Stephen King – „Joyland“

Sonntag, 23. Juni 2013

(Heyne, 352 S., HC)
Nach zwei Jahren, in denen Devin Jones mit an der University von New Hampshire mit Wendy Keegan ging und in denen sie alles gemeinsam machten außer „es“, kommt es im Sommer 1973 zum Bruch. Sonst arbeiteten sie in den Semesterferien in ihren Nebenjobs durch, sie in der Bibliothek, er in der Mensa, aber diesmal haben Wendy und ihre Freundin Renee einen Job bei Filene’s in Boston bekommen. Per Brief macht Wendy schließlich mit Devin Schluss und lässt einen jungen Mann mit gebrochenem Herzen zurück. Doch als Devin in einer Ausgabe von „Carolina Living“ auf ein Jobangebot mit dem Titel „Work Close To Heaven!“ stößt, beginnt für den 21-jährigen Anglistsik-Studenten das Abenteuer seines Lebens.
In dem eindrucksvollen Freizeitpark „Joyland“ in Heaven’s Bay findet er neue Freunde und trifft auf merkwürdige Gestalten. Sein Kollege Lane Hardy erzählt ihm, dass es im Horror House spuken soll, seitdem das junge Mädchen Linda Gray dort mit aufgeschnittener Kehle aufgefunden wurde. Vor allem ist Devin von Annie Ross und ihrem im Rollstuhl sitzenden Sohn Mike fasziniert, denen er auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig begegnet und mit denen er sich anzufreunden beginnt.
 „Mein Vater hatte recht: Ich war immer noch traurig und deprimiert darüber, wie es mit Wendy zu Ende gegangen war, aber immerhin hatte ich angefangen, den Tatsachen ins Auge zu blicken und mich (wie es in den Selbsthilfegruppen heutzutage so schön heißt) mit ihnen abzufinden. Von echter Gelassenheit war ich natürlich noch weit entfernt, aber ich quälte mich auch nicht mehr Tag und Nacht wie noch im Juni und hatte zumindest das Gefühl, dass es langsam wieder bergauf ging. Dass ich hier bleiben wollte, hatte auch mit anderen Dingen zu tun, über die ich mir bei Weitem noch nicht im Klaren war, weil sie in einem wilden Haufen durcheinanderlagen und nur vom groben Garn der Intuition zusammengehalten wurden. Mit meiner Begegnung mit Hallie Stansfield zum Beispiel. Und mit Bradley Easterbrook, der am Sommeranfang gesagt hatte: Wir verkaufen Spaß. (…) Und dem Jargon, der Geheimsprache, die die anderen Grünschnäbel bis zu den Weihnachtsferien vergessen haben würden. Ich wollte all die tollen Wörter nicht vergessen. Ich hatte das Gefühl, dass in Joyland noch mehr auf mich wartete. Ich wusste nicht, was, nur eben einfach … mehr.“ (S. 153) 
Tatsächlich kommen Devin und seine Kollegin Erin Cook einer ganzen Reihe von Morden an jungen Mädchen auf die Spur, die quer durch das Land in der Nähe von Vergnügungsparks verübt worden sind. Doch je mehr sich Devin mit der Aufarbeitung der Morde und dem Geist von Linda Gray im Horror House beschäftigt, desto mehr begibt er sich selbst in Lebensgefahr …
Nach seinen letzten beiden episch angelegten Romanen „Die Arena“ und „Der Anschlag“, die in den 60er Jahren angesiedelt waren, demonstriert Bestseller-Autor Stephen King mit seinem neuen Roman „Joyland“, dass er nach wie vor auch sehr kurz gehaltene und ebenso kurzweilige Geschichten zu erzählen vermag. „Joyland“ ist nur auf den ersten Blick eine typische Jahrmarkts-Geistergeschichte. Tatsächlich handelt es sich hier um eine lupenreine Coming-of-Age-Story, in der die Schicksale einer überschaubaren Anzahl von Personen immer mehr miteinander verstrickt werden. King entwickelt dabei ein feines Gespür für seine Figuren und ihre ganz eigenen Befindlichkeiten, die der besorgten Mutter eines zum Sterben verurteilten Kindes ebenso wie die des kleinen Jungen selbst. Vor allem aber füllt der Ich-Erzähler Devin Jones die Seiten mit all seinen verwirrten Gefühlen über seine erste, nicht wirklich erfüllte Liebe, über die Beziehung zu seinem Vater und zu Annie Ross und ihrem Sohn. Die Mordfälle geraten dabei nahezu in den Hintergrund, doch zum spannenden Finale hin nimmt dieser Aspekt mächtig an Fahrt auf, was „Joyland“ auch noch eine lupenreine Thriller-Komponente verleiht. Die letzten Werke von Stephen King waren schon sehr gut, aber mit „Joyland“ hat der King of Horror ein Meisterwerk abgeliefert, das einen ganz fesselnden Groove und einen geheimnisvollen Sog entwickelt, dem man sich nicht entziehen kann.

Jeffery Deaver – „Schutzlos“

Samstag, 15. Juni 2013

(Blanvalet, 509 S., Tb.)
Das FBI-Büro in Charleston, West Virginia, ist bei einer Drogenrazzia auf die Fingerabdrücke des Lifters Henry Loving gestoßen, der eigentlich vor zwei Jahren in einem abgebrannten Lagerhaus zu Tode gekommen sein soll. Lifter sind freiberufliche Vernehmungsspezialisten, die angeheuert werden, um von bestimmten Personen Informationen herauszuholen, auf welche Weise auch immer.
Nun ist Loving auf die Familie des in Washington, D.C. lebenden Polizisten Ryan Kessler angesetzt worden. Die Staatsanwaltschaft setzt den privaten Personenschützer Corte darauf an, die Kesslers in einem sicherem Haus unterzubringen, bis Loving gestellt worden und sein Auftraggeber bekannt ist. Corte hat dabei noch eine persönliche Rechnung mit Loving offen: vor sechs Jahren tötete er nämlich Cortes Mentor Abe Fallow. Zunächst scheint es, als wäre Kessler durch die zwei größeren Fälle, an denen er momentan arbeitet, in Lovings Visier gerückt, doch alle Ermittlungen von Cortes streng geheim operierender Firma in dieser Richtung führen ins Leere.
„Einer der besten Lifter war hinter Ryan Kessler her. Und zwar nicht wegen seiner beiden aktuellen großen Fälle. Und es war nicht wegen seiner Verwaltungstätigkeit. Die Spieltheorie berücksichtigt Unbekannte und Bekannte in der Gleichung. Man weiß nicht, wie der Würfel fallen wird, welche Karte man als nächste aufhebt oder bekommt. Man kennt den nächsten Zug seines Gegners nicht. Deine zitternde Hand lässt dich manchmal irrtümlich ziehen. Aber etwas, was du immer weißt, ist, wer dein Gegner ist und welches Ziel er verfolgt. Dieses Spiel war jedoch anders. Ich kannte den Gegner nicht – nur die Spielfigur, den Springer oder Turm: Henry Loving. Und ich kannte das Ziel des Spiels nicht.“ (S. 329) 
Tatsächlich scheinen auch die anderen Kesslers potenzielle Kandidaten zu sein, brisante Informationen in sich zu tragen. Doch Loving hat mit seinem Partner schon längst die Spur aufgenommen und bringt Corte und seine Mandanten in eine lebensbedrohliche Situation …
Neben seinen schon legendären Lincoln-Rhyme-Romanen schreibt der amerikanische Bestseller-Autor Jeffery Deaver immer mal wieder eigenständige Thriller, mit denen er unter Beweis stellt, dass er stets neue interessante Settings zu ersinnen versteht. In „Schutzlos“ wird die Spannung auf gleich auf mehreren Ebenen aufgebaut. Zunächst wird das Duell zwischen den beiden Todfeinden Loving und Corte ins Feld gebracht, wobei Corte als Spiel-Experten und –Sammler immer wieder passende Gedanken zur Spieltheorie in den Mund gelegt werden, um seine Strategie zu beschreiben. Auf der darüber liegenden Ebene wird Lovings Auftraggeber gesucht, der schließlich das Motiv für die Jagd auf die Kesslers besitzt. Und schließlich bleibt lange unklar, wer konkret aus der Familie eigentlich Lovings Ziel ist. Was die Motive und die Zielperson angeht, arbeitet Deaver geschickt mit immer neuen Wendungen, die auf Dauer aber auch sehr konstruiert wirken, was gerade auf die finale Identifizierung des Auftraggebers zutrifft. Aber bis dahin bietet „Schutzlos“ ein packendes Lesevergnügen mit vielschichtigen Figuren und einem sympathischen wie gewissenhaften Protagonisten, der es nicht immer leicht hat, seine Mandanten nur als solche zu sehen.
Leseprobe: Jeffery Deaver – “Schutzlos”