(Ullstein, 124 S., Tb.)
Jim Thompson (1906-1977) gehört leider zu jenen Schriftstellern, die Zeit ihres Lebens längst nicht die Beachtung erfahren haben, die sie verdienten. Dass er bereits im Alter von 19 Jahren dem Alkohol verfallen war, einen Nervenzusammenbruch erlitt und 1935 für drei Jahre Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen ist, wirkte sich in der McCarthy-Ära nicht gerade förderlich für seine Karriere aus. Nachdem er seinen Lebensunterhalt mit True-Crime-Stories verdient hatte und erste Versuche scheiterten, in Hollywood Fuß zu fassen, veröffentlichte er Anfang der 1940er Jahre seine ersten Romane und hatte seine Blütezeit in den 1950er Jahren. Da schrieb er nicht nur die Drehbücher für Stanley Kubricks Frühwerke „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“, sondern auch die Werke, die zumeist nach Thompsons Tod verfilmt wurden (u.a. „Getaway“, „Grifters“, „After Dark, My Sweet“). Zu den weniger bekannten Werken zählt der 1953 veröffentlichte Roman „The Criminal“, der bislang nur in der 1990 veröffentlichten Übersetzung von Olaf Krämer im Ullstein Verlag vorliegt.
Der fünfzehnjährige Robert „Bob“ Talbert wird beschuldigt, die ein Jahr jüngere Nachbarstochter Josie Eddleman umgebracht zu haben. Als noch keine weiteren Grundstücke zwischen den Häusern der Talberts und Eddlemans bebaut waren, spielten die Kinder viel miteinander, doch kühlte das Verhältnis zwischen den Nachbarn merklich ab, als im Canyon Drive weitere Häuser entstanden. Während Jack Eddleman Karriere im Immobiliengeschäft gemacht hat, kommt Allen Talbert in Henleys Fliesenfirma nicht so recht voran. Der körperlich gut entwickelten Josie gefällt es, Jungen und Männern schöne Augen zu machen, und letztlich kann sich auch Bob nicht gegen Josies forsches Vorgehen wehren.
Bob war auf dem Weg zum Golfplatz, um als Caddy etwas Geld zu verdienen und seinem Vater ein Geschenk kaufen zu können, als ihm Josie aufgelauert hat. Die Nachricht von ihrem Tod ist der Zeitung nur acht Zeilen wert, was den Chefredakteur aus der Haut fahren lässt. Er setzt seinen Reporter Donald Skysmith darauf an, die Geschichte auszuschlachten, während der bekannte Rechtsanwalt I. Kossmeyer versucht, den Jungen freizubekommen. Doch die öffentliche Meinung hat bereits ein Urteil gefällt …
„Ich ging die Story noch mal durch. Und dieses Mal setzten die Zweifel ein, der Verdacht, den ich am Morgen hatte, begann zuzunehmen. Diese Menschen dachten, der Junge sei schuldig. Die, die ihn am besten kannten, seine eigenen Eltern, dachten, er sei schuldig. Wenn man versuchte, es auf den Punkt zu bringen, gab es keinen wirklichen Beweis.“ (S. 72)
„Der Verbrecher“ liest sich fast wie eine der True-Crime-Stories, die Thompson zu Beginn seiner Karriere verfasst hat, wobei er die Geschichte aus der Perspektive verschiedener Beteiligter erzählt, beginnend mit dem Vater, der von dem nachbarschaftlichen Verhältnis zu den Eddlemans, seiner Arbeit in der Fliesenfirma und einem gemeinsamen Familienausflug berichtet, aber auch von einem Zwischenfall, bei dem Bob und Josie zusammen im Waschkeller der Talberts erwischt wurden. Thompson beschwört eine Atmosphäre von Neid, Gier und Verrat herauf, in der jeder der Beteiligten auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist und kein gutes Haar an möglichen Konkurrenten und Nebenbuhlern lässt.
So wird der Mord an dem vierzehnjährigen Mädchen vor allem durch die Presse mächtig aufgebauscht, und Thompson nimmt sich entsprechend viel Zeit, um die Verhöre, die der mit der Situation völlig überforderte Angeklagte mit den Reportern und seinem Anwalt führt, zu schildern. Thompson selbst lässt allein seine Figuren zu Wort kommen und enthält sich jeder bewertenden Aussage. So entsteht das düstere Szenario eines Verbrechens, das von der Justiz nicht aufgeklärt werden kann, durch die Hetzkampagne in den Medien aber so stark manipuliert wird, dass der Junge letztlich keine Chance hat. Damit präsentierte der Autor bereits in den 1950er Jahren, über welch meinungsprägende Macht die Medien verfügen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen