Ian McEwan – „Lektionen“

Montag, 3. Oktober 2022

(Diogenes, 720 S., HC) 
Seit seiner 1975 veröffentlichten Geschichtensammlung „First Love, Last Rites“, die 1982 in der Übersetzung von Harry Rowohlt im deutschen Sprachraum als „Erste Liebe, letzte Riten“ erschienen ist, hat sich der Brite Ian McEwan als einer der bekanntesten europäischen Schriftsteller etabliert, dessen Werke regelmäßig auch verfilmt werden. 2017 gelangten mit „Kindeswohl“, „Am Strand“ und „Ein Kind zur Zeit“ sogar gleich drei McEwan-Adaptionen in die Kinos. Auch in seinem neuen Werk, der auf über 700 Seiten episch angelegten Familiengeschichte „Lektionen“, berührt McEwan wieder Themen, die sich auf die eine oder andere Weise in jedermanns Leben wiederfinden, vor allem die Frage, was den individuellen Menschen ausmacht. 
Für Roland Baines bricht eine Welt zusammen, als er im Frühjahr 1986 mit Mitte dreißig von seiner Frau Alissa verlassen wird und im Zuge ihres spurlosen Verschwindens sogar von der Polizei mit dem Verdacht konfrontiert wird, ein Verbrechen begangen zu haben. Die Postkarten, die Alissa ihm und ihrem gemeinsamen Sohn Lawrence regelmäßig mit dem gleichen Wortlaut aus Dover, Paris, Straßburg und München geschickt hat, werden mit Handschriftenproben verglichen. Monate nach ihrem Verschwinden, das sie nur mit einer kurzen Notiz kommentiert hat („Ich habe das falsche Leben gelebt. Bitte vergib mir, wenn du kannst.“), rekapituliert Baines, wie es dazu kommen konnte, und erzählt seine Geschichte. 
In Libyen als Sohn eines Armeeoffiziers aufgewachsen, kommt im Spätsommer 1959 mit seinen Eltern nach England, wird Zeuge eines Motorradunfalls mit Todesopfern und wird er im Alter von elf Jahren in ein Internat gesteckt. Ihm ist noch nicht klar, dass er die nächsten sieben Jahre dort verbringen und anschließend erwachsen sein wird. Was ihn allerdings am meisten prägt, sind die Klavierstunden bei der Mitte zwanzigjährigen Miriam Cornell, die den dann vierzehnjährigen Jungen verführt und sogar zu seinem sechzehnten Geburtstag in Schottland zu heiraten beabsichtigt. Roland kann sich gerade noch rechtzeitig aus dieser Abhängigkeit und Umklammerung befreien, treibt dann aber recht ziellos durchs Leben. Seine anfänglich so vielversprechende Karriere am Klavier verfolgt er nicht weiter. Stattdessen hält er sich als Tennislehrer, Teilzeit-Journalist und Bar-Pianist über Wasser, bis er beim Deutschunterricht am Goethe-Institut Alissa Eberhardt kennen- und lieben lernt. Doch die angehende Schriftstellerin fühlt sich in der Ehe eingeengt und hat erst dann den ersehnten Erfolg, als sie nach Deutschland zurückkehrt, wo sie sogar als Kandidatin für den Literaturnobelpreis gehandelt wird. Roland heiratet schließlich seine alte Freundin Daphne, nachdem er zuvor fast wahllos von einer Affäre zur nächsten gesprungen war. 
Als Daphne viel zu früh an Krebs stirbt, macht er sich daran, sowohl Alissa aufzusuchen als auch seine frühere Klavierlehrerin, die sich für den begangenen Missbrauch nun der Strafverfolgung ausgesetzt sieht… 
„Alissas Verschwinden hatte eine Schneise in die Vergangenheit geöffnet. Fast, als wären Bäume gefällt worden für einen besseren Blick. In seltenen Momenten wie diesem sah er, als scharf umrissenen Lichtpunkt, den Ursprung all dessen, was ihm zusetzte, und all denen, die ihm nahekamen. Die Klavierlehrerin, die ihn in jener ersten Nacht heimgesucht hatte, spukte ihm oft im Kopf herum.“ (S. 310) 
Ian McEwans „Lektionen“ ist weit mehr als die Geschichte eines Lebens. In seinem umfangreichsten Roman holt der versierte Schriftsteller weit aus, lässt die Lebensgeschichte seiner Eltern, seiner beiden Halbgeschwister Henry und Susan und anderer mit gesellschafts- und geopolitischen Ereignissen wie die Widerstandsbewegung Weiße Rose, die Suez- und Kuba-Krise, die nukleare Bedrohung nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl, der Falkland-Krieg, Margaret Thatchers Regierungszeit, der Aufschwung der Labour-Party, Gorbatschow und der Fall der Berliner Mauer bis hin zum Klimawandel, Brexit und Umgang mit der Corona-Pandemie. 
Die Einbettung in den historischen Kontext hätte McEwan, der einige biografische Verweise wie das Alter, die Kindheit in Libyen und die Halbgeschwister in seinen Roman hat einfließen lassen, allerdings etwas kürzen können, denn die tatsächlich entscheidenden Momente in Roland Baines‘ Leben spielen sich auf rein persönlicher Ebene ab. 
Wenn der Autor die Beziehungen und Konflikte mit der Klavierlehrerin und Alissa beschreibt, hat „Lektionen“ seine stärksten Momente, denn hier fährt alles auf, was zwischenmenschliche Beziehungen ausmacht, mit allen Höhen und Tiefen, Erwartungshaltungen, Enttäuschungen und Konflikten. Dabei rückt die Rücksichtslosigkeit von Künstlern, die im Dienste ihrer Kunst alles andere vernachlässigen, ebenso in den Vordergrund wie die Frage nach Lust und Schuld in dem Missbrauchsfall, mit dem Roland seine Klavierlehrerin nach Jahrzehnten konfrontiert. 
Es sind keine „Lektionen“ mit ausgestrecktem Zeigefinger, McEwan bietet keine Antworten auf die komplexen moralischen Fragen, die sich Roland Baines am Wendepunkt seines Lebens zu stellen beginnt und denen er bis ins hohe Alter folgt, sondern präsentiert schon eine altersmilde Gelassenheit gegenüber den geschichtlichen Ereignissen, die man nicht beeinflussen kann, gegenüber den Menschen, die man geliebt und die einen verletzt haben. 
Am Ende ist „Lektionen“ eine reflektierte Lektion über die Unwägbarkeiten des Lebens schlechthin. 

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