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Jo Nesbø – (Ihr Königreich: 2) „Der König“

Mittwoch, 13. November 2024

(Ullstein, 432 S., HC) 
Neben seiner Reihe um den eigensinnigen Kommissar Harry Hole, die den norwegischen Schriftsteller berühmt gemacht hat, veröffentlicht Jo Nesbø in den vergangenen Jahren auch immer öfter davon unabhängige Romane, die in ihrer Qualität allerdings sehr unterschiedlich ausfallen. Vor vier Jahren hat Nesbø mit „Ihr Königreich“ einen Thriller veröffentlicht, der das ehrgeizige Spa-Hotel-Projekt der beiden Brüder Roy und Carl Opgard thematisierte – und allerlei Intrigen, Affären und Morde, mit denen die Opgards ihr Hab und Gut und ihre ambitionierten Pläne zu retten versuchten. Nun ist mit „Der König“ eine fesselnde Fortsetzung erschienen. 
Roy Opgard und sein jüngerer Bruder Carl haben sich mit Os Spa ihren Traum von einem Luxushotel in ihrem Heimatort Os verwirklicht. Während Carl sich vornehmlich um das Hotel kümmert, verantwortet Roy die Tankstelle und eine Kneipe, schlägt sich aber vor allem mit den Plänen für die weltgrößte Holzachterbahn herum, die zum Prunkstück eines dazugehörigen Freizeitparks werden soll. 
Einmal mehr sind die beiden Brüder, die mehr als nur den Mord an ihren Eltern auf dem Gewissen haben, gezwungen, mit etlichen Herausforderungen zu kämpfen und dabei wenig zimperlich auch den einen oder anderen Querulanten über die Klinge springen zu lassen. Zunächst einmal sind die beiden Geologen davon zu überzeugen, in ihrem Gutachten zu dem Schluss zu kommen, dass der geplante Todde-Tunnel nicht gebaut werden kann, denn mit dem Tunnel würde der Riksveis, der schon immer durch Os geführt hat, vom Ort weg verlegt werden, was dem Hotel und seinem Wert unermesslichen Schaden zufügen würde. 
Aber auch der örtliche Polizeichef Kurt Olsen, gleichzeitig Trainer der von Carl und Roy gesponserten Fußballmannschaft von FK Os, hängt den beiden Brüdern an den Fersen, ist er doch – zurecht – davon überzeugt, dass sie ihre Finger im Spiel beim Tod seines Vaters hatten. Auf jeden Fall müssen die Opgards einen großen Kredit aufnehmen, um nicht die Geologen bestechen, sondern auch den geplanten Freizeitpark realisieren können. Es müssen also einige Schlüsselfiguren entsprechend bearbeitet werden, aber auch die Brüder kommen sich bei der Realisierung ihrer jeweiligen Träume zunehmend einander ins Gehege… 
„Es ist merkwürdig, wenn einem ein Mensch, mit dem man über so viele Jahre so eng zusammengelebt hat, plötzlich wie ein Fremder vorkommt. Man schiebt es auf das Licht oder die eigene Müdigkeit, schließlich handelt es sich ja um den eigenen kleinen Bruder, der nichts vor die verbergen kann, bis einem klar wird, dass man ja noch nicht einmal sich selbst richtig kennt.“ 
Wie schon in dem – fast verjährten - Vorgänger „Ihr Königreich“ lässt Nesbø auch in „Der König“ Roy Osgard als Erzähler auftreten, was der Geschichte eine sehr persönliche, aber eben auch bewusst subjektive, einseitige Perspektive verleiht. Die wesentlichen Ereignisse, Umstände und Beziehungsgeflechte des ersten Romans werden dem nichtkundigen Leser nebenbei vermittelt, vor allem der von Roy forcierte Mord an den eigenen Eltern, nachdem sich der Vater an Carl vergangen hatte. Dass Roy immer wieder Carls „Pannen“ ausbügeln muss, kommt auch in „Der König“ zum Tragen, bis aus der eingeschworenen Bruderliebe eine tödliche Rivalität wird. Schließlich haben die beiden Alphatiere ihr Leben lang u.a. Spaß daran gehabt, ihrem Bruder die Lebensgefährtin auszuspannen. 
Diesmal spielt Roys neue, sehr junge Freundin Natalie Moe eine entscheidende Rolle. Die romantische Beziehung zwischen Roy und Natalie verleiht dem Ich-Erzähler einige Sympathiepunkte, erscheint er hier doch durchaus als liebenswerter Mensch, was man von seinem sonst sehr pragmatischen, eigennützigen Verhalten nicht sagen kann. Nesbø baut geschickt die Spannung und die Konflikte auf, überspannt bei den Wendungen zum Finale etwas den Bogen, liefert aber alles in allem einen lesenswerten, kurzweiligen Thriller ab, der durchaus Potential für eine weitere Fortsetzung bietet.

Andrew O‘Hagan – „Caledonian Road“

Donnerstag, 22. August 2024

(Ullstein, 784 S., HC) 
Der aus Glasgow stammende Andrew O’Hagan ist hierzulande kaum bekannt, doch das könnte sich mit seinem epischen Gesellschaftsroman „Caledonian Road“ ändern. Dabei veröffentlichte er bereits 1995 mit „The Missing“ sein erstes Buch, nachdem er vier Jahre dem Redaktionsstab von „London Review of Books“ angehört hatte. Seither folgten sechs Romane, zwei weitere Sachbücher und als Ghostwriter die unautorisierte Biografie von Julian Assange. „Caledonian Road“ ist nach „Mayflies“ der siebte Roman des Schotten und setzt sich auf kluge Weise mit dem auseinander, was in der heutigen britischen Gesellschaft schiefläuft. 
Der 52-jährige, in London lebende Kunsthistoriker Campbell Flynn befindet sich im Mai 2021 auf der Höhe seines intellektuellen Schaffens. Sein während des Lockdowns erschienene Biografie über den niederländischen Maler Vermeer entwickelte sich zu einem Bestseller, sein BBC-Podcast „Kultur und ihre Unzulänglichkeiten“ erreichte auch ein jüngeres Publikum, und in der Aktentasche wartet bereits das Manuskript für sein nächstes Projekt. 
Dennoch könnte die Welt rosiger aussehen. Zwar konnte Flynn die ärmlichen Verhältnisse, in denen er aufgewachsen war, hinter sich lassen und mit der Psychotherapeutin Elizabeth, der 54-jährigen Tochter einer Gräfin, als Frau Eingang in die bessere Gesellschaft finden, doch verfügt er längst nicht über die finanziellen Mittel, die ihm seiner Meinung nach zustehen sollten. Dazu kommt, dass ausgerechnet sein bester Freund, der Kaufhauskönig Sir William Byre, in einen üblen Finanzskandal verwickelt ist, der immer größere Wellen schlägt, zumal bekannt wird, dass er eine 23-jährige Frau, der er eine Wohnung gekauft hat, misshandelt haben soll. Byre hat seinem Freund Flynn nicht nur mit einem großzügigen Darlehen ausgeholfen, sondern seinerseits zwielichtige Geschäfte mit den Russen gemacht, die durch den Ukraine-Krieg natürlich nicht mehr besonders angesehen sind. 
Abhilfe soll Flynns neues Buch schaffen, wobei „Männer, die in Autos weinen. Die Krise der männlichen Identität im 21. Jahrhundert“ unter dem Pseudonym des bekannten Schauspielers Jake Hart-Davis erscheinen und Millionen einbringen, doch Hart-Davis macht in Interviews zum Buch eine schlechte Figur und proklamiert einen Männer-Begriff, der in der Öffentlichkeit angesichts der MeToo-Bewegung gar nicht gut ankommt, denn Männer seien eigentlich Opfer. Einen Ausweg aus dem Dilemma scheint ihm der Student Milo Mangasha anzubieten, der Flynn in die Welt des Darknets, der Deepfakes und zwielichtiger Geschäfte mit Kryptowährungen einführt. Nach ahnt er nicht, dass er selbst nur ein Spielball von Kräften darstellt, über die er keine Kontrolle besitzt… 
„Er hatte immer recht unbekümmert über das Gute geschrieben, über Wahrheit und Harmonie, aber hatte er sich von diesen Dingen nicht in Wirklichkeit weit entfernt, und hatte er jetzt noch eine andere Wahl, als einen Weg zurück zu finden? Heuchler leben davon, dass sie ihre Position gegen die äußere Realität verteidigen, das wusste er, aber in diesem Jahr, in diesem Frühling, war es Campbell klar geworden, dass er das mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren konnte.“ 
Allein die Tatsache, dass O’Hagan seinem fast 800 Seiten umfassenden Roman ein Verzeichnis mit 60 Personen voranstellt, macht deutlich, dass es bei „Caledonian Road“ nicht nur um die Geschichte des Abstiegs eines Mannes geht, dem seine Eitelkeit und sein Unvermögen, mit Geld umzugehen, zum Verhängnis wird. Es geht auch darum, wie Geschäfte mit illegalen Einwanderern gemacht werden, wie die Verzweigungen der britischen Wirtschaft mit russischen Oligarchen den Brexit finanziert haben sollen. 
In leicht verständlicher Sprache streift O’Hagan die Welt der Galerien, der Medien, der Schleuser und der jungen Leute, die sich irgendwie orientieren wollen, gegen Korruption und Heuchelei ankämpfen und sich einen Platz in dieser Welt erobern wollen, ohne andere auszubeuten. Allerdings hat der Autor mit der immensen Herausforderung zu kämpfen, all seine Figuren so unterzubringen, dass man sie als Leser nicht aus den Augen verliert. Das gelingt ihm nur bei den wenigsten. 
Dazu findet sich in „Caledonian Road“ auch keine echte Identifikationsfigur, so dass man die beschriebenen Mechanismen in der Welt von heute zwar wahrnimmt, aber kaum Mitgefühl oder auch nur Sympathie für die Figuren aufbringt. Nichtsdestotrotz ist O’Hagan ein humorvolles und weitsichtiges Gesellschaftsportrait der von Lockdown und Brexit arg gebeutelten Briten gelungen. 

James Ellroy – „Die Bezauberer“

Mittwoch, 3. Juli 2024

(Ullstein, 672 S., HC) 
James Ellroy darf getrost als legitimer Erbe von Hardboiled-Autoren wie Ross Macdonald, Dashiell Hammett und Raymond Chandler angesehen werden. Wie finster und abgründig seine Werke sind, demonstrieren allein schon die auf seinen Geschichten basierenden Verfilmungen wie „L.A. Confidential“, „Dark Blue“ und „Street Kings“. Nun legt der Meister des schwarzen Krimis mit „Die Bezauberer“ ein ideenreiches, verspieltes und verstörendes Werk rund um den Tod von Hollywood-Ikone Marilyn Monroe vor. 
Als Anfang August 1962 die B-Film-Schauspielerin Gwen Perloff eines Spätnachmittags von drei Männern mit Fidel-Castro-Masken entführt worden ist, bekommt Darryl F. Zanuck, Chef von 20th Century Fox, die Information, dass Rick Danforth und Buzzy Stein dahintersteckten, und informiert wiederum Polizeichef Bill Parker. Er schickt den legendären Schnüffler Freddy Otash und die sogenannten „Herrenhüte“ los, die beiden Männer zum Reden zu bringen, wobei Otash den Verdächtigen Danforth skrupellos von der Klippe am Freeway in den Tod stößt und so durch dessen Komplizen das Versteck mitgeteilt bekommt, in dem Perloff gefangen gehalten worden ist. 
Doch es kommt noch schlimmer: Marilyn Monroe wird nach einem tödlichen Pillencocktail tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Ihr Tod ist nicht zuletzt deshalb so brisant, weil Otash zuvor erst den Auftrag von dem mit der Mafia verkehrenden Gewerkschaftsführer Jimmy Hoffa den Auftrag erhalten hatte, die Wohnung der Schauspielerin zu verwanzen, um nach ihrem Tod im Auftrag von Parker Material ausfindig zu machen, das US-Präsident John F. Kennedy von Gerüchten um eine Affäre mit der Toten befreit. Während seiner Recherchen stößt Otash tief in einen Sumpf von Affären und schmutzigen Geschäften und kommt einem „Sex-Widerling“ auf die Spur, der bereits sechs geschiedenen Frauen aufgelauert hatte. Es geht um Aktienhandel und Drogengeschäfte, um Pornos und sogenannte „Fick-Karten-Decks“, bei denen niemand Geringerer als Orson Welles den Auslöser betätigt haben und auch die Monroe beteiligt gewesen sein soll. 
„Innerhalb ihres allumfassenden Niedergangs musste Marilyn Monroe ein Geheimleben führen. Das sie befähigte, selbst dann überlegt und präzise Kurs zu halten, wenn das innere Chaos sie zu überwältigen drohte. Eine eindeutige Schlussfolgerung aus theoretischen Überlegungen und praktischen Erkenntnissen. Das betraf ihr Bargeldversteck, ihre Verkleidungen, ihre heimlichen Telefonate und ihren Ausflug ins Valley. Ebenso ihren schrägen Fahrstil und die zugehörigen Polizisten-Flirts. Alles in allem verwies das auf eine neu belebte Tollkühnheit, verbunden mit einer irren Verachtung des eigenen goldenen Käfigs, dessen Grenzen und Regeln sie nun durch ein verblüffendes und verblüffend anonymes neues Rollenspiel zu überschreiten suchte.“ 
Allein der Umstand, dass Ellroy seinen neuen Roman rund um den von Verschwörungstheorien umrankten Tod von Marilyn Monroe angesiedelt hat, macht neugierig. Der preisgekrönte Schriftsteller etabliert mit dem real existierenden Freddy Otash (1922-1992), der übrigens Pate für Jack Nicholsons Figur Jake Gittes in Roman Polanskis „Chinatown“ stand, eine Figur mit eidetischem Gedächtnis und korruptem Charakter. Im Sauseschritt rast Otash durch den Sündenpfuhl in Hollywood, in dem Liz Taylor und Richard Burton am Set des Mega-Flops „Cleopatra“ ebenso verwickelt sind wie ihr Porno-drehender Schauspielkollege Roddy McDowall, der Kennedy-Klan, schräge Psychiater und diverse Mafia-Größen. 
Es handelt sich dabei aber nicht um eine weitere Verschwörungstheorie, wer für Marilyn Monroes Tod verantwortlich gewesen sein könnte, sondern um eine rein fiktionale Bearbeitung einiger realer Umstände mit ebenso realen, allerdings stark verfremdeten Personen. Letztlich bekommen die Reichen und Schönen, die Begabten und Möchtegern-Promis allesamt ihr Fett weg. Wie Ellroy die Drogen- und Sexexzesse in ultrakurzen, pfeilschnellen Sätzen herunterballert, ist schon eine Wucht, aber natürlich nichts für Zartbesaitete. 
„Die Bezauberer“ fesselt mit prominenten Figuren und abstrus-obszönem Setting, das immer neue Haken schlägt und die Leserschaft am Ende atemlos und verstörend zurücklässt. 

 

Stephan Schäfer – „25 letzte Sommer“

Donnerstag, 14. März 2024

(Ullstein, 176 S., HC) 
Work-Life-Balance und Achtsamkeit sind seit Jahren in unserer Gesellschaft in aller Munde, unzählige Ratgeber und Artikel (nicht nur) in Frauen-Zeitschriften und darauf abgestimmte Unternehmenskulturen machen die modernen Arbeitnehmer darauf aufmerksam, dass es um mehr im Leben geht als um Karriere und möglichst viel Geld zu verdienen. Werke wie Khalil Gibrans „Der Prophet“ und Paulo Coelhos „Der Alchimist“ fanden sich auf einmal auch in sonst eher spärlich bestückten heimischen Bücherregalen. 
Mit seinem gerade mal 176 Seiten kurzen Roman „25 letzte Sommer“ legt der 1974 in Witten geborene Stephan Schäfer ein Debüt vor, das sicher gern als deutschsprachiges Pendant zu diesen Klassikern angesehen werden möchte, zumindest aber dessen Quintessenz widerspiegelt. 
Der namenlose Ich-Erzähler entscheidet sich am Samstagmorgen für morgendliches Jogging auf dem Land, wo er sich oft am Wochenende von den Strapazen des Alltags in der Stadt oder auf Reisen zu erholen versucht. So richtig will ihm das nie gelingen. Immer wieder denkt er an Mails, die noch zu schreiben, Rückrufe, die zu erledigen und andere Dinge seiner endlos erscheinenden To-Do-Liste abzuhaken sind. Ihm ist durchaus bewusst, dass er irgendwann im Leben die falsche Abzweigung genommen, den inneren Kompass, seine Freiheit und Fröhlichkeit verloren hat, stattdessen Arbeit, Anerkennung und Geldverdienen zum Mittelpunkt seines Lebens geworden sind. An diesem Morgen folgt er dem Trampelpfad hinunter zum See, wo er Karl kennenlernt, einen weltoffenen, kommunikativen Kartoffelbauer, der ihn erst zum Baden im See animiert, dann zu sich nach Hause auf eine Tasse Kaffee einlädt. 
Und so lernen sich an dem Wochenende zwei ganz unterschiedliche Männer kennen, schütten sich einander das Herz aus, sprechen über ihre Familien, aufgegebene und teilweise wiederentdeckte Hobbys, über einschneidende Erlebnisse, letztlich über den Sinn des Lebens. Als Karl vor Jahren schon mit der Diagnose einer nicht heilbaren Krankheit konfrontiert wurde, entschied er sich, jeden Augenblick seines Lebens zu genießen, keine Kompromisse mehr einzugehen, wieder zu malen und Rituale wie den „faulen Sonntag“ oder das Nachmittagsschläfchen zu begehen. Das bringt auch den sonst so geschäftigen Ich-Erzähler ins Grübeln. 
„Vor mir lagen noch 25 Sommer, wie Karl es am See so bildhaft auf den Punkt gebracht hatte. Irgendwann ist immer jetzt. Es galt, keine Zeit mehr zu verlieren, die vergangenen beiden Tage sollten mir Zuversicht geben. Mut hilft immer, Angst nie. Das hatte Karl mir gezeigt. Warum sollte mir das nicht auch gelingen?“
Stephan Schäfer versucht es seinem Publikum einfach zu machen. Wer es trotz unzähliger Ratgeber noch nicht geschafft haben sollte, mit mehr Achtsamkeit sein Leben zu gestalten, auf sein Herz zu hören, sich um die Dinge zu kümmern, die einem wirklich wichtig sind, der wird vielleicht durch diese sehr einfach gestrickte Geschichte auf den rechten Pfad gelenkt. 
Offenbar gehören nur wenige Dinge wie Mut, Offenheit und Zuversicht dazu, sich auf andere Menschen und Dinge wirklich einzulassen, um sich vom oft erdrückenden Ballast des Alltags lösen zu können und sich auf das Wesentliche im Leben zu konzentrieren. Der Autor rennt mit seiner lebensbejahenden Geschichte bei vielen Lesern und Leserinnen sicher offene Türen ein, allerdings ist die Story auch so überraschungsarm und ohne jede Originalität, dass nur der gutgemeinte Ansatz und die Schlichtheit der Erzählung überzeugt. Doch wirklich berührt hat mich „25 letzte Sommer“ nicht. 

Jordan Harper – „Alles schweigt“

Samstag, 25. November 2023

(Ullstein, 384 S., HC) 
Als Drehbuchautor und Produzent von Serien wie „The Mentalist“, „Gotham“ und „Hightown“ hat Jordan Harper genügend Erfahrungen in Hollywood gesammelt, um als Insider authentisch wirkende Geschichten rund um die Reichen und Schönen, Stars und Sternchen erzählen zu können. Für seinen 2017 erschienenen Roman „She Rides Shotgun“, der ein Jahr später von Ullstein unter dem Titel „Die Rache der Polly McClusky“ veröffentlicht wurde, erhielt Harper den renommierten Edgar Allan Poe Award. Nun legt er mit „Alles schweigt“ sein neues Werk vor. 
Die mit allen Wassern gewaschene PR-Agentin Mae Pruett ist mal wieder in einer heiklen Mission unterwegs. In der hippen Absteige Chateau Marmont muss sie sich eine Geschichte einfallen lassen, wie die Schauspielerin Hannah Heard zu ihrem blauen Auge gekommen ist, ohne dass sie ihre Rolle in der Produktion verliert, deren erster Drehtag ansteht. Ein selbst gedrehtes Video mit Hannahs Hund, der für diese Verletzung verantwortlich gemacht wird, macht aus der Krise einen beliebten Instagram-Feed. Weitaus beunruhigender für Mae ist die geheimnisvolle Einladung ihres Chefs bei Mitnick & Associates, Dan Hennigan, zu einem Drink im Beverly Hills Hotel. 
Viel bekommt sie bei dem Gespräch nicht heraus, nur dass Dan etwas auf eigene Rechnung durchziehen will und dabei auf Maes Hilfe hofft. Offensichtlich ist er auf ein Geheimnis gestoßen, das ihn reich machen könnte. Doch so weit kommt es nicht. Dan wird bei einem fingierten Raubüberfall erschossen, und Mae wird damit beauftragt, sich um seinen wichtigsten Klienten zu kümmern: Der schwerreiche Ward Parker sammelt nicht nur Wahlkampfspenden für den Bürgermeister, den Gouverneur und Kongressabgeordnete, sondern ist auch dafür bekannt, auf ungeschützten Sex unter Drogeneinfluss zu stehen. Dabei ist es auch schon zu Todesfällen gekommen. 
Ob Maes Chef das Wissen um Parkers düsteres Geheimnis zum Verhängnis wurde, weil er es zu Geld machen wollte? Als sie die merkwürdigen Umstände von Hennigans Ermordung untersucht, trifft sie auf ihren Ex-Lover Chris Tamburro, der als ehemaliger Cop als Krisenmanager ebenfalls dafür sorgt, dass die reichen Klienten möglichst unbehelligt ihren Lastern frönen können. Dass der Latino John Montez als Hennigans Mörder identifiziert und wenig später von alarmierten Cops getötet wird, soll Chris im Auftrag des Finanzmoguls Leonardo DePaulo parallel zur Polizei Ermittlungen über Hennigans Tod anstellen und dafür seine Kontakte zu seinen ehemaligen Kollegen ausnutzen. Bei ihren gemeinsamen Ermittlungen stoßen Mae und Chris auf den Produzenten und Autoren Eric Algar, der einst durch seine Teenieshows berühmt geworden ist, mittlerweile aber eher wegen seiner Vorliebe für minderjährige Mädchen, die in seinen Shows unterkommen wollen, bekannt ist – zumindest unter Insidern, doch die Spurensuche entwickelt sich zu einem gefährlichen Unterfangen… 
„Maes Theorie zufolge würde sich niemand für Eric einsetzen, weil er nicht mehr viel wert ist. Er ist das perfekte Erpressungsopfer, die Ermittlungen werden auf Eis gelegt. Und wenn diese Theorie falsch ist? Wenn Eric mehr wert ist, als sie dachten?“ 
Seit den Vorwürfen zu sexuellen Übergriffen gegen Hollywood-Produzent Harvey Weinstein und der dadurch ausgelösten #MeToo-Bewegung ist einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden, worüber zuvor eher gemunkelt wurde. Dass Verfehlungen einflussreicher Hollywood-Produzenten, -Agenten und anderer Schlüsselfiguren meist nicht an die Öffentlichkeit gelangen, ist einer Image-Industrie zu verdanken, die so geschickt mit den Medien umzugehen versteht, dass die üblen Geschichten im Leben der Stars und Sternchen eben nicht an die Öffentlichkeiten gelangen. 
Jordan Harper hat mit seinen beiden Protagonisten, aus dessen Perspektive er meist abwechselnd die Geschichte erzählt, zwei sehr authentisch wirkende Figuren geschaffen, die einem zwar nicht gleich ans Herz wachsen, die aber sympathisch genug sind, um ihre Arbeit und das Ringen um ihre Beziehung mit Spannung zu verfolgen. Der Autor taucht dabei tief in die Strukturen der Unterhaltungs-Industrie ein, macht deutlich, wie Geld, Einfluss, Politik und Medien zusammenwirken, um den Betrieb am Laufen zu halten. 
Der ursprüngliche Kriminalfall, nämlich die Aufklärung des Mordes an Dan Hennigan, rückt dabei fast in den Hintergrund, weil immer neue abscheuliche Verbrechen ans Licht gelangen, mit denen Mae und Chris – und letztlich auch die Leserschaft – konfrontiert werden. Das erinnert in dem düsteren Grundton immer wieder an James Ellroy („L.A. Confidential“, „The Black Dahlia“), der in seinen Romanen ebenfalls die dunklen Seiten der amerikanischen Gesellschaft thematisiert. Allerdings ist Harpers „Alles schweigt“ weitaus leichter zu konsumieren. 

Jo Nesbø – „Das Nachthaus“

Mittwoch, 1. November 2023

(Ullstein, 288 S., HC) 
Mit seiner 1997 gestarteten Reihe um den alkoholkranken Hauptkommissar Harry Hole hat sich der norwegische Schriftsteller Jo Nesbø schnell in die Herzen der Freunde skandinavischer Krimis geschrieben. „Headhunter“ stellte 2008 Nesbøs erster Versuch dar, neben seiner erfolgreichen Krimireihe, aus der der Roman „Schneemann“ im Jahr 2017 sogar verfilmt worden ist, auch andere Geschichten zu erzählen. Eine Sonderstellung nimmt dabei zum Beispiel der Roman „Macbeth“ ein, der im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projekts entstanden ist und Nesbø die Möglichkeit bot, sich des ebenso kurzen wie blutigen Dramas „Macbeth“ anzunehmen, das den Aufstieg des Heerführers Macbeth zum schottischen König schildert. Aber auch seine letzten eigenständigen Romane „Ihr Königreich“ und „Eifersucht“ sind hier zu nennen. 
Mit „Das Nachthaus“ betritt Nesbø einmal mehr neues Terrain. 
Nachdem seine Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen sind, wächst der 14-jährige Richard Elauved bei seiner Tante Jenny und seinem Onkel Frank in der Kleinstadt Ballantyne auf, wo sich der Junge schwertut, Freunde zu finden. Einzig der stotternde Tom mag mit dem unbeliebten Zugezogenen seine Freizeit verbringen. Als Richard seinen einzigen Freund zu einem Telefonstreich anstiftet, sucht er aus dem Telefonbuch einen besonders seltsamen Namen heraus – Imu Jonasson – und lässt Tom dort anrufen und ausrichten, dass der Teufel persönlich am Telefon sei. Doch der Streich geht nach hinten los: Mit einem reißenden, nassen Schmatzen wird erst Toms Ohr von dem Telefonhörer aufgesogen, dann verschwindet Toms ganzer Körper in der Telefonzelle. Natürlich kauft niemand Richards Geschichte ab. 
Polizeichef McClelland vermutet eher, dass Tom beim Spielen in den Fluss gestürzt ist, doch bei der Suchaktion findet man nur Toms Luke-Skywalker-Figur. Dass der Name Jonasson bei der Überprüfung von Richards Geschichte nicht mehr im Telefonbuch steht, macht diese nicht glaubwürdiger. Als sich ein weiterer Schulkamerad in Richards Nähe in ein Insekt verwandelt und verschwindet, findet Richard einzig in Karen eine Verbündete, die ihn nicht für verrückt oder einen Lügner hält, sondern mit ihm in der Bibliothek versucht, den merkwürdigen Ereignissen in Ballantyne auf den Grund zu gehen. 
Dabei stellt sich heraus, dass Imu Jonasson im sogenannten „Nachthaus“ gelebt hat, einer herrschaftlichen Villa im Spiegelwald, und wegen seines tyrannischen Verhaltens in die Jugendbesserungsanstalt Lief eingeliefert worden ist. Mit der macht dann auch Richard Bekanntschaft, nachdem er auch FBI-Agent Dale gegenüber partout nicht von seinen unglaubwürdigen Geschichten abweichen will… 
Bereits nach wenigen Seiten glaubt man sich nicht in einem Roman von Jo Nesbø, sondern von Stephen King. Allerdings hat King es in seinen Coming-of-Age-Romanen wie „Es“ stets verstanden, sein Publikum erst mit dem normal wirkenden Kleinstadtleben vertraut zu machen, damit das Unheimliche auf einem glaubwürdigen Boden gedeihen konnte. Von dieser Raffinesse ist bei „Das Nachthaus“ nichts zu spüren. Während Nesbøs Harry-Hole-Romane durch gelungene Personen- und Milieubeschreibungen punkten, ist dem Autor in seinem neuen Werk offenbar nur an billigen Effekten gelegen. Nesbø gelingt es einfach nicht, seine Figuren, nicht mal seinen Ich-Erzähler, glaubwürdig zu charakterisieren. Die Handlung wirkt hastig wie aus trashigen Horrorfilm-Elementen zusammengeschustert. Wenn mit dem zweiten und dritten Teil des Romans die vorherigen Teile in einem neuen Licht präsentiert werden und Edgar Allan Poes berühmte Zeile „A dream within a dream“ auftaucht, ist die Geschichte schon nicht mehr zu retten. So lobenswert Nesbøs Bemühen auch ist, sich einmal in anderen Genres auszuprobieren, ging sein Versuch, mit „Das Nachthaus“ klassischen Spukhaus-Horror mit Psycho-Thriller-Elementen zu verknüpfen, fürchterlich daneben. 

Engman & Selåker – (Wolf & Berg: 1) „Sommersonnenwende“

Samstag, 22. Juli 2023

(Ullstein, 592 S., Pb.) 
Pascal Engman hat seit seinem Thriller-Debüt „Der Patriot“ aus dem Jahr 2017 bereits mit „Feuerland“ und „Mörderische Witwen“ zwei Romane veröffentlicht, in der die schwedische Kriminalkommissarin Vanessa Frank ermittelt. Für seinen neuen Roman hat er sich nicht nur mit dem renommierten Journalisten Johannes Selåker zusammengetan, der bei Aftonbladet, Expressen und Aller Media als Nachrichtenleiter und Chefredakteur tätig gewesen ist, sondern gleich eine weitere vielversprechende Reihe ins Leben gerufen, in der Kriminalkommissar Tomas Wolf und die Journalistin Vera Berg einen etwas holprigen Start bei der Suche nach dem Mörder einer jungen Frau in einem Stockholmer Vorort erwischen. 
Die Bilder, die sich Tomas Wolf im Oktober 1993 bei seinem Einsatz als Mitglied der schwedischen UN-Soldaten in Bosnien-Herzegowina in den Kopf gebrannt haben, lassen den Kriminalkommissar nicht mehr los, vor allem aber nicht die Bekanntschaft der jungen Frau Azra, die er aus einem Versteck in einem von Kroaten verwüsteten Dorf gerettet hat. Seit er wieder daheim ist, plagen Wolf ganz andere Probleme. Für seine Frau Klara und die beiden Kinder Alexander und Ebba wollte Wolf eigentlich die Anzahlung für ein neues Haus leisten, doch das dafür zurückgelegte Geld hat er anderweitig ausgegeben, was zu einer handfesten Ehekrise führt. Auf dem Weg zu seinem Bruder, der ihm noch Geld schuldet, landet er in dem schäbigen Vorort Märsta an einem Tatort, wo eine junge Migrantin unter einer Plane vergewaltigt und erdrosselt aufgefunden worden ist. 
Derweil hat sich die Journalistin Vera Berg in Malmö von ihrem drogenschmuggelnden, unzuverlässigen Freund Jonny Müller getrennt und sich mit dessen sechsjährigen Sohn Sigge heimlich nach Stockholm aufgemacht, wo sie als überregionale Journalistin in der Hauptstadtredaktion der Kvällsposten einen neuen Job antritt und gleich die Berichterstattung über diesen Mordfall übernimmt. 
Wolf und Berg gehen allerdings auf unterschiedliche Weise bei der Suche nach dem Mörder vor, denn im Gegensatz zu dem Kommissar weiß die Journalistin von einem ähnlichen Fall aus Malmö, wo ebenfalls eine vor dem Bosnienkrieg geflüchtete Frau vergewaltigt und ohne Slip aufgefunden worden war. Und sie verfügt – wenigstens für kurze Zeit - über eine Zeichnung, die eine Freundin des einen Opfers vom Täter angefertigt hat. 
Wolf gerät aufgrund seiner neonazistischen Vergangenheit selbst in den Kreis der Verdächtigen, aber auch der der bekannte schwedische Schauspieler und Frauenliebling Micael Bratt sowie der LKW-Fahrer Jörgen Waltz werden von den Ermittlern ins Visier genommen. 
„Was wusste sie eigentlich über Wolf? Er war als Jugendlicher in der White-Supremacy-Bewegung gewesen. Er hatte es als Jugendsünde abgetan. Aber wenn das stimmte, warum hatte er dann nicht mit seinem Bruder gebrochen, der noch immer ein Vollblut-Nazi war?“ 
Das schwedische Autoren-Duo Engman & Selåker hat sich mit „Sommersonnenwende“ gleich mehrerer brisanter Themen angenommen, den Gräueln des Bosnien-Krieges ebenso wie der Flüchtlings-Thematik mit dem damit verbundenen Rassismus neonazistischer Gruppierungen, zu denen Kriminalkommissar Tomas Wolf mehr als nur berufliche Verbindungen aufweist. Schließlich entwickelt sich auch das frauenverachtende Verhalten von Männern zu einem wesentlichen Punkt, wobei Selåker als Journalist selbst einen wesentlichen Beitrag zur #MeToo-Untersuchung geleistet hat. 
Dies alles vermengt das Duo zu einem packenden Thriller, der im schwedischen Sommermärchen des Jahres 1994 angesiedelt ist, als die schwedische Fußballnationalmannschaft bei der WM in den USA überraschend den 3. Platz belegte. Engman & Selåker nehmen sich viel Zeit für ihre beiden so unterschiedlichen Protagonisten, wobei ihre Wege lange Zeit nebeneinanderher verlaufen und sowohl Wolf als auch Berg nebenbei ihre privaten Probleme in den Griff bekommen müssen. 
Das ist vielleicht etwas viel Stoff für einen Auftaktroman einer neuen Serie und wird der Komplexität der Themen kaum gerecht, aber die interessanten Protagonisten und der tempo- und abwechslungsreiche Plot machen „Sommersonnenwende“ zu einem kurzweiligen Thriller-Vergnügen.  

Stephen King – „Duddits – Dreamcatcher“

Samstag, 22. April 2023

(Ullstein, 827 S., HC) 
Nachdem Stephen King Mitte der 1970er Jahre mit „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und dem apokalyptischen Epos „The Stand – Das letzte Gefecht“ schnell zum international gefeierten „King of Horror“ avancierte, lieferte er in den folgenden beiden Jahrzehnten nahezu im Jahrestakt – oftmals auch verfilmte - Bestseller wie „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Es“, „Sie“, „Stark – The Dark Half“, „Needful Things“, „Dolores“ und „The Green Mile“ ab. Nach einem Autounfall im Jahr 1999 rehabilitierte sich King auf eigene Weise, schrieb das Manuskript zu „Duddits – Dreamcatcher“ mit Patronenfüllfederhalter von Waterman innerhalb eines Jahres und widmete sich einem Thema, das bis heute nur sporadisch in Kings umfangreichen Oeuvre anzutreffen ist, der Invasion der Erde durch Außerirdische. 
Schon als Kinder waren Pete, Jonesy, Henry und Biber in der Kleinstadt Derry, Maine, unzertrennlich gewesen. Ein besonderes Verhältnis entwickelten sie dabei zu Douglas „Duddits“ Cavell, einem Jungen mit Down-Syndrom, den sie vor jugendlichen Rowdys gerettet haben und der telepathisch begabt gewesen ist. Über die „Linie“, die Duddits zu sehen in der Lage ist, haben die fünf Freunde sogar ein vermisstes Mädchen aus einem Kanalschacht retten können. 
Über die Jahre haben die vier Freunde zwar Duddits aus den Augen verloren, seit sie aus Derry weggezogen sind, und sehen sich auch nur noch selten, doch einmal im Jahr treffen sie sich im Herbst zu einem Jagdausflug in Bibers Hütte in den Wäldern von Jefferson Tract. In ihrem erwachsenen Leben ist Joe „Biber“ Clarendon ein neurotischer Tischler geworden, Pete Moore ein alkoholsüchtiger Autoverkäufer, während der als Psychiater praktizierende Henry Devlin mit dem Gedanken an Selbstmord spielt und College-Dozent Gary „Jonesy“ Jones sich von einem schweren Autounfall erholt, bei dem er sich eine gebrochene Hüfte zugezogen hat. Der Jagdausflug im Herbst 1999 steht allerdings unter einem besonderen Stern, als in Jefferson Tract Aliens notlanden und sich wie Parasiten in den Menschen einnisten und mit ihren telepathischen Kräften dafür sorgen, sich in ihre Wirte hineinzuversetzen und sie nach ihrem Willen zu manipulieren. Der psychotische Armee-Offizier Abraham Kurtz versucht, im Auftrag der Regierung die Ausbreitung der „Ripleys“ zu verhindern – so wie sie es im Geheimen seit 1947 praktiziert. Es wird nämlich einfach ohne Rücksicht auf Verluste jedes Leben im von den Aliens beanspruchten Gebiet ausgelöscht. Während dieses Vorhabens begegnet Jonesy während der Jagd dem Anwalt Richard McCarthy, der offensichtlich seit einigen Tagen orientierungslos im Wald herumirrt, unter starken Schmerzen und fürchterlichen Blähungen leidet sowie ein verdächtig aussehendes Mal im Gesicht trägt. Trotz seiner Bedenken nimmt Jonesy den Mann mit in die Hütte, wo er zusammen mit Biber miterleben muss, wie der Mann von innen heraus zu verwesen scheint und eine pilzartige Substanz ausscheidet. Währenddessen besorgen Pete und Henry Nahrungsvorräte im Dorf und geraten bei dem einsetzenden Schneefall in einen Autounfall, in dem eine Frau verwickelt ist, die geistig verwirrt erscheint und der einige Zähne fehlen. Für die vier Freunde entbrennt ein Wettlauf gegen die Zeit, geraten sie doch zwischen die Fronten des Militärs und den parasitären Außerirdischen. Bald wird ihnen bewusst, dass nur Duddits sie aus dem Schlamassel befreien und die Invasion beenden kann, obwohl er bereits selbst im Sterben liegt… 
„Duddits, der in seinem Never-Never-Land, von der Außenwelt abgeschnitten, im Sterben lag, hatte seine Botschaften ausgesandt und nur Schweigen zur Antwort bekommen. Schließlich kam einer von ihnen vorbei, aber nur, um ihn mit nichts weiter als einer Tüte voller Pillen und seiner alten gelben Lunchbox von zu Hause zu entführen. Der Traumfänger war auch kein Trost. Sie hatten es mit Duddits immer nur gut gemeint, sogar schon damals an diesem ersten Tag; sie hatten ihn aufrichtig geliebt. Und doch endete es nun so.“ (S. 659) 
Etwas mehr als zehn Jahr nach dem 1988 veröffentlichten „Tommyknockers – Das Monstrum“ bekommt es die Menschheit erneut mit telepathisch begabten Außerirdischen zu tun, doch dient die Geschichte diesmal vor allem dazu, Stephen Kings Trauma zu verarbeiten, von einem betrunkenen Autofahrer fast tot gefahren worden zu sein, auf jeden Fall während der langwierigen Genesung über ein halbes Jahr erhebliche Schmerzen erlitten zu haben. Vor diesem Hintergrund fällt es dem Leser leicht, in der Figur des College-Dozenten Gary „Jonesy“ Jones eine Art Alter Ego des berühmten Schriftstellers zu sehen, der ebenfalls einen schweren Autounfall überlebt hat und seitdem mit den Folgen seiner gebrochenen Hüfte zu kämpfen hat. Entsprechend authentisch wirken die vielen Beschreibungen körperlicher Schmerzen und die Schilderungen schwerer Verletzungen, bei denen nicht nur Zähne ausfallen und viel Blut fließt, sondern auch an Tränen und allen vorstellbaren menschlichen Ausscheidungen in gasförmiger oder flüssiger Form ebenso wenig gespart wird wie an Kraftausdrücken und derbem Humor. 
Wie in den meisten King-Romanen werden auch in „Duddits“ ganz gewöhnliche Menschen mit einer kaum vorstellbaren Krisensituation konfrontiert. King ließ sich dabei ganz offensichtlich von dem Science-Fiction-Klassiker „Invasion of the Body Snatchers“ inspirieren, den er auch namentlich erwähnt, und erzielt das Grauen vor allem aus der Vorstellung, dass die Außerirdischen die Menschheit auf der Gedankenebene infiltrieren und gefügig machen wollen. 
Dass die Heimatstadt der fünf Freunde Derry ist, verweist natürlich auf Kings Meisterwerk „Es“, wobei er immer wieder Elemente daraus aufgreift, vor allem den großen Sturm von 1985, der einen Großteil der Stadt verwüstete und dem auch der Wasserturm zum Opfer fiel. Bei aller sprachlicher Könnerschaft wirkt das Verhältnis zwischen Kurtz‘ psychotischen Trieb, die Außerirdischen zu eliminieren, und der berührenden Geschichte der fünf Freunde etwas unausgeglichen. 
Während die militärischen Protagonisten für meinen Geschmack etwas zu viel Raum erhalten und King fast schon ins Schwafeln gerät, hätten die Episoden, die das Leben der fünf Freunde in Derry und danach umfassen, weitaus ausführlicher dargestellt werden können. So wirkt „Duddits“ wie ein auf Action getrimmter Science-Fiction-Horror, den auch Lawrence Kasdan in seiner Verfilmung „Dreamcatcher“ nicht in den Griff bekommen hat. 

 

James Ellroy – „LAPD '53“

Sonntag, 12. März 2023

(Ullstein, 224 S., Tb.) 
Der 1948 in Los Angeles geborene Schriftsteller James Ellroy zählt zu den schillerndsten Vertretern seiner Zunft, wuchs er nach der Scheidung seiner Eltern doch in einer unbeständigen Umgebung auf, trieb sich mit voyeuristischem Eifer auf den Straßen herum und musste im Alter von zehn Jahren damit umgehen, dass seine Mutter einem nie aufgeklärten Sexualverbrechen zum Opfer fiel. Ellroy verschlang in seinen Jugendjahren True-Crime-Reportagen, wobei ihn der als Schwarze-Dahlie-Fall bekanntgewordene Mord an der Nachwuchsschauspielerin Elizabeth Short aus dem Jahr 1948 besonders faszinierte, und Krimis von Mickey Spillane, Raymond Chandler, Ross Macdonald und Joseph Wambaugh, ehe Ellroys Leben selbst von Kleinkriminalität, Obdachlosigkeit, Rassismus, Voyeurismus sowie Alkohol- und Drogenabhängigkeit geprägt wurde. Als er Anfang der 1980er Jahre seine Schriftsteller-Karriere mit den Romanen „Browns Grabgesang“, „Heimlich“, „Blut auf dem Mond“ und „In der Tiefe der Nacht“ startete und den berühmten Fall um „Die Schwarze Dahlie“ als Roman verarbeitete, entwickelte sich auch eine bis heute andauernde Beziehung zum – neben dem britischen Scotland Yard - vielleicht berühmtesten Polizeirevier der Welt, dem Los Angeles Police Department, kurz LAPD genannt. 
Vor zehn Jahren begann James Ellroy zusammen mit dem damaligen Chief of Police William Bratton, an einem Buch mit Tatortfotos zu arbeiten, die in dem einmaligen Los Angeles Police Museum aufbewahrt werden. Aus der Vielzahl aussagekräftiger Bilder haben Ellroy, der LAPD-Veteran Glynn Martin und engagierte Mitarbeiter des einzigartigen Museums für den vorliegenden Band das Jahr 1953 ausgewählt, ein Jahr, in dem nicht nur die Bullen das Sagen hatten, sondern von einem ambitionierten, reformierenden und tüchtigen ebenso wie kompromisslosen und trinkfreudigen Mann namens William „Whiskey-Bill“ H. Parker geprägt wurde, der dem LAPD sechzehn Jahr vorstand und dem Hauptgebäude seinen Namen verlieh, nachdem er 1966 plötzlich verstorben war. 
„LAPD '53“ besticht zunächst einmal durch gestochen scharfe, gut ausgeleuchtete Schwarzweiß-Bilder, auf denen nicht nur „einfache“ Morde und Selbstmorde festgehalten sind, sondern auch so kunstvolle Arrangements, mit denen Menschen gewaltsam – aber auch freiwillig – aus dem Leben geschieden sind, so wie die ausgefeilte Konstruktion aus Rollen, Schnüren und Gewichten, mit der ein Mann im engsitzenden Damenbadeanzug den Erstickungstod herbeiführte. Oder aus dem Ruder gelaufene Überfälle auf die omnipräsenten Schnapsläden. Die Polizisten am Tatort markieren für die Fotos Einschusslöcher und weitere Indizien, Ellroy spinnt dazu die passenden Geschichten. Hier treffen dann True-Crime und Fiktion aufeinander, denn nicht immer ließen sich Tathergang und Motiv zweifelsfrei rekonstruieren. Ellroy beschwört in seinen Beschreibungen und Geschichten immer wieder den Film noir herauf, nennt Filme wie „Schritte in der Nacht“ (1948), „Opfer der Unterwelt“ (1950), „Gewagtes Alibi“ (1949) und die Fernsehserie „Dragnet“ als Bezugspunkte und vergleicht die Protagonisten der vorgestellten Fälle mit bekannten Hauptdarstellern jener Zeit. 
„City Hall ist City Hall. Das prächtigste Gebäude im L.A. von damals und das Markenzeichen des L.A. von heute. Der bemerkenswerteste und bestbekannte städtische Amtssitz im gegenwärtigen Amerika. Und die entschiedenste Manifestation von L.A. und von Bill Parkers LAPD als epischem Epizentrum und durchsetzungsmächtigem starken Arm des Film noir. Yeah, Kater und Kätzchen – wir schreiben 1953. Das Detective Bureau des LAPD arbeitet rund um die Uhr in der City Hall. Was wäre der Film noir ohne City Hall als L.-A.-Fixpunkt, L.-A.-Markenzeichen und fabulös phallisch emporgereckter Mittelfinger des Schicksals?“ 
„LAPD '53“ vermittelt einen interessanten Blick auf das Jahr 1953 aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Ellroys oft lakonischen, fast schon vulgären Beschreibungen der soziologischen Verhältnisse, der ausgeübten Verbrechen und der schnörkellosen Polizeiarbeit in Verbindung mit den schonungslos realistischen, unverstellten Tatortfotos, Steckbriefen und Verbrecherfotos aus den Polizeiarchiven wirken wie Standbilder aus den oft zitierten Film noirs jener Jahre, wobei Ellroys Sprache sicher nicht jedermanns Geschmack treffen wird.  
„LAPD '53“ lädt dazu ein, sich selbst Geschichten zu den manchmal verstörenden Bildern auszudenken, liefert aber auch faszinierende Eindrücke damaliger Polizeiarbeit in der „Stadt der Engel“. 

Jo Nesbø – (Harry Hole: 1) – „Der Fledermausmann“

Dienstag, 17. Januar 2023

(Ullstein, 416 S., Tb.) 
Der 1960 in Oslo geborene Jo Nesbø hatte bereits eine Karriere als Makler, Journalist und Sänger/Komponist der Pop-Band Di Derre hinter sich, als er 1997 seinen ersten Roman und damit den Start einer bis heute erfolgreichen Krimi-Reihe um den alkoholkranken Polizisten Harry Hole vorlegte. Der von ihm durch übermäßigen Alkoholkonsum verursachte Autounfall, bei dem sein Kollege auf dem Beifahrersitz getötet und ein junger Mann ab dem Hals abwärts gelähmt wurde, verfolgt Harry Hole bis heute. Statt ihn zu suspendieren, haben seine Vorgesetzten den Vorfall jedoch unter den Teppich gekehrt, indem sie den getöteten Beifahrer zum Fahrer erklärten, so dass Hole nach außen hin unbeschadet aus der Sache herauskam. 
Nun wird er nach Sydney geschickt, um bei den Ermittlungen zum Mord an der 23-jährigen norwegischen Staatsbürgerin Inger Holter zu assistieren, die nahezu nackt in der Nähe eines Parks aufgefunden wurde, nachdem man sie vergewaltigt und dann erwürgt hatte. Er wird dem Aborigine Andrew Kensington zugeteilt, mit dem er zunächst die Bar „The Albury“ aufsucht, in der das Mordopfer gearbeitet hatte. 
Offenbar hat Ingers Chef wohl vergeblich versucht, bei ihr zu landen. In einem Brief, die sie einer gewissen Elisabeth schreiben wollte, den man in ihrer Wohnung sichergestellt hat, schwärmt sie von einem 32-jährigen Evans und von der Möglichkeit, in einer norwegischen Serie mitzuspielen. Schließlich nimmt Kensington seinen norwegischen Partner mit in den Zirkus, wo ein Gerichtsprozess präsentiert wird, bei der ein Clown, der Ludwig XVI. darstellen soll, zum Tode verurteilt und durch eine Guillotine enthauptet wird. 
So lernt Hole, der in Australien Holy genannt wird, den homosexuellen Clown-Darsteller Otto Rechtnagel, dann den Aborigine Toowoomba kennen, der für Andrew fast wie ein Sohn ist. Doch als Hole allmählich einen Überblick über die Lebensumstände sowohl des Mordopfers als auch seines australischen Partners zu bekommen beginnt, werden weitere blonde Frauen aufgefunden, die auf eine ähnliche Weise zu Tode gekommen sind wie Inger Holter. 
Tatsächlich werden drei weitere Vergewaltigungen in unterschiedlichen Teilen des Landes in weniger als zwei Monaten entdeckt, bei denen die Opfer blond waren und gewürgt wurden, die aber nie den Täter beschreiben konnten. Um den möglichen Serienmörder zu fassen, scheut Hole nicht davor zurück, seine blonde Freundin Birgitta als Lockvogel einzusetzen… 
„Vorsichtig versuchte er, seine eigenen Gefühle auszuloten. Vorsichtig, weil er sich nicht erlauben konnte, sich ihnen hinzugeben. Noch nicht, jetzt noch nicht. Zuerst die guten Gefühle. Nur ganz wenig. Er wusste nicht, ob sie ihn stärker oder schwächer machen würden. Birgittas Gesicht zwischen seinen Händen, die Reste eines Lachens, das noch in ihren Augen lag. Dann die schlechten Gefühle. Sie waren es, die er noch für eine Weile aus seinem Leben verdammen musste, aber er versuchte, ihnen nachzuspüren, wie um sich einen Eindruck von ihrer Kraft zu verschaffen.“ 
Jo Nesbø findet einen ungewöhnlichen Weg, seinen Protagonisten Harry Hole einzuführen, nämlich fern seiner norwegischen Heimat. In der australischen Metropole Sydney ist er von Polizeichef Neil McCormack eigentlich zum Zuschauen verdammt, während sein ihm zugeteilter ortsansässiger Kollege Andrew Kensington ihn souverän mit den scheinbar richtigen Leuten aus dem Umfeld der ermordeten norwegischen jungen Frau bekannt macht. Dabei nutzt Nesbø die ausführlichen Gespräche zwischen Hole und dem Aborigine, um sowohl den Hintergrund des alkoholkranken Norwegers einzuführen als auch eine Geschichtslektion über das Verhältnis zwischen der australischen Ureinwohner und ihrer englischen Besatzer zu erteilen. 
Man merkt, dass Nesbø seine Hausaufgaben gemacht hat und sich bemüht, seine Figuren sorgfältig einzuführen, ohne zu viel preiszugeben. Für das Verständnis von Holes Charakter scheint hier der tragische, von ihm verursachte Autounfall und seine Jugendliebe Kristin von Bedeutung zu sein, für Kensington die Art und Weise, wie er sich als Aborigine einen Platz in der weißen Gesellschaft erkämpft hat. 
Die Ermittlungsarbeit droht dabei schon fast zum Nebenschauplatz zu werden. Nesbø hat in seinem Romandebüt noch nicht das ideale Tempo gefunden, um die Dramaturgie der Geschichte stimmig voranzutreiben, aber ein vielversprechender Anfang ist auf jeden Fall gemacht.  

Jo Nesbø – (Harry Hole: 13) „Blutmond“

Sonntag, 27. November 2022

(Ullstein, 542 S., HC) 
Seit seinem Romandebüt „Der Fledermausmann“, das zugleich den Start der bis heute international erfolgreichen Reihe um den Osloer Kriminalkommissar Harry Hole bildete, ließ Jo Nesbø in der Regel jedes Jahr, spätestens alle zwei Jahre einen neuen Fall um den herausragenden Ermittler folgen, der als einziger norwegischer Polizist bislang das FBI-Programm zum Profiling von Serienmördern durchlaufen hat. Doch zwischen dem zehnten Band „Koma“ und dem elften Band „Durst“ lagen auf einmal vier Jahre, und auch der nun folgende Band „Blutmond“ ließ drei Jahre nach „Messer“ auf sich warten. Harry Hole mag zwar mittlerweile seiner Tätigkeit überdrüssig sein, der norwegische Schriftseller Jo Nesbø glücklicherweise nicht. Vor allem präsentiert sich der Bestseller-Autor mit „Blutmond“ nach wie vor auf dem Höhepunkt seines Schaffens. 
Nach dem Mord an seiner Frau Rakel hat Harry Hole sein altes Leben in Oslo hinter sich gelassen und säuft sich in Los Angeles langsam zu Tode. In seiner Stammkneipe „Creatures“ hat er die Gesellschaft der alternden Filmdiva Lucille schätzen gelernt, die ihr nicht vorhandenes Geld in Filmprojekte investiert, die mit einer großen Rolle für eine ältere Frau locken, aber stets zum Scheitern verurteilt sind. Das bringt sie in die prekäre Situation, einem Drogenkartell fast eine Million Dollar zu schulden. Als Lucille gekidnappt wird, bekommt Hole zehn Tage Zeit, das Geld aufzutreiben. 
Da passt es sich ganz gut, dass er von einem Privatdetektiv aufgespürt wird, der Hole darum bittet, mit dem Anwalt Johan Krohn in Oslo Kontakt aufzunehmen. Der vertritt den stadtbekannten Immobilienmakler Markus Røed, der als Hauptverdächtiger in den Mordfällen zweier Mädchen gilt, die zuletzt auf seiner Terrassen-Party gesehen wurden. 
Hole wird fürstlich dafür entlohnt, den Ruf seines Auftraggebers wiederherzustellen. Während die zuständige Kommissarin Katrine Bratt bei ihrer Chefin mit dem Ansinnen abblitzt, Hole in das Ermittlerteam zu holen, schart er mit dem korrupten Cop Truls, dem sterbenskranken Psychologen Aune und dem Kokain-dealenden Schulfreund Øystein ein unkonventionelles, aber durchaus effektives Team zusammen, das die Polizei zusehends in Bedrängnis bringt. Der Killer, der von seinem verhassten Stiefvater nur Prim genannt worden ist, fiebert derweil mit Spannung dem Blutmond entgegen, der die Kulisse für sein großes Finale bilden soll. Als die Speichelprobe auf einer der beiden Frauenleichen allerdings Røed zugeordnet werden kann, scheint der Fall gelöst, doch weder Hole noch Prim sind mit dieser Entwicklung wirklich zufrieden. 
„Auf jeden Fall wurde dieser Hole langsam, aber sicher zu einem Problem. Was hatte er auf der Bühne verloren, die dem Fall vorbehalten sein sollte, dem Geheimnis, seinem Geheimnis. Und Markus Røed, dem Privilegierten, der sich über dem Gesetz wähnte und jetzt zur Schadenfreude aller am Pranger stand.“ (S. 331)
Einmal mehr erweist sich Jo Nesbø als raffinierter Konstrukteur ungewöhnlicher Mordfälle. Zum Glück widmet er dem Alkoholismus seines Protagonisten aber nicht zu viel Raum, auch wenn der in Los Angeles verortete Auftakt in dieser Hinsicht Übles erahnen lässt. 
Auch wenn Harry Hole im Verlauf der schwierigen Ermittlungen natürlich immer wieder in Versuchung geführt wird, fokussiert sich der Autor auf die sehr verwickelten Mordfälle. Zwar wird schon zur Hälfte von „Blutmond“ das Motiv des Täters offenbart, aber zum Glück noch nicht seine Identität. 
Nesbø versteht es, die Spannung nicht nur auf kontinuierlich hohem Niveau zu bewahren, sondern die verwickelten Ermittlungen auch mit einigen interessanten persönlichen Dramen und Geschichten zu schmücken. Immer wieder wechselt Nesbø geschickt die Perspektive zwischen den Ermittlungen, dem mit ungewöhnlichen Methoden agierenden Killer, dem Boulevard-Journalisten Terry Våge, dem lange Zeit verdächtigen Immobilienmakler und der komplizierten Beziehung zwischen Hole und Katrine, die mit dem Kriminaltechniker und Holes besten Kumpel Bjørn bis zu dessen Tod verheiratet war. Unterhaltsame Exkurse zur Film- und Musikwelt runden den packenden Plot ebenso gelungen ab wie die wissenschaftlichen Ausführungen zur Nützlichkeit von Parasiten, denen in „Blutmond“ eine besondere Bedeutung zukommt. 
Nesbø versteht es nach wie vor, packende Geschichten mit interessanten Figuren zu erzählen, auch wenn einige Züge im Plot doch recht konstruiert wirken. Dem überzeugenden Gesamteindruck schadet das allerdings nicht. 

 

Laure van Rensburg – „Nur du und ich“

Donnerstag, 30. Juni 2022

(Ullstein, 384 S., Pb.) 
Seit im Zuge des im Oktober 2017 veröffentlichten Missbrauchsskandals um den einflussreichen Hollywood-Produzent Harvey Weinstein die #metoo-Bewegung auf das Ausmaß sexueller Belästigung und Übergriffe aufmerksam machte, ist das Thema nicht nur weitgehend im Feuilleton der Medien, sondern ist längst auch in Filmen und Büchern abgehandelt worden. Insofern entspricht der Debütroman der gebürtigen Französin, in London lebenden Laure van Rensburg den Zeitgeist. Ein großer Wurf ist ihr mit dem Psychothriller, mit dem die Autorin ihre eigenen Erfahrungen mit dem Thema verarbeitet hat, aber nicht gelungen. 
Der renommierte Literaturprofessor Steven und die Collegestudentin Ellie sind seit sechs Monaten ein Paar, weshalb Ellie zu ihrem kleinen Jubiläum ein abgelegenes Haus in Chesapeake Bay fürs Wochenende gemietet hat. Es soll ihre erste, aber unvergessliche Reise zusammen sein, ihr erstes gemeinsames Wochenende nur zu zweit. Ellie hat Dostojewskis „Die Dämonen“ in der Hoffnung mit eingepackt, etwas Zeit zum Lesen und so Material für das Essay über den russischen Dramatiker zu finden. Steven denkt vor allem an hemmungslosen Sex, wird aber durch nervende SMS seiner ehemaligen Liebschaft J. abgelenkt. 
Steven ist der Sohn des berühmten Stewart Harding, aus dessen Schatten er nie heraustreten wird können, und hat während seiner akademischen Karriere immer wieder die Colleges wechseln müssen, wartet nach wie vor auf den erhofften Karrieresprung und eine Festanstellung an einer renommierten Universität. Das häufige Wechseln seiner Dozentenstellen ermöglichte Steven allerdings, die lockeren Affären mit seinen Studentinnen unkompliziert beenden zu können. Erst mit Ellie hat er eine erste ernsthafte Beziehung begonnen, die an diesem Wochenende gefestigt werden soll. Von der eisigen Kälte und dem Schnee lassen sie sich nicht die Laune verderben, auch wenn die geplanten Spaziergänge am Strand dadurch ins Wasser fallen. Schließlich kann man die Zeit vor dem kuschelig warmen Kamin auch auf genussvolle Weise verbringen. 
Doch nach ein paar Drinks am Abend wird Steven ohnmächtig und wacht an einen Rollstuhl gefesselt wieder auf. Zunächst glaubt er, dass ein Außerstehender Steven und Ellie in seine Gewalt gebracht hat, vielleicht der rothaarige Mann, den er mal mit Ellie zusammen gesehen hat. Dass Ellie für dieses Theater verantwortlich sein soll, kann er sich zunächst nicht vorstellen, doch dann konfrontiert sie ihn sukzessive mit seinen bisherigen Verfehlungen, von denen Ellie letztlich auch betroffen worden war… 
„Trotz der Drogen und Fesseln fühlt er sich immer noch sicher und wiegt sich in dem Glauben, dass er mich kennt, dass ich keine Bedrohung darstelle. Ich bin doch Ellie, seine schüchterne Freundin, das Mädchen, das rot wird, wenn er Komplimente macht, das Mädchen, das ihm immer seinen Willen lässt, bei dem sich alles um ihn dreht. Die harmlose, durchschaubare Ellie, über die man nicht länger nachdenken muss. Er ist so arglos, so geblendet vom Glanz seiner Selbstsicherheit, dass er sich nicht mal gefragt hat, woher zum Teufel dieser Rollstuhl kommt.“ 
Wie Laure van Rensburg in ihren ausführlicher Danksagung am Ende ausführt, ist „Nur du und ich“ von eigenen Erfahrungen unsittlicher Übergriffe geprägt, doch stellt ihr Debütroman alles andere als einen wertvollen Beitrag zur anhaltenden #metoo-Debatte dar. Indem sie das Thema auf einen reißerischen Psycho-Thriller mit unsympathischen wie unglaubwürdigen Figuren heruntergebrochen hat, fügt sie der Diskussion um die weithin auch strukturelle Diskriminierung von Frauen keinen gewinnbringenden Beitrag hinzu. 
Dabei lässt sie Ellie geschickt als Ich-Erzählerin auftreten, während Stevens Perspektive in der dritten Person geschildert wird. Die beabsichtige Identifizierung des Lesers bzw. vor allem der Leserin mit Ellie funktioniert allerdings nicht, da sehr schnell deutlich wird, dass Ellie nur noch von zerstörerischer Rache getrieben ist, die in ihren Mitteln vor nichts zurückschreckt. 
Auf der anderen Seite ist Steven ein echtes Klischee-Arschloch, der erst durch Ellie mit seinen früheren Verfehlungen konfrontiert wird. Die Entwicklung der Beziehung ist ebenso unglaubwürdig gezeichnet wie die obligatorische Wendung zum Ende des ersten Tages. Danach wird aus den jeweiligen Erinnerungen von Steven und Ellie die eigentliche Struktur ihrer Beziehung charakterisiert. 
Indem „Nur du und ich“ zunehmend zum effektheischenden Selbstjustiz-Drama wird, verliert das eigentlich dominierende Diskriminierungs-Thema merklich an Bedeutung. Da hilft auch das Mittel nicht weiter, neben Steven und Ellie eine dritte – zunächst namenlose – Person von ihrer enttäuschten Liebe zu Steven einzubringen. 
Natürlich steht weder außer Frage, dass Steven die oft noch minderjährigen Studentinnen missbraucht hat, noch dass die Diskussion über Gewalt gegenüber Frauen jeglicher Art nicht aus der Öffentlichkeit verschwinden darf, bis das Problem gelöst ist, aber für eine überzeugende Thematisierung in einem Psycho-Thriller gehört weit mehr als ein unglaubwürdig konstruiertes Duell zwischen schwach gezeichneten Charakteren.  

Jim Thompson – „Texas an der Kehle“

Samstag, 26. Februar 2022

(Ullstein, 144 S., Tb.) 
Als Sohn eines Verlegers von Sonderbeilagen hat es Mitch Corey nicht leicht gehabt und schon gar kein Gefühl dafür entwickelt, dass es die Menschen nicht gut mit ihm meinen könnten. Nach dem Tod seines Vaters verdiente sich Mitch seine Brötchen als Hotelpage und lernte dort Teddy kennen, die als Bilanzbuchhalterin einer Erdölgesellschaft gutes Geld verdiente. Teddy drängte ihn zur Heirat, wurde schnell schwanger und erklärte ihrem Mann, dass er sich um das Baby zu kümmern habe, während sie sich um den Lebensunterhalt kümmern würde. Doch als Mitch herausfand, dass seine verrückte Frau als Prostituierte arbeitete, war es mit der Liebe vorbei. 
Der gemeinsame Sohn Sam wuchs in einem Internat auf. Mittlerweile hat Mitch eine Karriere als Berufsspieler eingeschlagen und lernt Red kennen, die ihn so sehr liebt, dass sie ihm beim Abzocken von Würfelspielern hilft und ihn auch heiraten will. 
Das ist zwar auch ganz in Mitchs Sinne, doch ist er nach wie vor mit Teddy verheiratet, die sich ihr Stillschweigen über das Arrangement gut bezahlen lässt. So schrumpft das Vermögen, das sich Mitch und Red erspielt haben, auf dramatische Weise. Um wieder flüssig zu werden, erhält Mitch die Gelegenheit, eine Aktienoption bei dem Ölbaron Zearsdale wahrzunehmen, doch dafür fehlt ihm wieder das nötige Kapital. Nun muss er sich schnell eine lukrative Einnahmequelle erschließen, ohne dass Red davon etwas erfährt … 
„Er brauchte Texas mit der Rastlosigkeit, der Ungeduld und dem Selbstvertrauen seiner Menschen, deren Verhältnis zum Geld von der Freude am Risiko geprägt war. Hier musste er einsteigen. Wo die Menschen nicht wie in anderen Gegenden schlapp und ängstlich das Geld eingemottet auf der Bank alt werden ließen und lieber zu Bridgekarten griffen! Er hatte nur diese Chance.“ (S. 47) 
Mehr als zwanzig Jahre nach seinem Erstlings-Roman „Now and on Earth“ aus dem Jahre 1942 (2011 als „Jetzt und auf Erden“ in deutscher Erstveröffentlichung bei Heyne erschienen) hat Jim Thompson 1965 mit „Texas by the Tail“ einen humorvollen Noir veröffentlicht, der hierzulande erst als „Kalte Füße auf heißem Boden“ bei König (1973) und 1988 in gleicher Übersetzung als „Texas an der Kehle“ in der Krimi-Reihe von Ullstein erschien. Thompson hatte zuvor seine später erfolgreich verfilmten Romane „After Dark, My Sweet“, „The Getaway“, „The Grifters“ und „1280 schwarze Seelen“ geschrieben und einen Schlaganfall hinter sich.  
„Texas an der Kehle“ wartet zwar mit einigen Noir-Elementen auf, spielt aber geschickt und ironisch mit ihnen. So verkörpert Teddy die obligatorische Femme fatale, allerdings wird ihr eher eine Nebenrolle zugedacht, die vor allem in den häufig eingestreuten Rückblenden auftaucht, aber immerhin noch so großen Einfluss auf den Protagonisten ausübt, dass sich dieser auf gefährliche Missionen begibt, um zu kaschieren, dass das für die Hochzeit mit Red angesparte Kapital für unliebsame Erpressungszahlungen verwendet worden ist. Thompson beschreibt auf vergnügliche Art und Weise, wie Mitch und Red in Texas von Geld und Gier korrumpiert von einem Schlamassel ins nächste stolpern. Dabei webt der Autor in Rückblenden regelmäßig verschiedene Biografien ein und würzt seinen von spritzigen Dialogen geprägten Plot mit sinnlichen Anekdoten, die Mitch mit seinen beiden Frauen erlebt hat. Im Gegensatz zu Thompsons früheren Werken überwiegt hier die heitere Note und führt Mitch und Red nach einer abenteuerlichen Odyssee zu einem für einen Noir ungewöhnlichen Ende. 

 

Jim Thompson – „Der Verbrecher“

Sonntag, 20. Februar 2022

(Ullstein, 124 S., Tb.) 
Jim Thompson (1906-1977) gehört leider zu jenen Schriftstellern, die Zeit ihres Lebens längst nicht die Beachtung erfahren haben, die sie verdienten. Dass er bereits im Alter von 19 Jahren dem Alkohol verfallen war, einen Nervenzusammenbruch erlitt und 1935 für drei Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen ist, wirkte sich in der McCarthy-Ära nicht gerade förderlich für seine Karriere aus. Nachdem er seinen Lebensunterhalt mit True-Crime-Stories verdient hatte und erste Versuche scheiterten, in Hollywood Fuß zu fassen, veröffentlichte er Anfang der 1940er Jahre seine ersten Romane und hatte seine Blütezeit in den 1950er Jahren. Da schrieb er nicht nur die Drehbücher für Stanley Kubricks Frühwerke „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“, sondern auch die Werke, die zumeist nach Thompsons Tod verfilmt wurden (u.a. „Getaway“, „Grifters“, „After Dark, My Sweet“). Zu den weniger bekannten Werken zählt der 1953 veröffentlichte Roman „The Criminal“, der bislang nur in der 1990 veröffentlichten Übersetzung von Olaf Krämer im Ullstein Verlag vorliegt. 
Der fünfzehnjährige Robert „Bob“ Talbert wird beschuldigt, die ein Jahr jüngere Nachbarstochter Josie Eddleman umgebracht zu haben. Als noch keine weiteren Grundstücke zwischen den Häusern der Talberts und Eddlemans bebaut waren, spielten die Kinder viel miteinander, doch kühlte das Verhältnis zwischen den Nachbarn merklich ab, als im Canyon Drive weitere Häuser entstanden. Während Jack Eddleman Karriere im Immobiliengeschäft gemacht hat, kommt Allen Talbert in Henleys Fliesenfirma nicht so recht voran. Der körperlich gut entwickelten Josie gefällt es, Jungen und Männern schöne Augen zu machen, und letztlich kann sich auch Bob nicht gegen Josies forsches Vorgehen wehren. 
Bob war auf dem Weg zum Golfplatz, um als Caddy etwas Geld zu verdienen und seinem Vater ein Geschenk kaufen zu können, als ihm Josie aufgelauert hat. Die Nachricht von ihrem Tod ist der Zeitung nur acht Zeilen wert, was den Chefredakteur aus der Haut fahren lässt. Er setzt seinen Reporter Donald Skysmith darauf an, die Geschichte auszuschlachten, während der bekannte Rechtsanwalt I. Kossmeyer versucht, den Jungen freizubekommen. Doch die öffentliche Meinung hat bereits ein Urteil gefällt … 
„Ich ging die Story noch mal durch. Und dieses Mal setzten die Zweifel ein, der Verdacht, den ich am Morgen hatte, begann zuzunehmen. Diese Menschen dachten, der Junge sei schuldig. Die, die ihn am besten kannten, seine eigenen Eltern, dachten, er sei schuldig. Wenn man versuchte, es auf den Punkt zu bringen, gab es keinen wirklichen Beweis.“ (S. 72) 
„Der Verbrecher“ liest sich fast wie eine der True-Crime-Stories, die Thompson zu Beginn seiner Karriere verfasst hat, wobei er die Geschichte aus der Perspektive verschiedener Beteiligter erzählt, beginnend mit dem Vater, der von dem nachbarschaftlichen Verhältnis zu den Eddlemans, seiner Arbeit in der Fliesenfirma und einem gemeinsamen Familienausflug berichtet, aber auch von einem Zwischenfall, bei dem Bob und Josie zusammen im Waschkeller der Talberts erwischt wurden. Thompson beschwört eine Atmosphäre von Neid, Gier und Verrat herauf, in der jeder der Beteiligten auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und kein gutes Haar an möglichen Konkurrenten und Nebenbuhlern lässt. 
So wird der Mord an dem vierzehnjährigen Mädchen vor allem durch die Presse mächtig aufgebauscht, und Thompson nimmt sich entsprechend viel Zeit, um die Verhöre, die der mit der Situation völlig überforderte Angeklagte mit den Reportern und seinem Anwalt führt, zu schildern. Thompson selbst lässt allein seine Figuren zu Wort kommen und enthält sich jeder bewertenden Aussage. So entsteht das düstere Szenario eines Verbrechens, das von der Justiz nicht aufgeklärt werden kann, durch die Hetzkampagne in den Medien aber so stark manipuliert wird, dass der Junge letztlich keine Chance hat. Damit präsentierte der Autor bereits in den 1950er Jahren, über welch meinungsprägende Macht die Medien verfügen. 

 

Jo Nesbø – (Harry Hole: 6) – „Der Erlöser“

Dienstag, 11. Januar 2022

(Ullstein, 508 S., HC) 
In seinem sechsten Fall ermittelt der Osloer Kriminalkommissar Harry Hole im Todesfall des Junkies Per Holmen. Der heroinabhängige Junge wurde in einem Container auf dem Hafengelände von Bjørvika erschossen aufgefunden, die Pistole neben sich. Doch so recht will sich der Alkoholiker Hole mit dem offensichtlichen Selbstmord nicht zufriedengeben, besucht das Café der Heilsarmee, in der sich Obdachlose und Abhängige immer mal wieder aufwärmen und kommt in Holmens Familie den wahren Umständen von Pers Tod auf den Grund. Währenddessen hat Harry Hole mit etlichen Veränderungen in seinem Leben zu kämpfen. 
Sein früherer Chef Bjarne Møller lässt sich auf eigenen Wunsch nach Bergen versetzen, um dort das Dezernat für Gewaltverbrechen zu leiten. Zum Abschied erhält Hole von ihm eine zu laut tickende Armbanduhr, die er eines Nachts frustriert aus dem Fenster wirft. Møllers Nachfolger Gunnar Hagen nervt Hole nicht nur mit seinen Erzählungen über die Tapferkeit japanischer Soldaten, sondern versucht Hole auch noch etwas Disziplin beizubringen. Während seine frühere Lebensgefährtin Rakel einen neuen Liebhaber hat, macht Hole allmählich wieder Bekanntschaft mit seinem vertrauten Feind Alkohol. Ebenso schwierig erweisen sich die Ermittlungen im Mordfall von Robert Karlsen, einem bekannten Soldaten der Heilsarmee, der während eines Konzerts mitten in der Vorweihnachtszeit auf Norwegens bekanntester Straße aus kürzester Distanz erschossen wurde. 
Anhand der Bilder, die das Dagbladet als Mitorganisator der Konzerte am Egertorg gemacht hat, fällt ein Mann mit einem auffälligen roten Schal auf, den die Polizei als den kroatischen Auftragsmörder Stankic identifiziert. Der wartet bereits am Flughafen auf den Rückflug nach Zagreb, doch spielt ihm das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Durch den zwangsläufig verlängerten Aufenthalt in Oslo erfährt Stankic, dass er den falschen Karlsen erschossen hat. Offensichtlich hatte Robert kurzfristig mit seinem Bruder Jon, der ihm zum Verwechseln ähnlich sieht, den Dienst getauscht. 
Während „der Erlöser“ seinen Irrtum korrigieren will, sterben weitere Menschen, so Jon Karlsens wohlhabende Geliebte Ragnhild und Holes junger Kollege Jack Halvorsen, der seinen Verletzungen nach einem Messerangriff im Krankenhaus erliegt. Hole reist auf eigene Faust nach Zagreb, um Stankics Auftraggeber zu ermitteln, und stellt fest, dass Jon Karlsen das eigentliche Opfer des Attentats werden sollte. Zurück in Oslo beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn Hole will auf jeden Fall verhindern, dass Stankic weitere Morde ausübt, doch dann läuft alles anders als geplant … 
„Er spürte einen Kloß im Hals, der immer dicker wurde, und dachte an etwas, das Møller bei ihrer letzten Begegnung hier oben gesagt hatte: Es sei verrückt, dass man vom Zentrum Norwegens zeitgrößter Stadt nur sechs Minuten mit der Seilbahn fahren musste und sich plötzlich in eienr Gegend befand, in der sich ein Mensch verlaufen und zu Tode kommen konnte. Dass man im Zentrum von etwas, das man selbst als Gerechtigkeit empfand, plötzlich jede Orientierung verlieren und zu etwas mutieren konnte, das man normalerweise selbst bekämpfte.“ (S. 507) 
Es geht hoch her in „Der Erlöser“, dem sechsten Band um den 1,93 Meter großen, alkoholkranken Kommissar Harry Hole. Mit dem einführenden Fall des toten Junkies in einem Container beweist Hole sich und den Lesern, dass er noch immer mit dem Gespür eines brillanten Ermittlers gesegnet ist. Dieses braucht er dann auch im aufsehenerregenden Mord an dem Heilsarmee-Soldaten Robert Karlsen. Je tiefer Hole und seine Kollegen in die Organisation der Heilsarmee bekommen, desto verworrener erscheinen auch die Beziehungen zwischen den Beteiligten. Affären, Korruption, Missgunst und Hass sind hier offenbar ebenso an der Tagesordnung wie in der regulären Welt. 
Tatsächlich entwickelt Nesbø hier seine größten Stärken, wenn er nach und nach dieses komplexe Geflecht entwirrt und dabei geschickt Stück für Stück elementare Ereignisse aus der Vergangenheit sowohl der beiden Karlsen-Brüder als auch deren gemeinsame Bekannte Martine freilegt, mit der Hole selbst gern etwas anfangen würde. Allerdings schleichen sich in dem 500-Seiten-Krimi auch so einige Längen ein, die der Autor durch unnötige Spielereien und kleine falsche Fährten einfügt. Dafür ist das furiose und temporeiche Finale dramaturgisch erstklassig inszeniert und bekommt am Ende für Hole auch noch eine sehr persönliche, überraschende Note. Es bleibt also weiterhin spannend in Holes Leben und Karriere!