(Diogenes, 320 S., HC)
Mit dem Privatdetektiv Philip Marlowe hat Raymond Chandler (1888-1959) eine Kultfigur der Kriminalliteratur und den Prototyp des melancholischen, eigenbrödlerischen Ermittlers geschaffen,
der vor allem in der Verkörperung durch Humphrey Bogart in Howard Hawks‘ Verfilmung von „The Big Sleep“ (1946) nachhaltig in Erinnerung blieb. Zu Hollywood hatte der Schriftsteller seit jeher eine innige Beziehung. So schrieb Chandler die Drehbücher zu Billy Wilders „Frau ohne Gewissen“ (1944), George Marshalls „Die blaue Dahlie“ (1946) und Alfred Hitchcocks „Der Fremde im Zug“ (1951), während die meisten seiner acht Marlowe-Romane auch verfilmt wurden. Das 1942 veröffentlichte Werk „The High Window“ war übrigens der erste Marlowe-Roman, der verfilmt wurde. Nun erscheint „Das hohe Fenster“ bei Diogenes als Teil der Neuübersetzungen der Philip-Marlowe-Reihe.
Philip Marlowe wird nach Pasadena gebeten, wo mit Mrs. Elizabeth Bright Murdock die mürrische und zänkische Witwe von Jasper Murdock im Stadtteil Oak Knoll lebt. Sie beauftragt Marlowe damit, ihr eine wertvolle Goldmünze wiederzubeschaffen, die als sogenannte Brasher-Dublone Teil einer limitieren Probeprägung aus dem 18. Jahrhundert ist und mit einem Wert von zehntausend Dollar beziffert wird. Der alte Herr hat in seinem Testament verfügt, dass seine Münzsammlung auch nicht zu Lebzeiten seiner Frau – auch nicht in Teilen - veräußert werden dürfe. Marlowes Auftraggeberin hätte den Diebstahl auch nicht bemerkt, wenn nicht ein gewisser Mr. Elisha Morningstar aus Los Angeles angerufen hätte, um sich nach dem Verkauf der Münze zu erkundigen.
Erst bei der Überprüfung der Sammlung sei ihr das Fehlen des kostbaren Stücks aufgefallen. Mit der ebenfalls verschwundenen Schwiegertochter, der ehemaligen Revue-Tänzerin Linda Conquest, hat Mrs. Murdock auch gleich die passende Verdächtige an der Hand. Diskretion ist natürlich Pflicht. Vor allem Mrs. Murdocks Sohn Leslie solle nichts von der Sache erfahren, wahrscheinlich wisse er ohnehin nicht, dass die Münze verschwunden ist. Da nur die Hausbewohner und Angestellten an die verschlossene Kassette mit den Münzen herangekommen sein könnten, nimmt Marlowe auch Mrs. Murdocks pflichtbewusste Privatsekretärin Merle Davis und Leslie Murdock ins Visier.
Auf dem Weg nach Los Angeles zum Münzhändler Morningstar bemerkt Marlowe, dass er von einem sandfarbenen Coupé verfolgt wird, dessen Fahrer sich wenig später als ungeschickter Privatdetektiv George Anson Phillips entpuppt. Als sich Marlowe mit ihm in dessen Wohnung treffen will, findet er Anson allerdings tot vor. Doch bei diesem Todesfall bleibt es nicht. Marlowe gerät bei seinen Ermittlungen immer tiefer in ein Dickicht von unglücklichen Verbindungen, Gewissensbissen und Ungereimtheiten…
„Die beinernen Schachfiguren, rot und weiß, standen marschbereit in Reih und Glied und wirkten so zackig, kompetent und kompliziert wie immer am Anfang einer Partie. Es war zehn Uhr abends, ich saß in meiner Wohnung, hatte eine Pfeife im Mund, einen Drink am Ellbogen und nichts im Kopf als zwei Mordopfer und das Rätsel, wie Mrs. Elizabeth Bright Murdock ihre Brasher-Dublone zurückbekommen haben konnte, wenn ich die in der Tasche hatte.“ (S. 131)
Einmal mehr Philip Marlowe mit einem höchst komplizierten Fall betraut, der den aufgeweckten Privatdetektiv von einer kratzbürstigen und geizigen wie wohlhabenden Witwe über eine völlig verhuschte Privatsekretärin bis in die verruchte Welt der Nachtclubs, ihrer Betreiber und Angestellten führt, die von einem besseren Leben träumen und das große Los gezogen zu haben glauben, wenn sie in eine reiche Familie einheiraten können.
Auf gewohnt lakonische wie vertrackte Art führt Chandler seinen ausgebufften Protagonisten durch die verschiedenen Milieus, lässt ihn stets einen selbstbewussten, kecken Ton anschlagen, wenn ihm die Cops, selbstgefällige Lackaffen und schmierige Unterweltgrößen zu dumm kommen, und entwirrt am Ende ein höchst kompliziertes Geflecht an Ereignissen und Abhängigkeiten, die auf einen Vorfall von acht Jahren zurückzuführen sind. Vor allem die pointierten Dialoge, die in Ulrich Blumenbachs neuer Übersetzung ebenso zeitgemäß wie modern wirken, machen „Das hohe Fenster“ zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, ebenso die versierten Beobachtungen, die Marlowe von seinem Umfeld anstellt. Dagegen wirkt der Fall selbst, das wird spätestens in Marlowes langem Monolog am Ende deutlich, etwas arg konstruiert. Davon abgesehen bieten gerade die Momente, in denen Marlowe es mit seiner Auftraggeberin und deren Privatsekretärin zu tun bekommt, höchst vergnügliche Episoden, die dokumentieren, dass Marlowe jede Art von Menschen zu nehmen versteht und sich von niemandem einschüchtern lässt.
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