Posts mit dem Label Philippe Djian werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Philippe Djian werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Philippe Djian – „Ein heißes Jahr“

Mittwoch, 22. November 2023

(Diogenes, 228 S., HC) 
Von Beginn seiner schriftstellerischen Karriere an hat sich Philippe Djian vor allem mit amourösen Verstrickungen und der poetischen Beschreibung ihrer seelischen wie körperlichen Vorgänge einen Namen gemacht. In den letzten Jahren ist dem französischen Bestseller-Autor diese Fähigkeit allerdings weitgehend abhandengekommen. Dass sein neuer Roman „Ein heißes Jahr“ mit kaum mehr als 200 Seiten wieder sehr kurz ausgefallen ist, spricht zunächst wenig dafür, dass Djian wieder die Kurve gekriegt hat. Dafür setzt er mit der Klimakatastrophe in einer nahen Zukunft – der Originaltitel des Romans lautet „2030“ - zumindest auf ein hochaktuelles Thema. 
Vor zehn Jahren hat die schwedische Schülerin Greta Thunberg zu Schulstreiks für das Klima aufgerufen und den Weg für die globale Bewegung „Fridays For Future“ freigemacht. Als Greg eines Morgens eine Reportage über das „Mädchen mit den Zöpfen“ sieht, wird er mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, dass er zusammen mit seinem Schwager Anton für die Vertuschung von Forschungsergebnissen zur Schädlichkeit eines Pestizids verantwortlich ist. Und das in einer Zeit, in der die Temperaturen so stark steigen, dass man es ohne Klimaanlage kaum noch aushält. Dafür gibt es aber ein Heilmittel gegen Krebs, so dass wieder unbeschwert geraucht werden darf. Während Anton und Greg sich mit ihrem Labor der Gesundheitsaufsicht stellen müssen, die bei einigen der Untersuchungsergebnisse Verdacht geschöpft haben, unterstützt Greg seine vierzehnjährige Nichte Lucie bei ihrem Engagement für das Klima. Dadurch lernt er die Klimaaktivistin Véra kennen, mit der Greg eine ungewöhnliche Freundschaft eingeht, bei der die Grenzen nicht immer so klar definiert erscheinen wie ursprünglich abgesprochen… 
„Sie spielten dieses Spielchen schon eine ganze Weile, am Ende war es schon tiefe Nacht, und sie hatten sich so heißgemacht und gereizt, dass er ihr sogar einen Finger hineingeschoben hatte, aber in weniger als einer Minute hatten sie sich wieder im Griff und gingen in beiderseitigem Einvernehmen auseinander. Sie zog den Slip wieder an und rollte sich auf die Seite. Er stand auf. Sie konnte schlecht behaupten, dass das seine Idee gewesen wäre. Sie selbst hatte die Grenzen festgesetzt, sich darüber zu beklagen, ging jetzt nicht. Genau das musste es wohl bedeuten, sich ins eigene Fleisch zu schneiden.“ (S. 158) 
Was anfänglich wie eine Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe wirkt, auf die wir wissentlich zusteuern, entpuppt sich bei Djian schnell nur als Aufhänger für eine weitere komplizierte Liebesgeschichte. Die familiären und beruflichen Bindungen zwischen Anton und Greg sind dabei komplex. Während für Anton als Chef des Labors, das mit seinen gefälschten Forschungsergebnissen dafür verantwortlich ist, dass das nach wie vor für den Handel zugelassene Pestizid in Zusammenhang mit einigen Todesfällen gebracht wird, vor allem das Image seiner Firma am Herzen liegt und mit den Töchtern seiner Frau arge Probleme hat, ist sein Schwager Greg hin- und hergerissen zwischen seiner Loyalität zu seiner Firma, die ihm ein luxuriöses Leben mit einem Porsche ermöglicht, und seiner gesellschaftlichen Verantwortung, auf die ihn seine Nichte und ihre Mentorin Véra aufmerksam machen. 
Djian interessiert sich jedoch mehr für das komplizierte Verhältnis zwischen Greg und Véra als für die Begleitumstände der bedrohlichen Klimakatastrophe, die Djian nur kurz skizziert. Im Gegensatz zu seinen früheren Romanen sind die Charakterisierungen der Figuren in „Ein heißes Jahr“ sehr oberflächlich ausgefallen. Eine wirkliche Nähe zu den Figuren oder gar Sympathie für sie lässt der kurze Roman leider nicht zu. So bleibt „Ein heißes Jahr“ nur eine weitere, eher unbedeutende, wenn auch stilsichere Fingerübung des einst so leidenschaftlich wirkenden Schriftstellers.


Philippe Djian – „Kriminelle“

Freitag, 7. April 2023

(Diogenes, 244 S., HC) 
In den 1980er Jahren avancierte der französische Schriftsteller Philippe Djian zum Liebling der Literaturszene. In Romanen wie „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“ ließ Djian seinen Ich-Erzähler als sein Alter ego auf erfrischend frivole wie leichtfüßige und humorvolle Weise über Sex, Gefühlschaos und Schreibblockaden schwadronieren, dass es eine Freude war, sich in die turbulenten Stories zu stürzen. Ende der 1990er Jahre war von diesem schwungvollen Flair nur noch wenig übrig geblieben. 
1994 legte er mit „Assassins“ (dt. „Mörder“ bzw. „Ich arbeite für einen Mörder“) den Auftakt einer Trilogie vor, die er zwei Jahre später mit „Kriminelle“ fortsetzte. 
Francis hat es nicht leicht. Er hat keinen Job, einen scheinbar kaputten Rücken, und das Verhältnis zu seiner fünfundvierzigjährigen Freundin Élisabeth gestaltet sich ebenso kompliziert wie das zu seinem Bruder Marc oder seinem Sohn Patrick, der sich in Théos Frau Nicole verguckt hat, was Francis gut nachvollziehen kann, hat er sich, bevor er mit Élisabeth zusammengekommen ist, doch selbst gut ein Dutzend Mal sich auf Nicole einen runtergeholt. Nun will seine Ex-Frau Christine Patrick mit ihrem neuen Mann Robert, der im Zuckerrohrgeschäft tätig ist, nach Guatemala auswandern. 
Zu allem Überfluss muss sich Francis entscheiden, was er mit seinem Vater anstellen soll, der zu einem Pflegefall geworden ist. Mit seinem Bruder, der als Schriftsteller arbeitet, hat er sich immer wieder über den Tod ihrer Mutter in die Haare bekommen, nachdem sie in ihrer Badewanne ertrunken war. Da für Marc seine Mutter sein Ein und Alles gewesen ist, lässt er sich nicht von seiner Überzeugung abbringen, dass sie von dem zur Gewalt neigenden Vater der beiden Brüder umgebracht worden sei. Die befreundeten Paare haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Während Monique verzweifelt ist, dass sie keinen Orgasmus mehr bekommt, ist ihr Mann Ralph nur noch an seinem Rennpferd interessiert. Bei einem Picknick an der Sainte-Bob im Mai treten die Konflikte zwischen den Paaren offen zutage… 
„Ich habe die Abenteuer meiner Ex, Patricks Mutter, nie verkraftet. Ich musste älter als fünfzig werden, um mir einen blasen zu lassen, ohne deshalb alle Frauen zum Kotzen zu finden. Aber man wird diese Sachen nie ganz los. Mit Élisabeth würde ich mich gern im Schlamm wälzen und in weißen Laken wach werden. Ich lebe damit, und ich wüsste nicht, was ich anderes tun könnte. Ich glaube, dass ich mich nicht mehr ändere.“ (S. 102) 
Veränderung ist das große Thema in Djians „Kriminelle“. Insofern passt das dem Roman vorangestellte Zitat „Im Grunde könnte jeder irgendein anderer sein. Man muss sich entscheiden.“ von Richard Ford wie die Faust aufs Auge. Allerdings leidet nicht nur Philippe Djians Ich-Erzähler unter dem Mangel am nötigen Willen dazu, auch Francis‘ Mitmenschen verspüren zwar den Drang zu einer Veränderung in ihrem Leben, werden aber nicht glücklich bei dem Versuch, wenigstens mit kleinen Schritten zu einer Verbesserung ihres Lebensgefühls beitragen zu wollen. 
An Handlung ist „Kriminelle“ so arm wie sonst kaum einer von Djians Romanen. Stattdessen beschränkt sich der einst gefeierte Autor darin, die unterschiedlichen Gefühlswelten seiner Figuren in recht substanzlosen, aber ausufernden Dialogen zum Ausdruck zu bringen, ohne dass sich an der Situation der Beteiligten etwas ändert. Zum Ende hin kommt Francis zur Erkenntnis, dass doch alles ganz einfach sei, worauf Élisabeth entgegnet: „Meine Güte, das sagst du, Francis. So einfach nun doch wieder nicht.“ Diese wenigen Zeilen sind bezeichnend für „Kriminelle“, denn es sind keine wirklich schwerwiegenden Probleme, die Francis & Co. hier zu lösen haben. Sie kreisen einfach um sich selbst, dramatisieren unnötig, kommen nicht voran. Diesen Stillstand vermag Djian zwar wie gewohnt sprachlich brillant einzufangen, doch außer den einfallsreichen Beschreibungen einiger erotischer Momente langweilt „Kriminelle“ einfach nur. 

 

Philipp Djian – „Pas de deux“

Sonntag, 11. September 2022

(Diogenes, 436 S., HC) 
Seit seinem 1982 veröffentlichten Roman „Blau wie die Hölle“ hat der französische Schriftsteller Philippe Djian eine rasante Karriere hingelegt, die in dem auch erfolgreich verfilmten Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) einen ersten Höhepunkt erreichte. 1991 folgte schließlich „Lent dehors“, hierzulande als „Pas de deux“ veröffentlicht, und präsentierte etwas nachdenklichere Töne. Das Thema Sex steht in diesem Roman allerdings auch so stark im Mittelpunkt, dass die Story selbst fast in den Hintergrund rückt. 
Einst galt Henri-John als talentierter Pianist mit vielversprechender Karriere, doch nach einem aufregenden Leben, zu dem das Touren mit dem renommierten Sinn-Fein-Ballett durch die ganze Welt und aufregende Affären zählten, hat er seine Freundin aus Jugendtagen, die mittlerweile erfolgreiche Schriftstellerin Edith, geheiratet, mit ihr die beiden Töchter Eléonore und Evelyne großgezogen und verdient seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer in Teilzeit an der Schule Saint-Vincent. Sein in ruhigen Bahnen verlaufendes Leben kommt erst wieder in Schwung, als Edith für zwei Wochen zu einer Lesereise nach Japan aufbricht. In dieser Zeit lässt sich Henri-John auf eine Affäre mit seiner jungen Kollegin Hélène, deren Avancen er bisher problemlos widerstehen konnte. 
Als Edith jedoch aus Japan mit ersten Teilen ihres neuen Romanmanuskripts zurückkehrt und Henri-John um eine ehrliche Einschätzung bittet, kommt es zum Affront. Henri-John ist über Ediths Anbiederung an die Literaturschickeria so entsetzt, dass er ihr seine Meinung nicht vorenthalten mag. Als Edith auch noch hinter seine Affäre kommt und ihn vor die Tür setzt, ist Henri-John gezwungen, über seine Prioritäten im Leben neu mit sich zu verhandeln. Er nistet sich im Haus seines Freundes Oli am Meer ein und beginnt mit dem Herumtreiber Finn, die Treppe zum Meer neu zu bauen. In der Zeit erinnert sich Henri-John - nicht zuletzt durch das Lesen von Ediths Tagebuch – an wilden Zeiten seiner Jugend zurück und findet langsam heraus, dass er Edith zurückgewinnen will… 
„Meine Probleme waren nicht aus der Welt, aber dank ihm hatte ich die schlimmsten Klippen umschifft. Ich war wieder zu Kräften gekommen, und mein Verstand war klar. Ich hatte aufgehört, über mein Schicksal zu jammern. Die Wunde war nicht verheilt, aber ich glaubte inzwischen, mit ihr leben zu können, weil ich sie akzeptiertem weil sie mir vertraut war, weil Finn, sagen wir, eine Art hatte, seinen Hammer zu schwingen, die mich mit der Welt versöhnte.“ (S. 259) 
Der von US-amerikanischen Autoren wie Richard Brautigan, Henry Miller, Jack Kerouac und Jerome David Salinger beeinflusste Philippe Djian hat nie verhehlt, dass es ihm vor allem um Stil und Sprache geht, und so bilden die Figuren und die Geschichte nur den Rahmen, um mit der Sprache zu jonglieren. Darin hat sich der französische Schriftsteller bereits in seinen frühen Roman als wahrer Fabulierkünstler erwiesen. Mit seinem Roman „Pas de deux“ (der deutsche Titel bezieht sich auf einen Teil des „Nussknacker“-Balletts von Peter Tschaikowsky) erzählt Djian die komplexe Lebensgeschichte eines Musikers, in dessen Erinnerungen vor allem die ersten sexuellen Erfahrungen mit einer reifen Frau wie Romana und nachfolgenden Eroberungen einen breiten Raum einnehmen. Djian ist ein Schriftsteller, der pornographische Inhalte zu einem literarischen Erlebnis macht. 
Seitenlang vermag er die Lust an weiblichen Reizen und an erotischen Handlungen kunstvoll zu beschreiben, ohne dass es einem die Schamesröte ins Gesicht treibt. Doch darüber hinaus erweist sich „Pas de deux“ als feinsinniger Entwicklungsroman. Djian lässt seinen Protagonisten in den Tagebüchern seiner Frau und Briefen seines Freundes Oli schwelgen, führt so immer wieder eine andere Perspektive in den Plot ein, mit der sich Henri-John gezwungenermaßen auseinandersetzen muss, will er seine Frau wieder zurückgewinnen. Dabei entwickelt die Geschichte, die zwischen den ausgehenden 1950er Jahren und der heutigen Zeit pendelt, einen faszinierenden Sog, gelingt es Djian doch vorzüglich, seine Figur mit wahrer emotionaler Tiefe auszustatten und so reifen zu lassen. 
 

Philippe Djian – „Die Ruchlosen“

Dienstag, 24. August 2021

(Diogenes, 202 S., HC) 

Während die zwischen 2013 und 2016 erschienenen Romane „Love Song“, „Chéri-Chéri“ und „Dispersez-vous, ralliez-vous!“ noch auf ihre deutschsprachige Veröffentlichung warten, knüpft der französische Erfolgsautor Philippe Djian („Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen“, „Oh…“) mit seinem neuen Roman an die kurze, aber knackige Prosa an, die bereits seine vorangegangenen Werke „Marlène“ und „Morgengrauen“ ausgezeichnet haben. 
Seit Patrick in den Armen seiner Frau Diana gestorben ist, kümmert sich sein Bruder Marc um die immer wieder von depressiven Stimmungen, die schon mal in Selbstmordversuchen münden, gezeichnete Zahnärztin, ist sogar in ihre Wohnung gezogen, wo er sie besser im Blick hat. Im Gegensatz zu seinem ebenso charismatischen wie temperamentvollen Bruder hat Marc nicht den gewissen Schlag bei Frauen, ist mit seinen knapp dreiunddreißig Jahren noch immer Jungfrau. Dass er mal den Platz seines Bruders bei Diana einnimmt, kommt weder für ihn noch seine Schwägerin in Frage. Aber als Marc, der viel zu viel Zeit mit Online-Poker verbringt und dabei sukzessive seine Geldreserven aufbraucht, eines frühen Morgens am Strand drei Päckchen mit Koks vom Meer angeschwemmt findet, hofft er durch Dianas Bruder Joël die Drogenpäckchen zu Geld machen zu können. Der über Sechzigjährige hat sich nicht nur mit seiner Schwester entzweit, sondern auch mit seiner dreißig Jahre jüngeren Frau Brigitte. Die Dinge verkomplizieren sich nicht nur dadurch, dass sich Joël in der Drogensache mit den falschen Leuten anlegt, sondern auch durch die gar nicht so heimlich Affäre, die Diana mit dem Bürgermeistersohn Serge unterhält … 
„Joël pflegte nicht nur guten Umgang, das lag auf der Hand, und Patrick hatte ihm in dieser Hinsicht nicht nachgestanden. Der Jachthafen und die paar Straßen im Umkreis brachten keine Messdiener und Kirchenleute hervor, und das war das Ergebnis, Geschichten wie aus einem Film, mit Engeln und bösen Jungs.“ (S. 60) 
Was den Umfang seiner Geschichten angeht, bewegt sich Djian weiterhin in Richtung zunehmend minimalistischer Regionen, von 280 Seiten („Marlène“) über 236 Seiten („Morgengrauen“) auf nunmehr 202 Seiten, doch qualitativ bewegen sich seine Geschichten auf etwa ähnlichem Niveau. 
Djian hat es sich angewöhnt, ohne große Einleitung gleich zur Sache zu kommen und den Plot wie ein Feuerwerk abzufackeln, ohne viel Mühe darauf zu verwenden, seinen Figuren und Lesern mal eine Ruhepause zu gönnen. Immerhin versteht er es in „Die Ruchlosen“, mit nur wenigen Skizzen sowohl Marc als auch der fast fünfzigjährigen Diana, aber auch dem vor fast einem Jahr verstorbenen Patrick, dessen Geist die Atmosphäre der Geschichte maßgeblich mitprägt, und dem zerstörerischen Joël Charakter zu verleihen. 
Die Frauenfiguren bleiben bis auf Diana aber recht blass, bleiben Sexgespielinnen oder Gefährten beim Rauchen eines Joints. Djian etabliert ein dichtes Geflecht von mehr oder weniger kranken Beziehungen, die durch den Drogendeal, Affären und schließlich Todesfälle das Drama zu einem echten Thriller werden lassen. Es ist Djians nach wie vor ungewöhnlichem sprachlichen Geschick, seiner einzigartigen Art, mit kurzen Sätzen und knackigen Dialogen Tempo zu machen, zu verdanken, dass sich „Die Ruchlosen“ sehr kurzweilig lesen lässt. 
Allerdings überschlagen sich im Finale die Ereignisse dann doch auf recht unglaubwürdige Art und Weise, die das zuvor schon bizarr anmutende Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren noch absurder erscheinen lässt. Spaß macht dieser teuflische literarische Ritt aber doch!  

Philippe Djian – „Morgengrauen“

Mittwoch, 27. Mai 2020

(Diogenes, 236 S., HC)
Nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, kehrt die dreiunddreißigjährige Joan aus dem Zentrum der Stadt in den Vorort ihres Zuhauses zurück, um sich um ihren autistischen Bruder Marlon zu kümmern, der panische Angst vor der Dunkelheit hat. Die neue Konstellation bringt einige Herausforderungen mit sich, denn neben der Second-Hand-Boutique, die sie mit ihrer fünfzigjährigen Freundin Dora in der Stadt führt, verdient sie ihren Lebensunterhalt als Prostituierte, wovon Marlon auf keinen Fall etwas mitbekommen soll. Einer ihrer Kunden ist Howard, ein alter Bekannter ihrer Eltern, der – wie Joan erfahren muss – auch eine Affäre mit ihrer Mutter Suzan hatte.
Joan bedauert, den Zustand der Gleichgültigkeit zwischen ihr und ihren Eltern jahrelang aufrechterhalten zu haben, und beschäftigt sich mit der Vergangenheit ihrer Eltern, vor allem durch das Lesen von Suzans überraschend leidenschaftlichen Briefen an Howard, der gegenüber Joan immer besitzergreifender wird. Doch das größere Problem stellt die sechzigjährige Ann-Margaret dar, die sich anfangs nur darum kümmern soll, dass Marlon bei seinen Panikattacken nicht allein ist, während Joan ihren zweifelhaften Geschäften nachgeht. Doch dann beginnt die Frau, sich auch Marlons sexueller Bedürfnisse anzunehmen, und Joans Bruder immer mehr für sich einzunehmen.
„Für ihren Geschmack wurde das Leben interessanter, wenn man etwas zu verlieren hatte. Sie hatte dreiunddreißig Jahre gebraucht, um das zu begreifen, war ziellos durch eine endlose, öde Wüste gewandert, aber jetzt war da endlich etwas, und dieses Etwas war ihr Bruder. Sie konnte es noch immer kaum glauben. Was er war, was er bedeutete. Und alles war gut gewesen, bis zu dem Moment, als Ann-Margaret die Bühne betreten hatte.“ (S. 213) 
Philippe Djian, der in den 1980er Jahren mit seinen ersten Romanen „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“ in der Literaturszene für Furore sorgte und zum Kultautor avancierte, hat in den vergangenen Jahren eher kürzere Werke veröffentlicht und begnügt sich auch in seinem neuen Roman „Morgengrauen“ damit, seine Figuren ohne große Einleitung gleich mitten im Geschehen zu verorten, das sich im abgehackten, episodischen Stil überschlägt.
Es bleibt kaum Zeit, die komplizierte (sexuelle Arbeits-) Beziehung zwischen Joan und Harold aufzuarbeiten, da bekommt der ehemalige Liebhaber von Joans Mutter einen cholerischen Anfall und verunglückt wenig später. Die Anziehungskraft zwischen Marlon und der reifen Ann-Margaret wird extrem sprunghaft inszeniert, wobei nur angedeutet wird, wie sich diese Beziehung überhaupt entwickeln konnte. Djian führt etliche Figuren ein, die er nur kurz skizziert, wie den Sheriff John, der zwar ein Auge auf das Etablissement von Dora und Joan wirft, für sein Schweigen aber mit freiem Zutritt zu den Mädchen entlohnt werden will. Am meisten enttäuscht „Morgengrauen“ auf der Beziehungsebene zwischen Joan und Marlon.
Der Autor konzentriert sich so auf Joans Perspektive, dass Marlon selbst fast ein Unbekannter bleibt, ein bloßes Objekt, um dessen Gunst sich Joan und Ann-Margaret zunehmend in die Haare geraten. Djian scheint, wie zuvor schon bei „Marlène“, nur an der Schilderung möglichst abstruser Szenarien interessiert zu sein, ohne Sympathien oder auch nur ein Interesse an seinen Figuren zu entwickeln, so farblos erscheinen sie in der losen Abfolge der Ereignisse. Djian nimmt sich weder die Zeit, Joans problematische Beziehung zu ihren verunglückten Eltern aufzuarbeiten, noch ihre schwierige Beziehung zu ihrem psychisch labilen Bruder. Hätte er das getan, würde das absurde Finale vielleicht auch ansatzweise glaubwürdig wirken, so bringt es nur einen stilistisch zwar wieder pointiert fesselnden, aber auf der erzählerischen Ebene zerfaserten und enttäuschend oberflächlichen Roman zum leider passenden Abschluss.

Philippe Djian – „Betty Blue – 37,2° am Morgen“

Mittwoch, 6. November 2019

(Diogenes, 396 S., Tb.)
Eigentlich könnte der Ich-Erzähler in Philippe Djians ein erfolgreicher Schriftsteller sein. Stattdessen droht sein handgeschriebenes Manuskript in einem Pappkarton in Vergessenheit zu geraten, während er seinen Lebensunterhalt als Mädchen für alles in einer Bungalow-Anlage verdient und sich nebenbei mit der temperamentvollen Betty vergnügt, die er seit einer Woche kennt. Da der Vermieter mit diesem Arrangement nicht so ganz einverstanden ist, erklärt sich der verhinderte Schriftsteller bereit, alle Bungalows neu zu streichen, damit Betty auch weiterhin bei ihm wohnen kann. Betty platzt dabei so richtig der Kragen und leert einen Farbeimer über dem Wagen des verhassten Vermieters. So bekommt der Protagonist in den Mittdreißigern einen ersten Vorgeschmack auf die Temperamentsausbrüche seiner Freundin.
Doch das ist erst der Anfang. Als Betty das Manuskript findet, ist sie von dem Text so begeistert, dass sie es persönlich abtippt und Kopien an verschiedene Verleger aus dem Telefonbuch schickt. Der Absender eines garstigen Ablehnungsschreibens bekommt es schließlich persönlich mit Betty zu tun. Um weiteren Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, zieht das Paar zunächst bei Eddie und Lisa ein, wo sie in Eddies Pizzeria arbeiten, dann verschafft Eddie den beiden einen Job im Klavierladen, den seine verstorbene Mutter betrieben hat. Hier findet der verkannte Schriftsteller genügend Zeit, um an einem neuen Manuskript zu arbeiten, aber Bettys Anfälle nehmen immer besorgniserregendere Züge an …
„Sie müsste einsehen, dass das Glück nicht existiert, dass das Paradies nicht existiert, dass es nichts zu gewinnen oder zu verlieren gibt und man im wesentlichen nichts ändern kann. Und wenn du glaubst, die Verzweiflung ist alles, was einem dann bleibt, dann irrst du dich noch einmal, denn auch die Verzweiflung ist eine Illusion.“ (S. 282) 
Mit seinem dritten Roman nach „Blau wie die Hölle“ und „Erogene Zone“ ist Philippe Djian Mitte der 1980er Jahre der internationale Durchbruch gelungen, angefeuert durch die erfolgreiche Verfilmung des Roman durch Jean-Jacques Beineix („Diva“) aus dem Jahre 1986. Wie in vielen von Djians Romane hadert auch in „Betty Blue“ der Ich-Erzähler mit seinem Schicksal als verkannter Schriftsteller. Es ist ihm auch egal. Hauptsache, er verdient etwas Geld, hat genügend Zeit, sich in der Sonne zu fläzen, mit Betty zu bumsen und etwas zu trinken. Mehr erwartet er gar nicht vom Leben. Doch an Bettys Seite kann er sich nicht einfach weiter so durch das Leben treiben lassen, denn Betty erwartet mehr von einem so talentierten Schriftsteller.
Während sie alles daransetzt, mit ihrem Liebsten aus dem Alltagstrott auszubrechen, bleibt ihm nicht anderes übrig, als mit ihr mitzuziehen. Djian erzählt diese außergewöhnlich leidenschaftliche Liebesgeschichte in einem rasanten, präzisen Stil, der in jedem Absatz deutlich macht, was vor allem der empathische Ich-Erzähler empfindet, der schließlich meint, auch Betty so gut zu kennen, wie es niemand sonst vermag. Die Beziehung zwischen den beiden und vor allem Bettys dem Borderline-Syndrom geschuldetes überschäumendes Temperament machen Stimmung und Tempo des Romans aus, wobei sich Tragik und Humor überzeugend die Waage halten. So ist Djian mit „Betty Blue – 37,2° am Morgen“ ein ebenso gefühlvoller wie aufrüttelnder Roman über Liebe, Treue, Loyalität und Leidenschaft gelungen, wie es ihm später in dieser Intensität kaum noch gelingen sollte.

Philippe Djian – „Doggy Bag. Eins“

Mittwoch, 26. Dezember 2018

(Diogenes, 274 S., Tb.)
Vor zwanzig Jahren hätten sich die beiden Brüder Marc und David Sollens wegen Édith beinahe umgebracht. Mittlerweile führen sie gemeinsam und sehr erfolgreich ein Autohaus, das seine Verkäufe vor allem der umtriebigen Sekretärin Béa verdankt, die ihren Kunden durch sexuelle Gefälligkeiten immer wieder Rabatte unterzuschieben versteht, aber eigentlich in ihre Chefs verschossen ist. Als Édith wie versprochen auf den Tag genau nach zwanzig Jahren wieder auftaucht, gerät das Leben der Sollens-Familie arg ins Wanken.
Nach unsachgemäßen Tiefbauarbeiten, in deren Folge Marcs Büro in der Erde verschwindet, will der 41-Jährige die gesamte Stadtverwaltung verklagen, beginnt aber eine neue Beziehung mit Édith, die ihre zwanzigjährige Tochter Sonia im Schlepptau hat, bei der sowohl David als auch Marc als Vater in Frage kommen. David unterhält dagegen eine Affäre mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne, die sich nach einem traumatischen Erlebnis aber auf keinen Geschlechtsverkehr einlässt …
„Er fühlte, dass Édith und Marc in diesem Augenblick zusammen waren, und das machte die Sache nicht besser. Es war zwar zunächst nur ein leichter Stich, ein verschwommener Schatten, der dem Nebel entwich, den die Reibereien mit Josianne erzeugten und der alles einhüllte. Aber dennoch ein Stich, eine zusätzliche Last, die er sich gern erspart hätte.“ (S. 200) 
Mit Romanen wie „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“ oder „Blau wie die Hölle“ hat sich der französische Autor Philippe Djian eine treue Fangemeinde erschlossen, die vor allem seine lebendige Sprache und das erotische Prickeln in den komplizierten Beziehungen seiner Protagonisten zu schätzen wissen. Mit der sechsteiligen Reihe „Doggy Bag“ versuchte sich Djian Mitte der 2000er Jahre an einer literarischen Soap Opera, um den allzu flach inszenierten Dramen des Prime-Time-Fernsehens etwas entgegenzusetzen.
Sein Ziel, jene Menschen wieder zum Buch zurückzuführen, die längst ans Fernsehen verloren gegangen sind, dürfte er nicht annähernd erreicht haben. Stattdessen dürfte Djian seine Fans mit einer kaum glaubwürdigen Abfolge zunehmend absurder erscheinenden Sex-Abenteuer wenn nicht gänzlich vergrault, dann doch enttäuscht haben.
Wer hier mit wem alles eine mehr oder weniger heimliche Affäre eingeht oder wenigstens von einer solchen träumt, wirkt allzu beliebig und irgendwann auch nicht mehr unterhaltsam. Dabei besitzen einzelne Figuren durchaus einen gewissen Charme und haben in den nachfolgenden Bänden hoffentlich noch Gelegenheit, an Kontur zu gewinnen, ohne zu wahllosen Objekten verschiedener sexueller Begierden zu werden.

Philippe Djian – „Marlène“

Donnerstag, 13. September 2018

(Diogenes, 280 S., HC)
Seit die beiden Kindheitsfreunde Dan und Richard nach verschiedenen Kriegseinsätzen in die französische Provinz zurückgekehrt sind, haben sie Probleme, wieder ins reale Leben zurückzufinden. Während Dan immerhin einen Aushilfsjob in der Bowlingbahn hat und sich um strukturierte Tagesabläufe bemüht, landet der draufgängerische Richard mit seinen kleinkriminellen Aktivitäten und Gewaltausbrüchen immer wieder im Knast.
So hat er nicht nur seine 18-jährige Tochter Mona aus dem Haus und zu Dan getrieben, sondern auch seine Frau Nath, die einen Friseursalon für Hunde und Katzen unterhält, in die Arme des gutaussehenden Vincent getrieben, der ihr nicht mehr von der Pelle rücken will. Noch komplizierter wird es, als Naths schwangere Schwester Marlène vorbeikommt, die auch schon was mit Richard hatte, nun aber Dans Leben durcheinanderwirbelt, der sonst wenig Umgang mit Frauen pflegt. Richard und Nath sind gar nicht davon begeistert, wie sehr Dan von Marlène eingenommen wird, aber auch Mona bleibt von den Ereignissen nicht unberührt …
„Marlène. Du musst durchgedreht sein. Wenn Richard davon erfährt. Nein, Dan, ich fasse es nicht. Das ist ein Witz. Er trat einen Schritt zurück und sah sie erwartungsvoll lächelnd an. Oh, oh, ich date deine Schwester, was es nicht alles gibt. Ich will sie ja nicht heiraten, beruhig dich, was hast du denn. Dan, bevor sie da war, waren wir eine Familie, und sie wird alles zerstören, was davon noch übrig ist, das habe ich.“ (S. 260f.) 
Philippe Djian („Erogene Zone“, „Die Leichtfertigen“, „Oh …“) braucht scheinbar immer weniger Worte, um die Katastrophen heraufzubeschwören, in die seine oft zum Scheitern verurteilten Figuren ohne großes eigenes Zutun schlittern. Auch in seinem neuen Roman „Marlène“ nimmt das Unheil recht schnell seinen Lauf. Djian hält sich nicht lange damit auf, sein reduziertes Figurenensemble vorzustellen. Wenige Sätze reichen aus, um die desolaten Seelenzustände von Dan, Nath, Mona und Richard zu beschreiben. Durch die mysteriöse Marlène wird das ohnehin empfindliche Gleichgewicht zum Kippen gebracht.
Dabei erfährt der Leser recht wenig über die fast vierzigjährige Frau, die vor allem in Dans Leben so unvermittelt auftaucht und für emotionale Ausnahmezustände sorgt. Während sie selbst immer mal wieder einfach so zusammensackt und tollpatschig Bier über ihr Kleid schüttet, Dans Motorrad zu Schrott fährt und Gläser zerdeppert, reagieren vor allem Richard und Nath mit Wut, Eifersucht und Gewalt auf Marlènes Gegenwart. Djian beschränkt sich bei der Inszenierung der Gefühlsausbrüche ganz auf die scharfzüngigen Dialoge und unüberlegt wirkenden Handlungen, statt seine Figuren zu charakterisieren. Durch die Intensität seiner Worte zieht der Autor den Leser mitten in die Handlung hinein, versperrt ihm aber den Blick auf die inneren Kämpfe, die vor allem Dan, Nath und Richard ausfechten, so dass die folgenschweren Handlungen, zu denen sie sich hinreißen lassen, einfach nur beschrieben werden. Besonders glaubwürdig wirkt das Szenario der ganzen amourösen Verflechtungen mit ihren brutalen Konsequenzen allerdings nicht. Dafür springt Djian zu sehr von einer kurzen Episode zur nächsten und überspannt den Bogen der Effekthascherei dann doch zu oft.
Leseprobe Philippe Djian - "Marlène"

Philippe Djian – „Blau wie die Hölle“

Sonntag, 12. Februar 2017

(Diogenes, 394 S., Tb.)
Auf dem Weg zu seiner Freundin Lucie wird Henri an einer Autobahnraststätte abgesetzt, wo er Zeuge wird, wie der Fahrer eines Buick den Laden betritt, die Toilette in Brand setzt und den Moment, als der Barkeeper das Feuer löschen will, zum Ausräumen der Kasse nutzt. Henri begleitet den Typen namens Ned kurzerhand auf seiner Flucht, aber die beiden haben unverzüglich den wirklich fiesen Bullen Franck in seinem Mercedes im Nacken.
Seit ihm seine geliebte Frau Lili vor sechs Tagen den Laufpass gab, kennt der ohnehin cholerische Cop keine Gnade mehr. Nachdem er mit seinem Kollegen Willy den Buick von der Straße gedrängt und die beiden flüchtigen Männer in Gewahrsam genommen hat, schleppt er seine Gefangenen direkt nach Hause, kettet sie im Badezimmer an und wartet darauf, dass Lili zu ihm zurückkommt.
Doch als sie mit Carol, seiner Tochter aus erster Ehe, aufkreuzt, fliehen die beiden Frauen mit Ned und Henri, worauf eine wilde Verfolgungsjagd über Landesgrenzen hinweg ihren Lauf nimmt …
In der Zwischenzeit tröstet sich Franck mit allen Frauen, die ihm während der Verfolgung von Ned und Henri über den Weg laufen.
„Er zuckte mit den Schultern, jetzt, wo sie ihre Spalte verbarg, blieb nichts mehr, für den Bruchteil einer Sekunden hatte er sich von ihr angezogen gefühlt, er hätte sie aufgespießt, doch gleichzeitig hätte er sich um ihre Tränen gekümmert, er hätte es versucht, aber es war vorbei, er tigerte mit seinem Glas durch das Zimmer, und als er zum Sofa zurückkam, hatte er sie völlig vergessen, sie war still, er streckte sich aus und legte einen Arm über seine Stirn, die Gedanken kamen zuhauf, die Bilder prasselten auf ihn ein, ohne jeden Bezug, sie überlappten sich, betäubten ihn.“ (S. 274) 
1986 war ein extrem gutes Jahr für den französischen Schriftsteller Philippe Djian, da wurden nämlich sowohl sein 1982 veröffentlichter Debütroman „Blau wie die Hölle“ durch Yves Boisset als auch sein dritter Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) durch Jean-Jacques Beineix verfilmt. Tatsächlich präsentiert sich „Blau wie die Hölle“ wie ein atemberaubender Trip zwischen Godards Kultfilm „Atemlos“, Sam Peckinpahs „Getaway“ und David Lynchs „Wild at Heart“.
Der Roman stellt einen wilden Mix aus Sex und Gewalt dar, wobei der klassische Road-Movie-Plot nur das Gerüst darstellt, an dem sich die kaputten Typen, Männer wie Frauen, entlanghangeln, vielmehr hetzen, denn echte Verschnaufpausen sind weder den Flüchtenden noch den Cops vergönnt.
Das wahnwitzige Tempo der Handlung findet seine Entsprechung in Djians flotter Schreiber und einem coolen Stil, der sich in Sätzen voller Kommata oder auch ohne Satzzeichen konzentriert. Es bleibt bei dieser Hatz durch ein unbekanntes, aber an die USA erinnerndes Land, wobei eine Grenze in die Wüste überquert wird, auch dem Leser kaum Zeit, sich mit den Figuren auseinanderzusetzen, denen nichts wirklich heilig oder auch nur wichtig scheint. Was man begehrt, nimmt man sich einfach. Dieser Nihilismus wirkt dabei ebenso erfrischend wie anstrengend, auf der Suche nach Bedeutung wird der Leser schier verzweifeln. Aber wer das Tempo von „Blau wie die Hölle“ mitgehen kann, wird mit grober Action und ebenso grobem Sex belohnt.

Philippe Djian – „Rückgrat“

Dienstag, 24. Januar 2017

(Diogenes, 418 S., Tb.)
Nachdem der einst erfolgreiche Schriftsteller Dan vor fünf Jahren von seiner Frau Franck verlassen worden ist, fehlt dem nun auf die Mitte Vierzig Zurasenden jegliche Inspiration. Allenfalls für Drehbücher, mit denen ihn in schöner, aber auch enervierender Regelmäßigkeit sein Agent Paul Sheller beglückt, reicht sein Esprit noch. Als dieser ihn allerdings geradezu anfleht, mit der dreißigjährigen Tochter des prominenten C.V. Bergen an ihrem Drehbuch zusammenzuarbeiten, platzt Danny der Kragen. Nichtsdestotrotz lässt er sich auf den Deal ein, schließlich ist er auf die regelmäßigen Schecks seines Agenten noch immer angewiesen, doch damit werden seine Probleme nicht weniger.
Sarah, die nach dem Selbstmord ihres Mannes Mat vor gut zwei Jahren, ebenso wie Dan sich durch allerlei kurzlebige Affären treiben lässt und Mutter von Gladys und Richard ist, ist Dannys beste Freundin, aber eigentlich besteht darüber hinaus auch eine erotische Anziehungskraft, die den Schriftsteller immer wieder verzweifeln lässt.
Auch seine Beziehung zu seiner aktuellen, extrem attraktiven Geliebten Eloïse Santa Rose gestaltet sich schwierig, immerhin ist sie als Sängerin viel unterwegs und kommt so zwangsläufig immer auch mit anderen Männern in Kontakt. Und als wäre das Leben nicht kompliziert genug, muss Dan auch zwischen seinem Sohn Hermann, der heimlich mit Gladys liiert ist, und seinem besten Freund Richard vermitteln, der als eifersüchtiger Bruder nicht ahnt, was sein bester Freund hinter seinem Rücken treibt.
Doch vor allem Sarah bereitet ihm immer wieder Kopfschmerzen, zumal sie sich gerade mit einem besonders unausstehlichen Typen zusammengetan hat …
„Ich habe ihr jahrelang zu Füßen gelegen, ich hätte alles Mögliche für sie getan … Aber das Oberste Gebot, Bumse nicht mit deiner besten Freundin, stand zwischen uns wie ein unheilvolles Schwert. Ich muss gestehen, dass das Resultat meinen Hoffnungen nicht gerecht wird … Kannst du mir verraten, was von dieser schönen Freundschaft bleibt, die wir auf meiner mühsamen Enthaltsamkeit und meinem so schmerzlichen Verzicht aufgebaut haben …?“ (S. 321) 
Auch mit seinem fünften Roman (nach „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“) bleibt sich der französische Autor Philippe Djian treu. Wie in seinen vorangegangenen Werken steht auch in „Rückgrat“ ein Schriftsteller in Djians Alter im Mittelpunkt des Geschehens. Als Ich-Erzähler berichtet Dan von den Fehlschlägen in seinem Leben -der gescheiterten Ehe, der daraus resultierenden Flucht seiner Inspiration – und von den schwierigen Herausforderungen des Alltags, es seinem Agenten ebenso rechtzumachen wie seinem Sohn, seinen Freunden und Geliebten.
Dabei ist es gar nicht mal so spannend, wie die an sich übersichtliche Handlung vorangetrieben wird, sondern wie Djians Alter Ego seine inneren Kämpfe bestreitet, sein Gefühlschaos beschreibt, seine Beziehungen zu den Frauen in seinem Leben, zu seiner Arbeit und den Menschen um ihn herum, die ihm so viel Energie zu rauben scheinen. All das hat Djian wie gewohnt meisterhaft in eine glasklare Sprache gegossen und mit faszinierenden Beobachtungen über das Leben, die Liebe und die Kunst angereichtert.

Philippe Djian – „Verraten und verkauft“

Mittwoch, 4. Januar 2017

(Diogenes, 424 S., Tb.)
Fünf Jahre nach Bettys Tod ist es um Karriere des als Schriftsteller arbeitenden Ich-Erzählers nicht allzu rosig bestellt. Als er den 62. Geburtstag seines von ihm verehrten und mit ihm in einem Haus lebenden Dichter Henri ausrichtet, steckt sein Konto tief in den roten Zahlen. Händeringend wartet er auf den nächsten Scheck seines Verlegers, damit er endlich die Außenstände beim Lebensmittelhändler begleichen und seinen Mercedes aus der Werkstatt abholen kann, der dort seit einem Monat verweilt. Gemeinsam machen sich Henri und er auf die Suche nach Henris Tochter Gloria, die vor drei Monaten mit einem Gebrauchtwagenhändler durchgebrannt ist, was für Henri umso schwerer wiegt, als dass seine Frau Marlène ebenfalls mit einem Gebrauchtwagenhändler abgehauen war.
Doch als sie Gloria wieder zu sich holen – mit ihrem Freund im Gepäck – entspannt sich die Lage kaum. Der Ich-Erzähler unterhält eine komplexe Beziehung zur quirligen Tochter seines besten Freundes, die aus ihrer Verachtung ihm gegenüber keinen Hehl macht. Als dann auch Henris Ex-Frau Marlène wieder auftaucht, mit der der Autor immer wieder Sex hat, und ein Kritiker („Dingsbums“) alles daran setzt, seinen Ruf zu zerstören, wird das Leben nicht gerade einfacher.
Immerhin fangen sich auf einmal seine Bücher zu verkaufen, und die größeren und häufiger eintrudelnden Schecks sorgen für eine ungewohnt entspannte Lebenssituation.
„Ich hatte keine Lust zu reden, und sie redete nicht. Ich hatte keine Lust, mich zu bewegen, und sie bewegte sich nicht. Ich strich ihr eine Strähne hinters Ohr, und sie fasste nach meiner Hand. In der anderen hielt ich das Glas. Leider steht zu befürchten, dass ich nicht das Glück haben werde, in solch einem Moment zu sterben. Das macht aber nichts.“ (S. 191) 
Nach „Erogene Zone“ und „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ stellt „Verraten und verkauft“ den Abschluss einer Trilogie dar, in der der Franzose Philippe Djian über das Leben, die Liebe und das Schreiben sinniert, eingebettet in eine wundervolle Geschichte, die ihren Ausgang in einer außergewöhnlichen Männer- und Autoren-Freundschaft nimmt und über einen Road Trip zu den Tücken von Erfolg, Missgunst und Verrat führt.
Dabei hat der Ich-Erzähler selbst keinen geringen Anteil. Er sonnt sich im plötzlich auftretenden Erfolg, teilt mit dem zwanzig Jahre älteren Henri seine Not ebenso wie seinen Geldsegen, er lässt sich auf Affären sowohl mit Gloria als auch Marlène ein und unterhält ein schwieriges Verhältnis zu seinen Schriftstellerkollegen.
„Verraten und verkauft“ steckt voller Tempo, Witz, Erotik und immer wieder eingestreuten Lebensweisheiten eines coolen Schriftstellers, der stets um einen perfekten Stil bemüht ist und zu Frauen eine ganz besondere Beziehung unterhält. Zwar steht Djian eindeutig in der Tradition seiner literarischen Vorbilder Richard Brautigan, Henry Miller, Jack Kerouac und Jerome David Salinger, hat aber seinen ganz eigenen Ton in einer Welt gefunden, in der Liebe und die Kunst oft komplex miteinander verschlungen sind.

Philippe Djian – „Erogene Zone“

Mittwoch, 28. Dezember 2016

(Diogenes, 330 S., Tb.)
Der 34-jährige Schriftsteller Philippe Djian befindet sich gerade in einer extrem produktiven Schaffensphase, auf gut 100 vollgekritzelte Seiten kann er in den letzten Tagen zurückblicken, da schneit ihm die 18-jährige Cécilia auf der Flucht vor einem Mann ins Haus und bringt Djian fast um den Verstand. Doch das ist nicht die einzige Frau, die das Leben des Schriftstellers in kürzester Zeit aus den Fugen platzen lässt. Auf der Geburtstagsfeier seiner guten Freundin Annie, die zugleich die Schwester seines eigentlich einzigen Freundes Yan ist, trifft er auch Nina wieder, mit der noch vor ein paar Monaten zusammen gewesen ist und die er nach wie vor für das schönste Mädchen hält, das er je gehabt hatte.
Sie bittet ihren Ex, auf ihre achtjährige Tochter Lili aufzupassen, da sich Lilis Vater scheinbar nicht wie abgesprochen um das Mädchen kümmern kann, wenn Nina sich im Krankenhaus einer OP unterziehen muss.
Mit zwei jungen Mädchen im Haus lässt es sich nun gar nicht mehr so flott arbeiten, und der Schriftsteller ist ziemlich angefressen, als er erfahren muss, dass Nina gar nicht im Krankenhaus liegt, sondern einfach das Weite gesucht hat …
„Ich setzte mich wieder an die Arbeit, während alle anderen ausgingen, um sich zu amüsieren und um zu bumsen, und ich, ich hatte nicht die geringste Gelegenheit, das eines Tages nachzuholen, das war schon ziemlich beschissen, und wo ich einmal dabei war, fragte ich mich, was Nina eigentlich trieb, warum sie nicht da war. Ich verfasste auf die Schnelle ein kleines, wütendes Gedicht über die Unannehmlichkeiten, die das Zusammenleben mit sich bringt, aber es gelang mir nicht, das Problem erschöpfend zu behandeln.“ (S. 187) 
Bevor der französische Autor Philippe Djian den internationalen Durchbruch mit dem durch Jean-Jacques Beineix erfolgreich verfilmten Roman „Betty Blue, 37,2 Grad am Morgen“ schaffte, legte er mit dem Erzählband „50 gegen Einen“ und den Romanen „Blau wie die Hölle“ und „Erogene Zone“ mehr als nur stilistische Fingerübungen vor.
„Erogene Zone“ enthält bereits alle Zutaten, die Djians Werk bis heute auszeichnen, wobei der Ich-Erzähler manchmal Djians Namen trägt oder auch nicht, aber stets als Alter Ego des Autors fungieren darf.
In diesem Fall müht sich Philippe Djian als Getriebener zwischen seinem Werk als Schriftsteller und seiner Liebe zu den Frauen. Der Leser merkt schnell, dass beides schwer zu vereinbaren ist, aber manchmal dienen die Frauen ihm auch als Muse und nicht als erotische Verführungen. Wie der Ich-Erzähler dabei immer mal wieder betont, geht es ihm vor allem um den richtigen Stil, und hier erweist sich Djian tatsächlich als Meister der klaren, direkten Worte, der kraftvollen Sprache, die die Handlung und die schnittigen Dialoge wirbelnd vorantreibt.
Das Ringen um den treffenden Satz, die passende Beschreibung ist bei Djian und seinem Alter Ego ebenso zu spüren wie seine Leidenschaft für die Frauen, und seine Beschreibungen der erotischen Begegnungen sind ganz und gar nicht pornographisch, sondern demonstrieren nur sein Ringen um das Glück, das ihm Frauen bescheren.

Philippe Djian – „Ich arbeitete für einen Mörder“

Samstag, 3. Januar 2015

(Diogenes, 247 S., HC)
Nach einem Unfall in der Chemiefabrik in der französischen Kleinstadt Hénochville sind Geschäftsführer Marc und sein langjähriger Freund Patrick um Schadensbegrenzung bemüht. Während Marc den Inspektor, der den Vorfall untersucht, mit einer Tasche voller Geld und dem Freudenmädchen Laurence besticht, klappert Patrick die Bauernhöfe, die ihn oft genug bereits mit einem Korb mit toten Fischen empfangen, entlang des Flusses ab und versucht ihre Gemüter mit Steakplatten und anderen Lebensmittelzuwendungen zu beruhigen.
„Ich arbeitete für einen Mörder“, denkt sich Patrick, doch versteht er es nicht, einen Ausweg aus seinem ganz persönlichen Dilemma zu finden. Während er sich von Marc für alles einspannen lässt, was der Firma und Marc selbst die Rettung bescheren könnte, liegt auch Patricks eigenes Leben in Trümmern. Seit seine Frau ihn verlassen hat, unterhält er mit seiner Nachbarin Jackie eine sporadische sexuelle Beziehung, von der ihr Mann Thomas natürlich nichts ahnt.
Als versehentlich die Wohnung inseriert wird, die nach dem Tod seiner Mieterin frei geworden ist, bringt die aus Irland stammende Eileen weitere Verwirrung in Patricks Leben. Zunächst kommunizieren die beiden nur über kleine Briefchen. Schließlich lädt er die junge Frau zu einem Picknick ein, zu dem sich Thomas und Jackie mit Marc und Patrick verabredet haben. Allerdings verläuft das Treffen anders als erwartet: Marc bringt zu dem Picknick nämlich noch einen Überraschungsgast mit: im Kofferraum seines Wagens liegt der mit Schlafmitteln betäubte Inspektor, nachdem ihn Laurence aus Notwehr niedergeschlagen hatte.
Als schließlich sintflutartiger Regen die Hütte wegzuschwemmen droht, liegen die Nerven bei einigen Kurzurlaubern ziemlich blank …
„Der Fluss hatte eine hypnotisch beruhigende Wirkung. Es war nicht nötig, große Pläne zu machen und auf totale Befreiung zu hoffen. Man musste jedesmal all seine Kräfte zusammennehmen, um einen Schritt voranzukommen. Da war kein Opfer, das nicht zu erbringen war. Man gab nie alles, was man hatte. Wenn ein Problem bewältigt war, tauchte ein neues auf.“ (S. 230) 
Philippe Djian hat bereits in seinen früheren Werken (u.a. in „Blau wie die Hölle“, „Rückgrat“ und „Verraten und verkauft“) eine Meisterschaft darin entwickelt, die persönlichen Nöte seiner Protagonisten auf ebenso psychologisierende wie humorvolle Weise in Geschichten zu gießen, die letztlich kaum dazu angedacht waren, die Probleme zielorientiert zu lösen.
In „Ich arbeitete für einen Mörder“ reicht eine fast kammerspielartige Bühne, denn bis auf wenige Ausnahmen spielt sich die Geschichte nur in Patricks Haus und um die Hütte herum ab, in der die Freunde ein Wochenende verbringen. Hier spitzt sich nicht nur die Beziehung zwischen Patrick und Marc zu, der mit dem gekidnappten Inspektor seinem kriminellen Spektrum eine weitere brisante Komponente hinzufügt, sondern auch zwischen Patrick und Jackie, die eifersüchtig beobachten muss, wie Patrick und Eileen einander näherkommen. Das Unwetter mag stellvertretend für die Turbulenzen stehen, die Patrick mit seinen Problemen verursacht, die er aber auch nicht in den Griff bekommt.
Djian erweist sich einmal mehr als Autor, der seinen Figuren ein interessantes Leben einzuhauchen versteht, der mit scharfzüngigen Dialogen und geschliffener Sprache einen faszinierenden Sog erzeugt, der den Leser bis zur letzten Seite fesselt.

Philippe Djian – „Oh …“

Dienstag, 4. November 2014

(Diogenes, 231 S., HC)
Die Pariser Filmproduzentin Michèle hat einiges um die Ohren. Nicht nur, dass sie sich Tag für Tag mit miserablen Drehbüchern von Männern herumschlagen muss, die jede Kritik an ihren genialen Stücken als persönlichen Affront betrachten, auch in privater Hinsicht stellt ihr Leben derzeit kein Zuckerschlecken dar. Dass sie von einem maskierten Mann in ihrer eigenen Wohnung vergewaltigt worden ist, kann sie nur ihrer Freundin Anna anvertrauen, mit der sie die Filmproduktionsfirma leitet und mit deren Mann Robert sie seit einiger Zeit eine Affäre unterhält.
Ihr eigener Ex-Mann Richard vergnügt sich derweil mit der unverheirateten wie jungen Hélène, ihr gemeinsamer Sohn Vincent erkennt mit seinen 24 Lebensjahren immer noch nicht den Ernst des Lebens und glaubt, mit seinem Job bei McDonald’s sich und Josie unterhalten zu können, die gerade das Kind eines anderen Mannes austrägt. Zu allem Überfluss plant ihre 75-jährige Mutter nach etlichen Schönheitsoperationen noch einmal einen viel jüngeren Mann heiraten zu können, während ihr Vater im Gefängnis verrottet, nachdem er in den 80er Jahren sämtliche Kinder eines Micky-Clubs abgeschlachtet hatte.
Einzig ihr verheiratete Nachbar, der bislang so unauffällige Bankmanager Patrick, scheint etwas Licht in ihr anstrengendes Leben zu bringen.
„Ich habe in meinem Leben ja so manchen seltsamen Mann kennengelernt, aber Patrick bricht alle Rekorde. Trotzdem gefällt er mir. Ich möchte dieser Geschichte augenblicklich ein Ende setzen, jetzt sofort jeglichen Kontakt abbrechen, denn mit einem Mann, der so kompliziert, so unberechenbar ist, kann man sich nur Ärger einhandeln, andererseits fühle ich mich noch nicht so alt, dass ich nicht noch einige außergewöhnliche Abenteuer erleben könnte, ich fühle mich durchaus noch dazu imstande – denn so kurz kann das Leben nicht sein, denke ich mir.“ (S. 138) 
Seit Philippe Djian mit erotisch knisternden Romanen wie „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“ und „Rückgrat“ für Furore am internationalen Literaturmarkt gesorgt hat, etablierte er sich in der Folge mit weiterhin sehr lebendig geschriebenen, rasant erzählten Romanen, in denen es immer irgendwie um die Tücken des Lebens, die Schwierigkeiten in der Liebe und der Kunst, hin und wieder auch um Verbrechen geht.
Auch sein neuer Roman „Oh …“ stellt ein solches überbordendes Sammelsurium an teils neurotischen, teils ganz normalen Menschen dar, die in Situationen hineinmanövriert werden, die außerhalb ihrer Geschicke liegen, aber nicht ohne Einfluss auf ihr eigenes Schicksal bleiben.
Es ist bezeichnend für „Oh …“, dass Djian den kurzen Roman seinem Publikum ohne Kapiteleinteilungen in einem Guss serviert, denn Zeit zu verschnaufen haben weder die von allen Seiten attackierte Ich-Erzählerin noch Djians Leser, die mit Michèle von einer kuriosen Situation in die nächste taumeln.
Djians lakonischer Humor, sein feines Gespür für die allzu menschlichen Schwächen und für bei allen kuriosen Wendungen doch irgendwie lebensnahen Geschichten machen „Oh …“ zu einem extrem kurzweiligen Lesevergnügen, das zurecht 2012 mit dem Prix Interallié ausgezeichnet worden ist.
Leseprobe Philippe Djian - "Oh …"

Philippe Djian – „Wie die wilden Tiere“

Samstag, 2. November 2013

(Diogenes, 227 S., HC)
Als der bildende Künstler Marc in einer Metro ein völlig betrunkenes und vollgekotztes Mädchen aufliest und mit nach Hause in seine am Strand liegende Villa nimmt, füllt er damit nicht nur den geräumigen Wohnsitz, sondern auch die Leere, die dort nach dem Aufsehen erregenden Selbstmord seines achtzehnjährigen Sohnes Alexandre und der Trennung von seiner Frau Elisabeth entstanden ist.
Marc versteht selbst nicht, warum er die junge Frau unter seine Fittiche genommen hat, zumal sie am nächsten Tag schon wieder verschwunden ist und sein Haus völlig verwüstet zurückgelassen hat, aber er ahnt wohl, dass ihr gutes Aussehen sicherlich eine Rolle spielte. Kaum taucht Gloria wieder auf, zieht sie bei Marc ein. Er erfährt, dass sie die Alexandres Freundin gewesen ist, und bekommt durch ihre Erzählungen endlich einen Einblick in das Leben seines Sohnes, um den er sich zu wenig gekümmert hat. Marcs beste Freunde Michel und Anne warnen ihn allerdings vor dem Mädchen, von der niemand etwas weiß. Michel ist nicht nur Marcs Agent, mit seiner Frau Anne unterhielt Marc eine leidenschaftliche Affäre, bevor sie mit Michel zusammengekommen ist. Nun sehnt sie sich nach dem großartigen Sex mit Marc zurück, während sich Michel mit Erektionsstörungen herumplagt. Marc fällt es sichtlich schwer, ein besonnenes Verhältnis zu ihnen zu bewahren.
„Ich beobachtete sie einen Moment von draußen, Anne, wie sie Kartons mit dem Cutter aufschnitt, und ihn, wie er sich den Inhalt besah, und beide zusammen, wie sie beeindruckt den Kopf schüttelten, bevor sie sich dem nächsten Foto zuwandten. Michel kauerte auf dem Boden, und Anne ließ eine Hand auf seiner Schulter ruhen. Wenn ich an den Weg zurückdachte, den wir gemeinsam gegangen waren, eine dreißig Jahre lange Reise, erfüllte mich diese Hand mit Zuneigung für die zwei – ich erinnerte mich vor allem daran, wie sie mir geholfen hatten, alle möglichen Schicksalsschläge zu überwinden, wie wir uns stets gegenseitig zur Seite gestanden waren und was für ein phantastisches Bollwerk wir damit um uns aufgebaut hatten. Danach überkam mich ein anderes Gefühl, nämlich, dass diese Dreiecksbeziehung uns erdrückte, lähmte, blind machte – Julia hatte sich trotz ständiger Vorsichtsmaßnahmen immer ausgeschlossen und gekränkt gefühlt -, dass dieses Trio gar nicht so gut funktionierte, wenn man bedachte, wie extrem kräftezehrend unser Verhältnis letztlich war.“ (S. 144) 
Michel und Anne bedrängen Marc zunehmend, Gloria nicht zu nah an sich heranzulassen. Während Michel schon Ermittlungen über sie anstellen will, kann Anne die Vorstellung nicht ertragen, dass Marc mit der jungen Frau vielleicht sogar das Bett teilt. Als Gloria erneut spurlos verschwindet, verdächtigt Marc sogar seinen besten Freund, etwas damit zu tun zu haben …
Seit dem Durchbruch mit seinem dritten Roman „37,2° am Morgen“ (1985) haben es dem französischen Autor Philippe Djian vor allem die Lebenskünstler angetan, die unter Drogen- und Alkoholeinfluss ihre Schreibblockaden, emotionalen Irrungen und Wirrungen und vorwiegend sexuellen Leidenschaften in den Griff zu bekommen versuchen. Daran hat sich auch ein Vierteljahrhundert später nicht viel verändert. Wie in vielen seiner Werke funktioniert auch in Djians „Wie die wilden Tiere“ der Ich-Erzähler Marc nur in der Ausübung seiner Kunst, scheitert aber kläglich auf sozialem Terrain. In dieser Hinsicht bietet „Wie die wilden Tiere“ wenig Neues. Das Setting ist ganz vertraut, die Geschichte geht schon mal merkwürdige, nicht immer nachvollziehbare Wege, der Ton ist von Djian-typischer Deutlichkeit, der Stil unverblümt und rasant. Große psychologische Einsichten in die einzelnen Figuren darf man auf den gut 220 Seiten ebenso wenig erwarten wie überraschende Wendungen und Erkenntnisse. Das ist trotz des hohen Tempos nicht wirklich berauschend, aber ein kurzweiliges Lesevergnügen bietet auch dieses kleine Buch allemal. Leseprobe Philippe Djian - "Wie die wilden Tiere"

Philippe Djian – „Die Rastlosen“

Sonntag, 11. November 2012

(Diogenes, 220 S., HC) 
Seit dem Durchbruch mit seinem dritten Roman „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, der 1986 kongenial mit Béatrice Dalle und Jean-Hugues Anglade verfilmt worden ist, hat sich der französische Schriftsteller Philippe Djian mit Geschichten hervorgetan, in denen meist Männer in den besten Jahren, die irgendwie versuchen, als Schriftsteller durchzukommen, in verzwickte amouröse Abenteuer verstrickt werden. Dieses vertraute Terrain betritt der Leser auch in Djians neuem Werk „Die Rastlosen“.
Als 53-Jähriger hat es Marc längst aufgegeben, ein erfolgreicher Schriftsteller zu werden, und sich damit arrangiert, als Literaturdozent wenigstens bei seinen Studenten einen Sinn für die Kunst des Schreibens zu entwickeln. Dabei fällt es ihm mit zunehmendem Alter immer leichter, vor allem seine junge weibliche Zuhörerschaft zu betören. Um ja keinen Skandal zu riskieren, geht Marc beim Abschleppen der jungen Dinger stets überaus diskret vor. Diese Vorsicht macht sich in dem Moment bezahlt, als er eines Morgens neben der Leiche der 23-jährigen Barbara aufwacht, die er kurzerhand in einer Felsspalte entsorgt. Als er die Mutter des vermisst geltenden Mädchens kennenlernt, entdeckt Marc plötzlich ganz neue Gefühle in sich, nämlich die Leidenschaft für eine ältere, ihm intellektuell ebenbürtige Frau.
„Er konnte sich Myriam ohne weiteres im Badeanzug vorstellen – oder besser noch in Unterwäsche. Sie war knapp über fünfundvierzig. Bestens in Form. Und intellektuell gefestigt. Was gab es da noch zu sagen? Konnte man sich ein perfekteres Geschöpf, eine gefährlichere Begleitung denken? Die Vorstellung, dass man das Interesse einer solchen Person erweckte, war alles andere als unangenehm, ja sie steigerte sogar sein Selbstwertgefühl, fand er – denn so eine Person hatte ihren eigenen Kopf und ihren eigenen Geschmack und einiges an Lebenserfahrung. Plötzlich sprang ihm ins Auge, wie mittelmäßig seine Beziehungen mit den Studentinnen gewesen waren. Die Sexualität hatte die Welten nicht durchlässiger gemacht.“ (S. 56f.)
Doch einer Beziehung mit ihr stehen zwei Tatsachen im Wege: Seine Angebetete ist noch mit einem Soldaten verheiratet, der in Afghanistan verschollen scheint, und Marc lebt mit seiner Schwester Marianne in einem Haus, mit der ihn eine mehr als nur schwesterliche Beziehung verbindet …
Djian hat sich in seiner langjährigen Karriere als Meister von Erzählungen allerlei erotischer Verwirrungen erwiesen, und dieses Talent spielt er in seiner neuen, sehr flüssig geschriebenen Story voll aus. Die Ausgangssituation, dass sich ein Mann in besten Jahren mit weitaus jüngeren Damen herumschlägt, ist zwar allzu vertraut, wird in „Die Rastlosen“ aber auf sehr unterhaltsame Weise variiert. Das Jonglieren mit all den Frauen in Marc Leben sorgt für einige amüsante Reflexionen, und das psychologische Feingefühl, mit dem Djian seinen sympathischen Antihelden beschreibt, sorgt für einen vielschichtigen wie kurzweiligen Lesegenuss.

Philippe Djian – „Die Leichtfertigen“

Montag, 7. März 2011

(Diogenes, 218 S., HC)
Der 60-jährige Schriftsteller Francis lebt mit seiner zweiten Frau Judith, einer erfolgreichen Immobilienmaklerin an der Grenze zu Spanien und versucht, irgendwie mit den angehäuften Problemen seines Lebens fertigzuwerden. Natürlich schmerzt ihn noch immer der Verlust seiner ersten Frau Johanna und seiner Tochter Olga, die bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, aber auch Olgas Schwester Alice, die den Unfall damals überlebt hat, bereitet ihm immer wieder Kummer. Sie heiratete den ständig zugedröhnten Banker Roger, stürzte sich als bekannte Schauspielerin immer wieder in Affären und verschwindet auf einmal spurlos.
Roger, der endlich zur Vernunft gekommen war, nachdem er im Rausch zwei Fingerglieder seiner Tochter zerquetscht hatte, und schlagartig seine Finger von den Drogen ließ, kommt mit den beiden Zwillingen aus Paris zu Besuch; Francis kümmert sich eine Zeitlang um die Zwillinge, versucht aber auch, endlich an einem neuen Roman zu arbeiten. Währenddessen wird ihm bewusst, dass Judith und er sich zunehmend entfremden, und er engagiert den gerade aus dem Knast entlassenen Sohn seiner alten Schulfreundin A.M. , um Judith beschatten zu lassen. Doch der 24-jährige Jérémie kann Francis keine Beweise für Judiths Untreue vorlegen. Francis muss nicht nur tatenlos mit ansehen, wie A.M., die er als Detektivin auf die Suche nach Alice angesetzt hat, rasend schnell vom Krebs zerfressen wird. In dieser Atmosphäre von Misstrauen, Verlustängsten, Tod und Unbestimmtheiten ist es für Francis alles andere als einfach, sich aufs Schreiben zu konzentrieren.
„Viele glaubten, Johannas Tod habe mich am Boden zerstört, und niemand hätte einen Cent auf mein Comeback gesetzt. Gut möglich. Dass ich am Boden zerstört war und mir die Hoffnung, je wieder einen Roman zu schreiben, endgültig abschminken konnte, mochte durchaus zutreffen. Das hätte mich nicht allzu sehr verwundert. Es war aber noch zu früh, um es mit Bestimmtheit zu sagen.
Es gibt nichts Schwierigeres, als einen Roman zu schreiben. Keine menschliche Beschäftigung erfordert so viel Anstrengung, so viel Selbstverleugnung, so viel Widerstandskraft. Kein Maler, kein Musiker kann einem Romanschriftsteller das Wasser reichen. Das ist fast jedem klar.
Ich biss manchmal mitten in einem Satz so fest die Zähne zusammen, dass der ganze Raum zu pfeifen begann. Das war auch Hemingways Erfahrung. Das Gras wurde nicht von selbst grün. Die Landschaft glitt nicht wie durch ein Wunder an der Scheibe vorbei.
Es wäre mir lieber gewesen, mit meiner Tochter wieder eine normale Beziehung zu haben oder meine Eheprobleme mit Judith zu lösen, aber einen Roman zu schreiben war im Moment das Einzige, was mir realisierbar schien. Mit jedem Tag war ich mehr davon überzeugt. Nichts anderes kam für mich in Frage. Ich sah keinen anderen Ausweg. Selbst wenn ich mich nach allen Seiten umschaute, sah ich keine andere Möglichkeit. Ich hatte noch nie ein Buch in einer solchen Verfassung geschrieben.“ (S. 122 f.)
Philippe Djian erweist sich immer wieder als Meister von Erzählungen, in denen es vor allem um die Irrungen und Wirrungen eines Schriftstellers geht. Mittlerweile stehen dabei nicht mehr die erotischen Eskapaden im Mittelpunkt, die Djians frühen Meisterwerke „Betty Blue“, „Rückgrat“ oder „Verraten und verkauft“ geprägt haben; die Empfindungen des in die Jahre gekommenen Autors scheinen reifer geworden zu sein, doch taumelt er immer noch zwischen den verschiedensten, unausgegorenen Empfindungen hin und her. Mit gewohnt eleganter Sprache schildert Djian die Eindrücke, die sein Protagonist aufnimmt, die ihn immer aufs Neue verunsichern, verärgern und verwirren. Und das tut er so lebendig und eindrucksvoll wie selten zuvor in seinen letzten Werken. „Die Leichtfertigen“ ist sicher nicht das große Meisterwerk eines renommierten Schriftstellers, aber herrlich kurzweilig und amüsant zu lesen. Man merkt dem kurzen Roman überhaupt nicht an, dass das Verfassen solche Schwierigkeiten mit sich bringt, von denen Francis im Zitat berichtet, aber darin liegt wohl Djians Meisterschaft – in der Verbindung ungeschönter literarischer Reflexion und psychologisch einfühlsam beschriebener Tragödien, die seine Protagonisten zu bewältigen haben.

Leseprobe: Philippe Djian: „Die Leichtfertigen“

Philippe Djian - „Sirenen“

Sonntag, 6. September 2009

(Diogenes, 448 S., HC)
Nathan hat es wirklich nicht leicht im Leben. Der unorthodox arbeitende Kriminal-Polizist folgt stets seinem in die Irre führenden Instinkt und gerät dabei immer wieder in Teufels Küche. Als er den Tod von Jennifer Brennen, der Tochter des mächtigen Sportbekleidungsherstellers Paul Brennen, untersuchen muss, ist es mal wieder soweit, da er fest davon überzeugt ist, dass der Big Boss seine prostituierende Tochter umbringen ließ. Seine neunzig Kilo auf die Waage bringende Partnerin Marie-Jo geht dagegen ihren eigenen Spuren nach, die ihr Mann Franck ihr besorgt hat.
Natürlich kommt Marie-Jo der Auflösung des Falls näher als Nathan, doch mehr als der zu lösende Kriminalfall interessieren bei Djian natürlich die komplizierten persönlichen Verflechtungen. Marie-Jo, noch immer geschockt von der Erkenntnis, dass ihr Mann, der übrigens ein gefeierter Schriftsteller ist, jungen Männern einen bläst, lässt es sich täglich an den unmöglichsten Orten von Nathan und gelegentlich auch von Ramon, dem jungen Nachbarn mit dem krummen Pimmel, besorgen, während Nathan gleich drei Frauen unter einen Hut zu bringen hat: seine aktivistische Ex-Frau Chris, die jetzt mit dem gut gebauten Dozenten Wolf eine Affäre begonnen hat und mit ihm eine neue Demo organisiert und für die er immer noch leidenschaftliche Gefühle empfindet, seine Polizei-Partnerin Marie-Jo, die extrem eifersüchtig auf alle Frauen in Nathans Umfeld reagiert, und das Super-Model Paula, das Nathan zu Füßen liegt, mit ihm sogar in einem Bett schläft, die Nathan aber absolut nicht zu vögeln gedenkt. Vor dem nicht immer ganz leicht zu durchschauenden Konstrukt eines Kriminalfalls entwickelt Djian wie gewohnt verfängliche und amüsante Episoden um das prickelnde Thema von Lust, Liebe und Leidenschaft, doch waren seine Dialoge schon mal spritziger und seine Geschichten witziger.

Philippe Djian - „Reibereien“

(Diogenes, 234 S., HC)
Pünktlich zum DVD-Release des dreistündigen Director’s Cut von „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“, der kongenialen Verfilmung von Djians längst zum modernen Klassiker avancierten Debütroman, beglückt uns der französische Bestsellerautor mit einem neuen Buch. Darin entfaltet er lose zusammenhängend in fünf Episoden die schwierige Beziehung eines Mannes zu seiner alkoholkranken Mutter, der er bereits im Alter von elf Jahren eine Stütze im Leben sein muss, da sein rastloser Vater nur sporadisch eine Rolle im Leben der beiden spielt.
Der Junge muss ihr versprechen, sie nie zu verlassen, und damit scheint der Pakt für ihr beider Leben besiegelt. Elf Jahre später ist der Junge ausgezogen, in eine 500 Meter entfernte Wohnung, seine 42-jährige Mutter unterhält recht lockere Männergeschichten. Später hält sich der Sohn gut mit einem Kleinverlag für feministische Literatur und einen anhängenden Buchladen über Wasser, Frauen kommen und gehen, seine Mutter lässt sich mit Vincent endlich auf eine feste Beziehung ein, doch macht der arbeitslose Knastbruder ihr bald das Leben zur Hölle. Doch irgendwie meistern Sohn wie Mutter die großen und kleinen Hürden des Lebens, und darin ist Djian bekanntermaßen ein Meister: wie er mit sympathischen Tönen und leichter Melancholie menschliche Schwächen und Leidenschaften beschreibt, zeugt schon von literarischer Größe, psychologischem Feingefühl und genauer Beobachtungsgabe.