John Irving – „Zirkuskind“

Montag, 13. Januar 2025

John Irving – „Zirkuskind“ 
(Diogenes, 970 S., Tb.) 
Seit John Irving mit zarten 26 Jahren sein immerhin schon 500 Seiten starkes Romandebüt „Lasst die Bären los!“ veröffentlicht hat, zählt der aus New Hampshire stammende Autor zu den erzählwütigsten Vertretern seiner Zunft. In der Regel dürfen seine Fans alle zwei bis vier Jahre mit einem neuen, gern auch mal 1000 Seiten umfassenden Opus von ihm rechnen. So wartet auch sein achter, 1994 erschienener Roman „A Son of the Circus“ mit eindrucksvollen 970 Seiten auf und entführt die geneigte Leserschaft nach Indien. 
Dr. Farrokh Daruwalla fühlt sich in seiner Heimatstadt Toronto, wo er die meiste Zeit mit seiner Wiener Frau lebt, die er während seines Studiums in der Schweiz kennengelernt hat, nach wie vor wie ein Einwanderer, weshalb es ihn immer wieder nach Bombay zieht, wo er geboren und aufgewachsen ist. Dort verbringt der etwas pummelige, schon in die Jahre gekommene Orthopäde seine Zeit vor allem damit, seinem Hobby zu frönen, nämlich Blutproben von Liliputanern des Great Blue Nile Circus zu sammeln, um ihre Gene zu studieren, was ihm allerdings so gut wie nie gelingt. Erfolgreicher ist er darin, Drehbücher für den von vielen verhassten Schauspieler John D. zu schreiben, dessen „Inspektor Dhar“-Filme stets nach dem gleichen Rezept funktionierten. Doch dann wird es turbulent. 
Mit dem Scholastiker Martin Mills taucht nicht nur überraschend der bislang unbekannte Zwillingsbruder des Schauspielers auf, um in Bombay an einer Schule zu lehren, sondern im traditionellen Duckworth-Goldclub treibt auch ein Mörder sein Unwesen, der mit seiner hinterlassenen Botschaft „Weil Dhar Mitglied im Club ist“ unmissverständlich klar macht, dass das Morden weitergeht, solange der vor allem von den kastrierten Transvestiten-Prostituierten verhasste Schauspieler nicht aus dem Club geworfen wird. 
Daruwallas zwergwüchsiger Chauffeur, der echte Kommissar Patel, das aus Iowa stammende Hippie-Mädchen Nancy und einige skurrilere Figuren wie der Junge mit dem Elefantenfuß, aufreizende Kinderprostituierte und ein Killer, der seinen Opfer Elefanten auf den Bauch malt, runden das Ensemble in dem multisexuellen und -kulturellen Plot ab, in dem der gute Doktor nicht nur den Verlust seines homosexuellen Freundes aus Toronto verkraften muss, sondern sich auch gegen die erotischen Verführungen der HIV-positiven Kinderprostituierten Madhu standhaft bleiben muss. 
„Ihre vorsätzliche Nacktheit war bedrückend, allerdings nicht, weil sie ihn wirklich gereizt hätte, Sex mit ihr zu haben (allein schon der Gedanke) erschien ihm plötzlich als der Inbegriff des Bösen. Er wollte gar keinen Sex mit ihr – er verspürte nur eine ganz flüchtige Begierde -, aber ihre überdeutliche Verfügbarkeit betäubte seine anderen Sinne. Dabei war er sich bewusst, dass sich ein so reines Übel, etwas so eindeutig Verkehrtes, wohl selten so folgenlos darbot. Das war ja gerade das Entsetzliche: Wenn er ihr gestattete, ihn zu verführen, würde das kein negatives Nachspiel haben – außer dass er sich, immer und ewig – daran erinnern und schuldig fühlen würde.“ (S. 759) 
Für „Zirkuskind“ hat John Irving Neuengland verlassen, und obwohl er in seiner Vorbemerkung beteuert, dass der Roman nicht von Indien handele und er Indien nicht kenne, spielt sich doch der Großteil des Romans dort ab, wobei das titelgebende Zirkuskind letztlich nur am Rand eine Rolle spielt. Vielmehr entfaltet Irving vor der berauschenden Kulisse der lauten, von Menschen nur so wimmelnden Metropole ein breites Spektrum an für ihn gewohnten kuriosen Figuren, von denen Dr. Daruwalla das Zentrum der Erzählung bildet, die sich über etliche Nebenhandlungen und Erinnerungen erstreckt und sich nicht recht entscheiden kann, ob sie Krimi, Drama, Kultur- oder Sittengeschichte sein will. 
Es geht um Glauben, sexuelle und kulturelle Identität, Wahrheit und Fiktion, um Familie und Randfiguren der Gesellschaft, natürlich auch um den Mikrokosmos Zirkus. Es hätte sicher gereicht, Daruwallas Geschichte als Zauderer zwischen den Welten und Kulturen zu erzählen und das Gefühl von Heimat und Fremdsein in all seinen Facetten zu thematisieren. 
Warum allerlei sexuelle Aktivitäten, seltsame Morde und Schicksale von Zirkuskindern alles so verworren machen müssen, bleibt mir persönlich ein absolutes Rätsel. 
„Zirkuskind“ ist von allen Irving-Romanen wohl derjenige, den man nicht unbedingt gelesen haben muss. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen