihm erfährt Marlowe, dass Chess‘ Frau Muriel fast zu gleichen Zeit wie Crystal verschwand. Dann entdeckt Marlowe zufällig eine Leiche im See, die Chess nur anhand ihrer Kleider als Muriel identifizieren kann. Als auch noch ihr Wagen und ihre Kleider in einem Schuppen im Wald nahe des Sees gefunden werden, deutet alles darauf hin, dass die Frau im See ermordet wurde. Marlowe sucht daraufhin Lavery auf und stellt fest, dass sich gegenüber das Haus von Dr. Albert S. Almore befindet, bei dem Muriel Chess unter dem Namen Mildred Haviland als Arzthelferin arbeitete. Nach dieser Mildred suchte bereits ein Polizist namens De Soto, wie Marlowe von einer Lokalreporterin erfährt. Marlowe durchsucht das Haus von Bill Chess, nachdem dieser wegen Mordverdachts festgenommen wurde, und entdeckt eine Kette mit der Gravur „Von Al für Mildred, 28. Juni 1938. In Liebe.“ 
Als Marlowe dann auch Lavery erschossen in seiner Wohnung auffindet, scheint der Fall um das Verschwinden von Crystal Kingsley und Muriel Chess immer komplizierter zu werden … 
„Kingsleys Frau war bestimmt schon zur Fahndung ausgeschrieben oder würde es bald sein. Für die war die Sache in trockenen Tüchern. Eine widerliche Angelegenheit unter ziemlich widerlichen Menschen, zu viel körperliche Liebe, zu viel Alkohol und zu viel Nähe, die in wildem Hass münden, in Mordlust und Tod. Mir war das alles ein wenig zu einfach.“ (S. 184) 
Für seinen 1943 unter dem Titel „The Lady in the Lake“ erschienenen vierten Roman hat sich Chandler seiner beiden bereits 1938 und 1939 veröffentlichten Kurzgeschichten „Bar City Blues“ und „The Lady in the Lake“ bedient sowie beim Verweben der beiden Storys zu einem Roman auch die Geschichte „No Crime in the Mountains“ (1941) berücksichtigt, wie der Übersetzer der Chandler-Neuedition, Rainer Moritz, in seinem Nachwort erwähnt. Chandler beschreibt Bay City, wo sich der Großteil der Handlung abspielt, als wahren Sündenpfuhl, wo Dr. Almore die Prominenten mit Dorgen versorgt, schöne Frauen reihenweise den Männern die Köpfe verdrehen und sie als Wracks zurücklassen, und korrupte Cops wie Degarmo und die gewalttätigen Streifencops Cooney und Dobbs nahezu ungehindert ihre eigenen Dinger drehen. Auch wenn Philip Marlowe in erster Linie dem Police Captain Webber bei der Aufklärung der Morde hilft und dabei Kingsleys Auftrag nicht aus den Augen verlieren will, entpuppt sich „Die Lady im See“ weniger als klassischer Whodunit-Krimi, sondern als vertracktes Spiel um Identitäten, in das übrigens nicht nur die Femmes fatale verwickelt sind. 
Zwar nehmen die Verwicklungen zwischen den Vermissten- und Mordfällen zum Ende hin fast unübersichtliche Züge an, doch Chandler versteht es, mit seinem lakonischen Humor und seiner pointierten Sprache den Leser bei Laune zu halten, um Seite an Seite mit dem zutiefst moralischen Philip Marlowe zuzusehen, wie die Ordnung in der zerrütteten Welt wieder hergestellt wird.  

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 5) „Die kleine Schwester“

Montag, 21. September 2020

(Diogenes, 352 S., HC) 
Der 38-jährige Privatdetektiv Philip Marlowe ist seit fünf Minuten hinter einer Schmeißfliege in seinem heruntergekommenen Büro in Los Angeles her, als eine junge Frau mit Kleinmädchenstimme anruft und sich einen ersten Eindruck davon verschaffen möchte, ob Marlowe der richtige Mann für das sein könnte, was sie benötigt. Wenig später sitzt sie auch schon in seinem Büro, Orfamay Quest aus Manhattan, Kansas, und berichtet dem Detektiv, dass sie nach ihrem Bruder Orrin sucht, der nach seinem Studium als Ingenieur für die Cal-Western Aircraft Company in Bay City zu arbeiten begann. Da seine Briefe an Mutter und an sie selbst aber seit Monaten ausgeblieben sind, hat Orfamay sich auf die Reise nach Bay City gemacht, doch aus dem Fremdenheim, dessen Adresse sie von Orrin hatte, ist er ohne bekanntes Ziel ausgezogen, sein Arbeitgeber habe ihn entlassen. 
Obwohl er die zwanzig Dollar Vorschuss von Orfamay letztlich nicht annimmt, ist Marlowes Neugierde geweckt. Nachdem er sich in Orrins alter Absteige umgesehen hat, entdeckt er den Verwalter Lester B. Clausen in seiner Wohnung – mit einem Eispickel im Nacken. Wenig später bekommt es Marlowe nicht nur mit den hartnäckigen Cops French und Maglashan zu tun, weil der Privatschnüffler wenig später einen weiteren Toten mit einem Eispickel im Nacken entdeckt. Seine Ermittlungen führen ihn sowohl in den Dunstkreis des Gangsters Weepy Moyer als auch in die gar nicht so glamouröse Welt von Hollywood. 
„Für wen schneide ich mir diesmal die Halsschlagader auf? Für eine Blondine mit sexy Augen und zu vielen Schlüsseln? Für ein Mädchen aus Manhattan, Kansas? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass nicht alles ist, wie es scheint, und das gute alte Bauchgefühl sagt mir, dass der oder die Falsche den Pott verliert, wenn alle ihre Karten so ausspielen, wie sie ausgeteilt worden sind? Geht mich das etwas an? Weiß ich das? Habe ich es jemals gewusst? Fangen wir nicht damit an. Du bist heute kein Mensch, Marlowe. War ich vielleicht nie, werde ich vielleicht nie sein.“ (S. 111) 
Mit seinem ersten Roman um Philip Marlowe, „The Big Sleep“, gelang dem 1888 in Chicago geborenen, aber zunächst in England lebenden Raymond Chandler gleich ein großer Erfolg. 1946 wurde das Buch durch Howard Hawks mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle auch noch wunderbar verfilmt. Bis zu seinem Tod 1959 erschienen sechs weitere Marlowe-Romane, das unvollendete Manuskript zu „Poodle Springs“ wurde erst 1989 durch Robert B. Parker fertiggestellt. 
Mit dem fünften Band der Marlowe-Reihe, „Die kleine Schwester“, hat Chandler 1949 einen coolen Hardboiled-Krimi geschaffen, der Marlowe wieder mit einigen geheimnisvollen, sexy Frauen zusammenbringt, die den Detektiv lange an der Nase herumführen. Es ist aber weniger der komplexe Plot, der „Die kleine Schwester“ so unterhaltsam macht, sondern die Art und Weise, wie Marlowe als Ich-Erzähler mit flotten, zynischen Sprüchen an sein Ziel zu kommen versucht, die Affäre um ein Foto und die offensichtlich damit zusammenhängenden Morde aufzuklären. 
Interessant sind dabei vor allem seine wehmütigen Erinnerungen, als Los Angeles noch kein heruntergekommener Slum mit Neon-Beleuchtung war, sondern ein sonniger, friedlicher Ort, in dem die Menschen draußen auf der Veranda schliefen. Chandler gelingt es, allein durch die knackigen Dialoge ein Gespür für die Zeit bei seinen Lesern zu entwickeln, für die Atmosphäre, in der Cops, Gauner und Hollywood-Sternchen in ihrem Wirken kaum auseinanderzuhalten sind und die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen lassen. Dass sich die Marlowe-Romane aber mehr als sechzig Jahre nach ihrer Entstehung immer noch so flüssig lesen lassen, liegt einfach auch an der wahrhaften Beschreibung menschlicher Tugenden und Schwächen, an der Hoffnung, die Marlowe trotz aller Rückschläge tapfer in seinem Herzen trägt. Das ist einfach große Literatur, die in der neuen Übersetzung von Robin Detje ihren ganzen sprachlichen Glanz verbreitet. Dazu hat Michael Connelly der Neuausgabe noch ein Nachwort gespendet, in dem er begründet, warum gerade „Die kleine Schwester“ sein Lieblingsbuch von Chandler ist. 

Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 1) „Der große Schlaf“

Samstag, 19. Oktober 2019

(Diogenes, 294 S.)
Der in Los Angeles lebende und arbeitende Privatdetektiv Philip Marlowe wird eines Vormittags im Oktober zum vier Millionen Dollar schweren General Sternwood gebeten, der nicht nur an seinen Altersgebrechen leidet, sondern vor allem an den wilden Eskapaden seiner beiden Töchter. Nachdem seine jüngere Tochter Carmen bereits von einem Mann namens James Brody um fünftausend Dollar erpresst worden ist, damit er sie in Ruhe lässt, dreht es sich nun um Schuldscheine, die auf Carmens misslungenen Glücksspiel-Aktivitäten zurückzuführen sind und für die der Buchhändler Arthur Geiger eine Summe von eintausend Dollar verlangt. Während der Unterhaltung kommt die Sprache auch auf Rusty Regan, einen ehemaligen IRA-Offizier, dessen Ehe mit Sternwoods älterer Tochter Vivian sich als Farce entpuppt hat, an dem der alte Mann aber einen Narren gefressen hat. Dass Regan einfach spurlos verschwunden ist, macht Sternwood schwer zu schaffen.
Auch wenn er Marlowe nicht explizit damit beauftragt, auch nach Regan zu suchen, spielt der Vermisste im Verlauf der Ermittlungen immer wieder eine Rolle. Als Marlowe Geigers Buchhandlung aufsucht, stellt er fest, dass sich Geiger auf den Handel mit illegalen pornographischen Werken spezialisiert hat. Schließlich folgt er dem Buchhändler nach Hause, hört Pistolenschüsse, findet Geiger tot und Carmen Sternwood nackt – unter offensichtlich unter Drogeneinfluss – auf einem Sessel vor einer Kamera vor, deren Fotoplatte entfernt worden ist. Nun wird auch Carmen erpresst, will sie die Nacktfotos der vergangenen Nacht zurückhaben. Marlowe stellt Verbindungen zwischen Geiger und Joe Brody her, zwischen Vivian und dem Gangster Eddie Mars, in dessen Spielcasino sie regelmäßig Gast ist, und bekommt zu hören, dass Eddies Frau Mona mit Rusty Regan durchgebrannt sein soll.
Als auch noch Sternwoods Chauffeur tot in seinem Auto aus dem Hafenbecken geborgen wird, scheinen die Dinge immer verworrener zu werden, und Marlowe hat einige Mühe, den Überblick zu behalten, zumal die Frauen in dieser Geschichte ihm immer wieder Avancen machen …
„Ich schaute sie wieder an. Jetzt lag sie still, ihr Gesicht bleich auf dem Kissen, die Augen groß und dunkel und so leer wie Regenfässer bei Dürre. Eine ihrer kleinen fünffingrigen, daumenlosen Hände zupfte ruhelos an der Decke. Irgendwo in ihr erwachte ein schwaches Glimmen des Zweifels. Sie wusste noch nichts davon. Frauen – selbst netten Frauen – fällt es schwer einzusehen, dass ihre Körper nicht unwiderstehlich sind.“ (S. 194) 
Der 1888 in Chicago geborene und in England aufgewachsene Raymond Chandler hatte bereits eine bewegte Karriere (u.a. im britischen Marineministerium, als Journalist, Buchhalter in einer Molkerei, Soldat im Ersten Weltkrieg und Direktor einer kalifornischen Ölgesellschaft) hinter sich, ehe er sich ernsthaft dem Schreiben widmete und erst im Alter von 51 Jahren 1939 mit „The Big Sleep“ seinen ersten Roman veröffentlichte. Der mittlerweile zum Klassiker nicht nur der Kriminalliteratur avancierte Roman stellte nicht nur die später von Humphrey Bogart („Tote schlafen fest“, 1946) und Robert Mitchum („Tote schlafen besser“, 1978) im Kino verkörperte Figur des Privatdetektivs Philip Marlowe vor, sondern wurde Teil der sogenannten „Schwarzen Serie“, in der neben Chandler Autoren wie Dashiell Hammett, James M. Cain und Ross Macdonald ihre hartgesottenen Ermittler in einer Welt agieren ließen, die bis in ihre Grundfesten korrupt und zerrüttet schien.
Donna Leon weist in ihrem Nachwort zu wunderbaren Neuübersetzung des Romans durch Frank Heibert darauf hin, dass Chandler die heile Welt der Agatha-Christie-Romane zur Hölle schickte. Wenn dort ein Verbrechen die Norm verletzte, wurde der Bösewicht festgenommen und bestraft, womit die Ordnung wiederhergestellt worden war. Dass für Chandler die gesellschaftlichen Regeln außer Kraft gesetzt und durch alle Schichten Neid, Missgunst und Gier zu beobachten sind, machen seine Romane, die Diogenes nun nach und nach in überarbeiteten Fassungen wiederveröffentlicht, zu vielschichtigen Milieustudien. Dabei scheint die Handlung fast schon zur Nebensache zu werden. Die fällt bereits in Chandlers Debütroman so komplex aus, dass der Handlung und den Motiven der unzähligen Beteiligten kaum zu folgen ist. So werden bestimmte Vorkommnisse auch gar nicht aufgeklärt und dienen nur dazu, die Verderbtheit der Menschen in einer Welt aufzuzeigen, in der sich niemand an Regeln zu halten scheint.
Marlowe selbst bewegt sich dabei selbstbewusst zwischen den Reichen und den Gangstern auf der Straße, zwischen dem oberflächlichen Glanz und dem Schmutz in den Gassen. Mit seiner ihm eigenen Prinzipientreue scheint er schon eine wohltuende Ausnahme in einer moralisch verkommenen Welt zu bilden. Auch wenn sich die Ereignisse in „Der große Schlaf“ immer wieder überschlagen und unzählige Orte und Figuren ins Spiel kommen, nimmt sich Chandler viel Zeit, die düstere Atmosphäre von Verzweiflung, Sehnsucht und Gier sowie die Charakter seiner Figuren zu beschreiben. Seine phantasievollen Allegorien wirken auch nach achtzig Jahren herrlich erfrischend und machen Marlowes Konfrontationen mit den Bösen und Blondinen so lesenswert.
Leseprobe Raymond Chandler - "Der große Schlaf"