(Pendragon, 288 S., HC)
Gerade mal 28 Jahre wurde der 1871 in Newark, New Jersey, geborene Stephen Crane, der für seine naturalistisch geschilderten Lebensentwürfe von Menschen bekannt wurde, die am Rande der Gesellschaft um ihre Existenz zu kämpfen hatten. Cranes Blick auf die Armen ist nicht zuletzt deshalb so bemerkenswert, weil er selbst als Sohn eines Methodisten-Predigers keine Not zu leiden hatte, sich früh für das Schreiben begeisterte und nach dem Tod seiner Eltern sein Studium abbrach, um als Journalist in New York vor allem über das Leben in den Slums der Stadt zu schreiben. Diese Erfahrungen brachte Crane in seinen ersten, 1893 veröffentlichten Roman „Maggie, a Girl of the Streets“ ein, der das Zentrum der Story-Sammlung „Geschichten eines New Yorker Künstlers“ bildet. Neben „Maggie, ein Mädchen von der Straße“ und dem damit korrelierenden Roman „Georges Mutter“ enthält das Buch viele Geschichten als deutsche Erstveröffentlichung.
In der eröffnenden, 1902 erstmals veröffentlichten Titelgeschichte beschreibt Crane die Nöte einer Künstlergemeinschaft im New York der 1890er Jahre, das verzweifelte Warten auf ausstehende Honorarzahlungen, das Einteilen der kaum noch vorhandenen Nahrungsvorräte und das schwierige Haushalten mit dem wenigen Geld, das durch den Verkauf von Zeichnungen und Geschichten reinkommt. Dabei ist Crane gar nicht so penetrant darauf aus, Mitleid für seine Figuren zu erzeugen, doch führt seine einfühlsame Sprache genau dorthin. Wenn er beschreibt, wie Penny seine zwanzig noch verbliebenen Cent in zwei Stück Kuchen investiert, von denen er auch ein Stück dem alten Tim abgibt, zeichnet Crane nicht nur das triste Bild eines täglichen Überlebenskampfes. Er beschreibt damit ebenso, dass diese armen Menschen trotz ihrer Armut noch nicht ihre Würde und Nächstenliebe verloren haben.
Besonders eindringlich ist Crane diese lebensnahe Schilderung in seinem Debüt-Roman „Maggie, ein Mädchen von der Straße“ gelungen, den Crane 1893 noch unter Pseudonym veröffentlichte. Mit Maggie Johnson, die mit ihrem Bruder Jimmie und ihren alkoholsüchtigen Eltern in einer schäbigen Mietskaserne in der Bowery aufwächst, sich in einer Textilfabrik mit dem Nähen von Kragen und Manschetten abmüht und sich in den großspurigen Pete verliebt, beschreibt Crane ein berührendes Schicksal, wie es viele Mädchen geteilt haben dürften, die von einem besseren Leben geträumt haben und bitter enttäuscht wurden.
Ein ähnliches Schicksal teilt George Kelcey in dem Roman „Georges Mutter“. Es stellt sich heraus, dass er im selben Mietshaus wie Maggie wohnt, dass ihr Schicksal vielleicht einen anderen Weg eingeschlagen hätten, wenn ihre jeweiligen Träume sie nicht in die Irre geführt hätten. Denn so wie sich Maggie von Petes arroganten Getue blenden lässt, führt auch Kelceys Bedürfnis nach gesellschaftlicher Anerkennung nicht zu der erhofften Wende in seinem Leben.
„Sein brummender Schädel brachte ihn zu der Einsicht, dass es Zeit war, sein Leben zu ändern. Sein Magen vermittelte ihm die Erkenntnis, dass die Weisheit darin lag, ein guter Mensch zu sein. Der Blick in die Zukunft gab jedoch wenig Anlass zur Hoffnung. Vor einer Rückkehr zum alten Trott graute ihm. Für die tägliche Müh und Plage war er nicht geschaffen. Er zitterte beim bloßen Gedanken daran. Doch auch der Weg durch die goldenen Pforte des Lasters hatte seinen Reiz verloren.“ (S. 181)
Sowohl Maggie als auch George leiden massiv unter dem familiären Umfeld, in dem sie aufwachsen. Während Maggies Eltern im Alkohol die Flucht aus der bedrückenden Realität suchen, ist es bei Georges Mutter der Glauben, an den sie sich so fest klammert, dass sie immer wieder versucht, dass ihr Sohn sie in die Kirche und zur Betstunde begleitet.
Crane schildert eindringlich den Kampf, den seine Figuren nicht nur ums Überleben, sondern auf dem Weg zum Glück bestreiten, ohne aber aus ihrem Milieu ausbrechen zu können. Selbst kleine Freuden wie ein zugelaufener Hund (in „Der kleine braune Hund“) oder die Teilnahme an einem Picknick („Das Picknick“) bringen nicht die erwünschten Veränderungen auf dem Weg zum Glück. Am Ende steht stets Ernüchterung und Enttäuschung über die geplatzten Träume und die erdrückende Einsicht, dass sich nichts ändern wird.
Nachdem Pendragon im vergangenen Jahr mit „Die tristen Tage von Coney Island“ Stephen Crane der deutschsprachigen Leserschaft wieder nähergebracht hat, lädt auch „Geschichten eines New Yorker Künstlers“ dazu ein, tief in Cranes schriftstellerisches Können einzutauchen.
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