Posts mit dem Label Philippe Djian werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Philippe Djian werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Philippe Djian – „Doggy Bag – Sechs“

Samstag, 20. Juli 2024

(Diogenes, 262 S., Tb.) 
Es ist vollbracht. Der französische Erfolgsautor Philippe Djian („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Oh…“) arbeitete zwischen 2005 und 2008 an einer literarischen Soap, die zwar den hehren Anspruch verfolgte, dass Fernseh-Junkies wieder ein Buch in die Hand nehmen, letztlich aber die erotischen Verwicklungen, die Djians Romane auch zuvor schon geprägt haben, auf imposante 1600 Seiten ausufern ließ. Da sind sie also wieder, die Sollens-Brüder Marc und David, ihre frühere gemeinsame Geliebte Édith, die nach zwanzig Jahren mit einer Tochter im Schlepptau zurückkehrt und sich für Marc entscheidet, Marcs und David getrennte Eltern Irène und Victor, die zwar wieder in einem Haus leben, aber nicht wieder zueinander finden. 
Marc beabsichtigt, trotz seiner Sexsucht, die er bei den Anonymen Sexaholikern mit ihren Zwölf Schritten leider vergeblich in den Griff zu bekommen versucht, Édith zu heiraten und damit auch seiner Vaterschaft einen offiziellen Charakter zu verleihen. 
Leider kommen ihm dabei nicht nur seine ungebremste Libido ins Gehege, sondern auch verschiedene Probleme in der Familie. Der Wintereinbruch mit satten zweistelligen Minusgraden, Eisglätte und Schneemassen macht der ganzen Stadt zu schaffen, während sein Bruder nur mit einer elektronischen Fessel seine „Freiheit“ genießen darf, nachdem er in einem Tobsuchtsanfall einen Menschen getötet hatte. Victor hat den Weg zu Gott zurückgefunden, aber auch unerwartet die Kraft der Levitation entdeckt, was ihn weithin zu einem Heiligen werden lässt – nicht aber in den Augen seiner Frau Irène, die ihm dieses manipulative Verhalten durch eine Affäre mit dem Polizeichef De Watt heimzahlt. Außerdem hat sich Marcs Tochter Sonia, nachdem ihr Liebhaber Roberto spurlos verschwunden ist, wieder mit auf eine Affäre mit dem Zahnarzt eingelassen, den sie nicht mal auch nur annähernd attraktiv findet. Doch am schwersten wiegt das Erdbeben, das das Autohaus in die Tiefe stürzen lässt… 
„All diese Zeit, die sie gemeinsam verbracht hatten. All diese Zeit, die sie gebraucht hatten, um die Flammen zu ersticken, die sie früher verzehrt hatten. Man hatte ihnen ind den letzten Monaten arg zugesetzt. Verdammt arg zugesetzt. Niemand käme auf die Idee, das Gegenteil zu behaupten. Die Ereignisse schüttelten sie wie Stürme das Korn auf den Feldern – aber Stürme löschen Erinnerungen nicht aus. Sie hatten die letzten zwanzig Jahre Seite an Seite verbracht. Mehr oder weniger. Welcher Orkan konnte das auslöschen?“ (S. 243) 
Im sechsten und letzten Band seiner „Doggy Bag“-Soap geht Djian merklich die Luft aus. Nachdem vielschichtige Beziehungen und Affären, Ehebrüche, ungeklärte Vaterschaften, Vergewaltigungen und Naturkatastrophen für ordentlich Wirbel in den vergangenen fünf Bänden gesorgt haben, scheinen sich die Dinge nun zu normalisieren. Dass Marc von seiner Sexsucht nicht geheilt werden kann, illustriert Djian mit einer fast schon absurden Episode, als er seinen Protagonisten zu einer bekannten Schlampe gehen lässt, die sich, bevor sie sich zum Geschlechtsverkehr bereiterklärt, von ihrem spitzen Freier erst den Anus sauberlecken lässt. 
Doch das ist nur eine der stark überspitzten Episoden, die das Geschehen interessant machen sollen, wo es kaum noch Interessantes zu entdecken gibt. Da müssen schon weitere unglaubliche Phänomene wie der unvorstellbare Kälteeinbruch zu Weihnachten und das noch unvorstellbarere Erdbeben herhalten, um mehr als nur symbolisch das hilflose Treiben der Figuren zu veranschaulichen, die mehr Opfer ihres ungezügelten Temperaments zu sein scheinen als mit eigenem Willen ausgestattet. Das ist sicher kein Stoff für Serien-Junkies, die sich ihre tägliche Soap-Dosis vor dem Fernseher reinziehen, sondern eher für die hartgesottenen Djian-Fans, die sich aber eher an dem ausgefeilten Stil des Autors als an der ausufernden Geschichte von „Doggy Bag“ begeistern dürften. 

 

Philippe Djian – „Doggy Bag – Fünf“

Samstag, 22. Juni 2024

(Diogenes, 258 S., Tb.) 
Für Philippe Djians auf sechs Bände angelegte und insgesamt gut 1600 Seiten umfassende literarische Soap „Doggy Bag“, die der französische Erfolgsautor („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Verraten und verkauft“) zwischen 2005 und 2008 entwickelt hat, braucht die geneigte Leserschaft ab dem vierten Band ein ebenso großes Durchhaltevermögen wie die Protagonisten seiner von allerlei amourösen Verstrickungen geprägten Geschichte. 
Viel verändert hat sich nach dem Auftaktband nämlich nicht. Die Brüder Marc (41) und David Sollens (42) haben das Autohaus ihres 71-jährigen Vaters Victor übernommen, mit dem wegen des Alters und des Todes beunruhigten Familienoberhaupt allerdings gebrochen, seit er wegen einer anderen Frau ihre Mutter Irène verlassen hat. Dass er jetzt reuig zu ihr zurückkehren will, lässt die mit ihren 63 Jahren nach wie vor attraktive Frau nicht ganz unberührt, auch wenn sie ausgerechnet auf der Hochzeit ihres Sohnes David mit der angeblich schwangeren Krankenschwester Josianne mit einem Handwerker geschlafen hatte, um von dem Mann anschließend entführt und vergewaltigt zu werden. 
Zwar lässt sie Victor seitdem wieder in ihrem Haus schlafen, bereut es allerdings, mit ihm hin und wieder auch Sex mit ihm gehabt zu haben. Um nicht bei dem Werben ihres Mannes, der nun den Glauben an Gott wiedergefunden zu haben scheint, weich zu werden, stürzt sie sich in eine Affäre mit dem Polizeichef Olivier de Watt. Dramatisch verläuft der Ausflug mit einem Bus, den Victor der Gemeinde von Pater Joffrey gestiftet hat. Nachdem das Gefährt in einer entlegenen Gegend vom Weg abgekommen ist, macht sich ein riesiger Bär über die Passagiere her und tötet u.a. Victors Privatsekretärin Valérie. 
Während David nach seinem tödlichen Messerangriff auf Joël, dem Freund von Marc und Édiths Tochter Sonia, auf seine Freilassung aus einer psychiatrischen Klinik hofft, hilft auch Marc Teilnahme an den Treffen der Anonymen Sexaholiker nicht darüber hinweg, dass Marc nach wie vor jeder Frau nachsteigt. Dabei liebt er Édith über alles und macht ihr sogar einen Heiratsantrag. 
„Unter solchen Bedingungen zu bumsen hatte natürlich seinen Reiz, und man konnte durchaus verstehen, dass sich ein Mann, der keinerlei sozialen oder familiären Zwängen unterworfen war, entgegen allen Regeln des Anstands hemmungslos der Sache hingeben konnte. Aber doch nicht ein ehrenwerter Bürger, nicht ein Mann, der ein Geschäft in der Stadt hatte, nicht ein Mann, der Beziehungen zum Bürgermeister hatte, nicht ein Mann, der im Begriff war, eine Familie zu gründen. O nein, ganz gewiss nicht!“ (S. 175) 
Die Probleme werden auch nicht dadurch weniger, dass Victor nach Davids hoffentlich nur vorübergehendem Ausscheiden aus der Firma wieder kräftig mitmischt im Autohaus… 
Mit dem unerwartet brutal beendeten Busausflug beginnt der fünfte „Doggy Bag“-Band äußerst dramatisch, doch den Rest der Geschichte nehmen wie gewohnt die angebahnten oder vollzogenen Liebesabenteuer ihren Lauf, wobei Irènes Affäre mit dem Polizeichef ebenso für Wirbel sorgt wie die Liebelei, die die zwanzigjährige Sonia ausgerechnet mit Roberto, dem Jugendfreund von Marc, David und Édith unterhält. Da die Figuren in „Doggy Bag“ allesamt nicht das Zeug zu Sympathieträgern haben, muss man als Leser schon das irrwitzige Wechselbad der Gefühle lieben, das nahezu alle Beteiligten auch in Teil 5 der literarischen Soap durchleben. 

 

Philippe Djian – „Doggy Bag – Vier“

Montag, 17. Juni 2024

(Diogenes, 256 S., TB.) 
Nach mehr als zwanzig Jahren im Schriftsteller-Geschäft war es für den französischen Erfolgsautor Philippe Dijan („Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“, „Verraten und verkauft“) offensichtlich Zeit, mal was Neues auszuprobieren. Also schuf er zwischen 2005 und 2008 seine literarische, sechs Bände umfassende Soap „Doggy Bag“, mit der er versuchte, passionierte Serien-Junkies, die kein oder kaum ein Buch in die Band nehmen, zum Lesen zu animieren. Die Geschichte um die beiden Brüder Marc und David Sollens und ihre nach zwanzig Jahren heimgekehrte beiderseitige Geliebte Édith nahm zwei Bände lang eine turbulente Entwicklung, kam im dritten Band aber schon etwas aus der Puste. 
Marc versucht nach einem Ausrutscher, seine Sexsucht in den Griff zu bekommen, und schließt sich den Anonymen Sexaholikern an. Édith dankt es ihm, muss sie doch nur noch morgens, abends und ein-, zweimal am Tag ran, Marc seinen Trieb abreagieren zu lassen. Seinem Bruder David gelingt es dagegen nicht mal halbwegs souverän, die Herausforderungen in seinem Leben zu meistern, ersticht er in einem Tobsuchtsanfall doch den 25-jährigen Joël, den im Rollstuhl sitzenden Freund von Édiths Tochter Sonia. Die gerade mal zwanzigjährige Sonia wiederum lässt sich mit Roberto, dem 42-jährigen Jugendfreund von Marc, David, Édith und Catherine Da Silva, ein, was nicht gerade Begeisterungsstürme in Robertos früherer Clique hervorruft. 
Marcs und Davids Vater Victor hadert nicht nur mit dem Umstand, dass ihn seine Söhne als Verräter betrachten, sondern auch mit dem Umstand, dass seine acht Jahre jüngere Frau Irène keine Anstalten macht, ihn wieder näher an sich heranzulassen, obwohl er immerhin wieder in ihrem Haus wohnen darf. Und schließlich hat Édiths Ex-Mann Paul hart damit zu kämpfen, dass Édith und Sonia nicht mehr Teil seines Lebens sind und sich eine neue Beziehung angesichts seiner von starkem Mundgeruch begleiteten Zahnprobleme nicht so recht anbahnen will. 
„Niemand war perfekt. Er fuhr mit dem Finger die Mulde entlang, die ihre Hüfte bildete. Er forderte nur ein, was ihm zustand, mehr nicht. Jeder Mensch hatte Anrecht auf seinen Anteil am Gewinn, und wenn manche darauf verzichteten, dann war das ihre Sache, wenn manche lieber auf den Knien herumrutschten, war das ebenfalls ihre Sache. Wenn Sylvie sich ihm noch lange verweigerte, würde er am gleichen Ort landen wie David. Er bewunderte so viel Macht. Innerlich stieß er einen wohligen Seufzer aus. Das Phänomen an sich war faszinierend. Man könnte ein Buch darüber schreiben – allerdings würde nicht er es schreiben.“ (S. 234f.) 
Wie in einer Daily Soap im Fernsehen lässt auch Philippe Djian in seiner literarischen Soap „Doggy Bag“ genüsslich die Puppen tanzen, wenn es um die zwischenmenschlichen Beziehungen von Paaren, Freunden und Verwandten angeht. Fast hat es den Anschein, als wären die Männer in „Doggy Bag“ allesamt vor allem triebgesteuert, und wenn sich der Sexualtrieb mal dorthin verirrt, wo er ganz sicher nicht hingehört, steuern die Betroffenen geradewegs auf eine Katastrophe zu. Das ist durchaus kurzweilig und amüsant, wartet aber auch mit etlichen geschwätzigen Längen auf, die die Lust auf eine Fortsetzung im Rahmen halten. 

 

Philippe Djian – „Doggy Bag – Drei“

Sonntag, 26. Mai 2024

(Diogenes, 262 S., Tb.) 
Als Philippe Djian in seiner französischen Heimat zwischen 2005 und 2008 seine literarische, sechs Bände umfassende Soap „Doggy Bag“ veröffentlichte, bestand seine erklärte Absicht darin, passionierte Serien-Junkies, die kein oder kaum ein Buch in die Band nehmen, zum Lesen zu animieren. Schließlich sei er der Überzeugung, dass man das menschliche Innenleben mit Worten viel besser beschreiben könne als mit Bildern. 
Ob dieses Ansinnen Erfolg hatte, darf arg bezweifelt werden, der Versuch bleibt indessen mehr als löblich. Für Djian-Fans, die mit Romanen wie „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“ und „Verraten und verkauft“ groß geworden sind, bietet die sechsteilige Soap in Romanform viel Bekanntes, doch geht der Geschichte bereits im dritten Band allmählich die Luft aus. 
Die beiden Brüder David und Marc Sollens waren jeweils Anfang zwanzig, als sie sich in die schöne Édith verliebt und mit ihr geschlafen haben, doch für Édith erwies sich dieses Arrangement als nicht besonders tragbar, weshalb sie damals mit einem Gelegenheits-Lover das Weite suchte. Nach zwanzig Jahren kehrte Édith nun zurück – mit ihrer zwanzigjährigen Tochter Sonia im Schlepptau, von der sowohl Marc als auch David der Vater sein könnte. 
Die Brüder haben mittlerweile das Autohaus ihres Vaters Victor übernommen, der sich enthusiastisch seiner gerade erst entdeckten Enkelin annimmt, aber ein schwieriges Verhältnis sowohl zu seinen beiden Söhnen als auch zu seiner Frau Irène unterhält. Die hatte während der Hochzeit ihres Sohnes David mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne nichts besseres zu tun, als mit einem Tischler in dessen Lieferwagen zu schlafen und anschließend von ihm entführt und misshandelt zu werden. Der dritte Band beginnt mit der fieberhaften Suche nach Irène, und ausgerechnet ihr betrogener Ehemann Victor hat eine Eingebung, wo sie zu finden sei. 
Nach Irènes Rettung sind die Dinge allerdings alles andere als im Lot. Die Gemeinde hat mit den schwerwiegenden Folgen einer Überschwemmung zu kämpfen, die auch das Autohaus der Sollens-Brüder in Mitleidenschaft gezogen hat. David, der Josianne vor allem geheiratet hat, weil sie ihm glaubhaft vermittelte, dass sie schwanger sei, muss herausfinden, ob er seine Frau auch aus anderen Gründen geehelicht hat, wohingegen Édith, die nun mit Marc zusammengezogen ist, unter dessen Sexbesessenheit zu leiden beginnt. Schließlich hat die Redakteurin der Zeitschrift „City“ bereits einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hinter sich… 
„Sie traf nach Einbruch der Dunkelheit bei sich zu Hause ein. Marc lag schon im Bett und schlief. Sie setzte sich auf die Bettkante und holte ihm, ohne ihn zu wecken, einen runter – eine Schachtel Kleenex in Reichweite. Dann legte sie sich im Halbdunkel neben ihn. Dank dieser List hatte sie gute Chancen, eine ruhige Nacht zu verbringen – theoretisch würde sich vor Tagesanbruch nichts mehr abspielen. Sie wollte nur still neben ihm liegen bleiben und im Dunkeln an die Decke starren.“ (S. 156) 
Nachdem die ersten beiden „Doggy Bag“-Bände voller Action, Sex und Verwirrungen angesichts der überraschenden Rückkehr von Marcs und Davids früherer Geliebten waren, hat sich die Aufregung im dritten Band etwas gelegt. Die Beziehungen zwischen den Protagonisten sind zwar weiterhin problematisch, doch haben sich mittlerweile einige feste Bindungen ergeben. 
Für Aufregung sorgt vor allem die Überschwemmung und Marcs auch von den Medien ausgeschlachtetes Heldentum, nachdem er ein Mädchen vor dem Ertrinken gerettet hatte. Sprachlich bewegt sich „Doggy Bag – Drei“ nach wie vor auf hohem Niveau, aber der Plot hat viel von seiner Faszination verloren und zieht sich durch eine markante Geschwätzigkeit gerade in den Dialogen ganz schön in die Länge. Immerhin endet das Buch wieder mit einem Paukenschlag.


Philippe Djian – „Doggy Bag – Zwei“

Montag, 13. Mai 2024

(Diogenes, 310 S., Tb.) 
Mit Romanen wie „Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen“, „Erogene Zone“ und „Verraten und verkauft“ avancierte Philippe Djian ab Mitte der 1980er Jahre zum Kultautor, dessen knackige Prosa, unverblümte Sprache und wilden Stories bis heute kaum etwas von ihrer Faszination eingebüßt haben. Im Jahr 2005 startete der Franzose mit „Doggy Bag“ ein ungewöhnliches literarisches Experiment, eine Soap in sechs Bänden. Im Mittelpunkt seiner insgesamt 1800 Seiten umfassenden Seifenoper stehen die beiden Brüder Marc und David Sollens, die in ihren Zwanzigern in dieselbe Frau, Édith, verliebt gewesen sind, worauf sie die Stadt für zwanzig Jahre mit ihrem Ausweich-Lover Paul verließ, nur um zwanzig Jahre später wieder zurückzukehren – mit ihrer neunzehnjährigen Tochter Sonia im Schlepptau. 
Bevor sich die Rivalität der beiden Brüder, die gemeinsam ein Autohaus führen, wieder zuspitzen kann, erscheinen die Fronten im zweiten Band bereits abgesteckt. Der sexbesessene Marc kauft für sich und Édith eine Villa und will fortan monogam leben, während David etwas verunsichert der Hochzeit mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne entgegensieht. Marcs und Davids Vater Victor schlägt sich mit Depressionen angesichts seiner Sterblichkeit herum und hofft, nicht ganz vergebens, auf eine Versöhnung mit seiner Frau Irène. Solange sie sich aber noch sperrt, fokussiert sich Victor ganz auf seine Enkelin Sonia. 
Irène lässt sich derweil auf eine Affäre mit einem wortkargen Tischler ein, der ihr zwar berauschende Orgasmen in seinem Lieferwagen beschert, dann aber eine Seite an sich offenbart, die Irène sprachlos macht. Und Marc muss feststellen, dass es viel schwieriger ist, monogam zu bleiben, als er erwartet hatte… 
„Im Übrigen hatte ihn diese Rothaarige fast mit den Augen verschlungen. Sie hatte ihm keine Chance gelassen, wirklich nicht die geringste. Wie viele Männer hätten sich schon geweigert, die Gelegenheit beim Schopf zu packen? Was für Schlussfolgerungen ließen sich aus dem bedauerlichen Fehltritt ziehen? Keine einzige. Zum Glück keine einzige. Der Weg, den er eingeschlagen hatte, blieb noch immer der gleiche. Dieser Ausrutscher, diese Entgleisung änderte gar nichts. Nur noch Édith. Von nun an nur noch Édith.“ (S. 216). 
Djian bleibt sich auch bei seiner sechsteiligen Soap insofern treu, als er genüsslich die amourösen Abenteuer und Verstrickungen sich nah stehender Menschen beschreibt und seziert, wobei die Protagonist:innen bei Djian mit ihm zusammen altern. 
Als der Autor im Jahr 2005 mit „Doggy Bag“ begann, zählte er selbst schon 55 Lenze. Insofern verwundert es nicht, wenn nun vor allem die über Vierzigjährigen krachen lassen, aber auch jenseits der sechzig wird hier kräftig bei jeder sich bietenden Gelegenheit gevögelt. Es ist vor allem Djians sprachlicher Finesse zu verdanken, dass „Doggy Bag – Zwei“ kurzweilig zu unterhalten versteht, ohne bei den Beziehungen zwischen den Beteiligten besonders in die Tiefe zu gehen. 
„Ich versuchte, mich auf demselben Terrain durchzukämpfen, auf dem sich das Fernsehen bewegt, und ich versuche die zurückzuerobern, die kein Buch mehr aufschlagen und nur noch auf den Bildschirm starren“, beschrieb der Autor das Konzept von „Doggy Bag“. „Die Schlacht ist vielleicht von vornherein verloren, aber man muss sie trotzdem schlagen…“ 
Es ist in der Tat kaum anzunehmen, dass Djians ehemalige Leser, die nun vor der Glotze versauern, ausgerechnet durch seine Soap-Romane zurück in die literarische Welt finden, vor allem nicht über sechs Bände lang, doch vergnüglich – mehr aber auch nicht – sind die turbulenten, dialoglastigen und temporeichen Verwicklungen allemal. Und mit einem geschickten Cliffhanger vermag es Djian eventuell sogar, seine Leser zum nächsten Band greifen zu lassen…


Philippe Djian – „Ein heißes Jahr“

Mittwoch, 22. November 2023

(Diogenes, 228 S., HC) 
Von Beginn seiner schriftstellerischen Karriere an hat sich Philippe Djian vor allem mit amourösen Verstrickungen und der poetischen Beschreibung ihrer seelischen wie körperlichen Vorgänge einen Namen gemacht. In den letzten Jahren ist dem französischen Bestseller-Autor diese Fähigkeit allerdings weitgehend abhandengekommen. Dass sein neuer Roman „Ein heißes Jahr“ mit kaum mehr als 200 Seiten wieder sehr kurz ausgefallen ist, spricht zunächst wenig dafür, dass Djian wieder die Kurve gekriegt hat. Dafür setzt er mit der Klimakatastrophe in einer nahen Zukunft – der Originaltitel des Romans lautet „2030“ - zumindest auf ein hochaktuelles Thema. 
Vor zehn Jahren hat die schwedische Schülerin Greta Thunberg zu Schulstreiks für das Klima aufgerufen und den Weg für die globale Bewegung „Fridays For Future“ freigemacht. Als Greg eines Morgens eine Reportage über das „Mädchen mit den Zöpfen“ sieht, wird er mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, dass er zusammen mit seinem Schwager Anton für die Vertuschung von Forschungsergebnissen zur Schädlichkeit eines Pestizids verantwortlich ist. Und das in einer Zeit, in der die Temperaturen so stark steigen, dass man es ohne Klimaanlage kaum noch aushält. Dafür gibt es aber ein Heilmittel gegen Krebs, so dass wieder unbeschwert geraucht werden darf. Während Anton und Greg sich mit ihrem Labor der Gesundheitsaufsicht stellen müssen, die bei einigen der Untersuchungsergebnisse Verdacht geschöpft haben, unterstützt Greg seine vierzehnjährige Nichte Lucie bei ihrem Engagement für das Klima. Dadurch lernt er die Klimaaktivistin Véra kennen, mit der Greg eine ungewöhnliche Freundschaft eingeht, bei der die Grenzen nicht immer so klar definiert erscheinen wie ursprünglich abgesprochen… 
„Sie spielten dieses Spielchen schon eine ganze Weile, am Ende war es schon tiefe Nacht, und sie hatten sich so heißgemacht und gereizt, dass er ihr sogar einen Finger hineingeschoben hatte, aber in weniger als einer Minute hatten sie sich wieder im Griff und gingen in beiderseitigem Einvernehmen auseinander. Sie zog den Slip wieder an und rollte sich auf die Seite. Er stand auf. Sie konnte schlecht behaupten, dass das seine Idee gewesen wäre. Sie selbst hatte die Grenzen festgesetzt, sich darüber zu beklagen, ging jetzt nicht. Genau das musste es wohl bedeuten, sich ins eigene Fleisch zu schneiden.“ (S. 158) 
Was anfänglich wie eine Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe wirkt, auf die wir wissentlich zusteuern, entpuppt sich bei Djian schnell nur als Aufhänger für eine weitere komplizierte Liebesgeschichte. Die familiären und beruflichen Bindungen zwischen Anton und Greg sind dabei komplex. Während für Anton als Chef des Labors, das mit seinen gefälschten Forschungsergebnissen dafür verantwortlich ist, dass das nach wie vor für den Handel zugelassene Pestizid in Zusammenhang mit einigen Todesfällen gebracht wird, vor allem das Image seiner Firma am Herzen liegt und mit den Töchtern seiner Frau arge Probleme hat, ist sein Schwager Greg hin- und hergerissen zwischen seiner Loyalität zu seiner Firma, die ihm ein luxuriöses Leben mit einem Porsche ermöglicht, und seiner gesellschaftlichen Verantwortung, auf die ihn seine Nichte und ihre Mentorin Véra aufmerksam machen. 
Djian interessiert sich jedoch mehr für das komplizierte Verhältnis zwischen Greg und Véra als für die Begleitumstände der bedrohlichen Klimakatastrophe, die Djian nur kurz skizziert. Im Gegensatz zu seinen früheren Romanen sind die Charakterisierungen der Figuren in „Ein heißes Jahr“ sehr oberflächlich ausgefallen. Eine wirkliche Nähe zu den Figuren oder gar Sympathie für sie lässt der kurze Roman leider nicht zu. So bleibt „Ein heißes Jahr“ nur eine weitere, eher unbedeutende, wenn auch stilsichere Fingerübung des einst so leidenschaftlich wirkenden Schriftstellers.


Philippe Djian – „Kriminelle“

Freitag, 7. April 2023

(Diogenes, 244 S., HC) 
In den 1980er Jahren avancierte der französische Schriftsteller Philippe Djian zum Liebling der Literaturszene. In Romanen wie „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“ ließ Djian seinen Ich-Erzähler als sein Alter ego auf erfrischend frivole wie leichtfüßige und humorvolle Weise über Sex, Gefühlschaos und Schreibblockaden schwadronieren, dass es eine Freude war, sich in die turbulenten Stories zu stürzen. Ende der 1990er Jahre war von diesem schwungvollen Flair nur noch wenig übrig geblieben. 
1994 legte er mit „Assassins“ (dt. „Mörder“ bzw. „Ich arbeite für einen Mörder“) den Auftakt einer Trilogie vor, die er zwei Jahre später mit „Kriminelle“ fortsetzte. 
Francis hat es nicht leicht. Er hat keinen Job, einen scheinbar kaputten Rücken, und das Verhältnis zu seiner fünfundvierzigjährigen Freundin Élisabeth gestaltet sich ebenso kompliziert wie das zu seinem Bruder Marc oder seinem Sohn Patrick, der sich in Théos Frau Nicole verguckt hat, was Francis gut nachvollziehen kann, hat er sich, bevor er mit Élisabeth zusammengekommen ist, doch selbst gut ein Dutzend Mal sich auf Nicole einen runtergeholt. Nun will seine Ex-Frau Christine Patrick mit ihrem neuen Mann Robert, der im Zuckerrohrgeschäft tätig ist, nach Guatemala auswandern. 
Zu allem Überfluss muss sich Francis entscheiden, was er mit seinem Vater anstellen soll, der zu einem Pflegefall geworden ist. Mit seinem Bruder, der als Schriftsteller arbeitet, hat er sich immer wieder über den Tod ihrer Mutter in die Haare bekommen, nachdem sie in ihrer Badewanne ertrunken war. Da für Marc seine Mutter sein Ein und Alles gewesen ist, lässt er sich nicht von seiner Überzeugung abbringen, dass sie von dem zur Gewalt neigenden Vater der beiden Brüder umgebracht worden sei. Die befreundeten Paare haben mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Während Monique verzweifelt ist, dass sie keinen Orgasmus mehr bekommt, ist ihr Mann Ralph nur noch an seinem Rennpferd interessiert. Bei einem Picknick an der Sainte-Bob im Mai treten die Konflikte zwischen den Paaren offen zutage… 
„Ich habe die Abenteuer meiner Ex, Patricks Mutter, nie verkraftet. Ich musste älter als fünfzig werden, um mir einen blasen zu lassen, ohne deshalb alle Frauen zum Kotzen zu finden. Aber man wird diese Sachen nie ganz los. Mit Élisabeth würde ich mich gern im Schlamm wälzen und in weißen Laken wach werden. Ich lebe damit, und ich wüsste nicht, was ich anderes tun könnte. Ich glaube, dass ich mich nicht mehr ändere.“ (S. 102) 
Veränderung ist das große Thema in Djians „Kriminelle“. Insofern passt das dem Roman vorangestellte Zitat „Im Grunde könnte jeder irgendein anderer sein. Man muss sich entscheiden.“ von Richard Ford wie die Faust aufs Auge. Allerdings leidet nicht nur Philippe Djians Ich-Erzähler unter dem Mangel am nötigen Willen dazu, auch Francis‘ Mitmenschen verspüren zwar den Drang zu einer Veränderung in ihrem Leben, werden aber nicht glücklich bei dem Versuch, wenigstens mit kleinen Schritten zu einer Verbesserung ihres Lebensgefühls beitragen zu wollen. 
An Handlung ist „Kriminelle“ so arm wie sonst kaum einer von Djians Romanen. Stattdessen beschränkt sich der einst gefeierte Autor darin, die unterschiedlichen Gefühlswelten seiner Figuren in recht substanzlosen, aber ausufernden Dialogen zum Ausdruck zu bringen, ohne dass sich an der Situation der Beteiligten etwas ändert. Zum Ende hin kommt Francis zur Erkenntnis, dass doch alles ganz einfach sei, worauf Élisabeth entgegnet: „Meine Güte, das sagst du, Francis. So einfach nun doch wieder nicht.“ Diese wenigen Zeilen sind bezeichnend für „Kriminelle“, denn es sind keine wirklich schwerwiegenden Probleme, die Francis & Co. hier zu lösen haben. Sie kreisen einfach um sich selbst, dramatisieren unnötig, kommen nicht voran. Diesen Stillstand vermag Djian zwar wie gewohnt sprachlich brillant einzufangen, doch außer den einfallsreichen Beschreibungen einiger erotischer Momente langweilt „Kriminelle“ einfach nur. 

 

Philipp Djian – „Pas de deux“

Sonntag, 11. September 2022

(Diogenes, 436 S., HC) 
Seit seinem 1982 veröffentlichten Roman „Blau wie die Hölle“ hat der französische Schriftsteller Philippe Djian eine rasante Karriere hingelegt, die in dem auch erfolgreich verfilmten Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) einen ersten Höhepunkt erreichte. 1991 folgte schließlich „Lent dehors“, hierzulande als „Pas de deux“ veröffentlicht, und präsentierte etwas nachdenklichere Töne. Das Thema Sex steht in diesem Roman allerdings auch so stark im Mittelpunkt, dass die Story selbst fast in den Hintergrund rückt. 
Einst galt Henri-John als talentierter Pianist mit vielversprechender Karriere, doch nach einem aufregenden Leben, zu dem das Touren mit dem renommierten Sinn-Fein-Ballett durch die ganze Welt und aufregende Affären zählten, hat er seine Freundin aus Jugendtagen, die mittlerweile erfolgreiche Schriftstellerin Edith, geheiratet, mit ihr die beiden Töchter Eléonore und Evelyne großgezogen und verdient seinen Lebensunterhalt als Musiklehrer in Teilzeit an der Schule Saint-Vincent. Sein in ruhigen Bahnen verlaufendes Leben kommt erst wieder in Schwung, als Edith für zwei Wochen zu einer Lesereise nach Japan aufbricht. In dieser Zeit lässt sich Henri-John auf eine Affäre mit seiner jungen Kollegin Hélène, deren Avancen er bisher problemlos widerstehen konnte. 
Als Edith jedoch aus Japan mit ersten Teilen ihres neuen Romanmanuskripts zurückkehrt und Henri-John um eine ehrliche Einschätzung bittet, kommt es zum Affront. Henri-John ist über Ediths Anbiederung an die Literaturschickeria so entsetzt, dass er ihr seine Meinung nicht vorenthalten mag. Als Edith auch noch hinter seine Affäre kommt und ihn vor die Tür setzt, ist Henri-John gezwungen, über seine Prioritäten im Leben neu mit sich zu verhandeln. Er nistet sich im Haus seines Freundes Oli am Meer ein und beginnt mit dem Herumtreiber Finn, die Treppe zum Meer neu zu bauen. In der Zeit erinnert sich Henri-John - nicht zuletzt durch das Lesen von Ediths Tagebuch – an wilden Zeiten seiner Jugend zurück und findet langsam heraus, dass er Edith zurückgewinnen will… 
„Meine Probleme waren nicht aus der Welt, aber dank ihm hatte ich die schlimmsten Klippen umschifft. Ich war wieder zu Kräften gekommen, und mein Verstand war klar. Ich hatte aufgehört, über mein Schicksal zu jammern. Die Wunde war nicht verheilt, aber ich glaubte inzwischen, mit ihr leben zu können, weil ich sie akzeptiertem weil sie mir vertraut war, weil Finn, sagen wir, eine Art hatte, seinen Hammer zu schwingen, die mich mit der Welt versöhnte.“ (S. 259) 
Der von US-amerikanischen Autoren wie Richard Brautigan, Henry Miller, Jack Kerouac und Jerome David Salinger beeinflusste Philippe Djian hat nie verhehlt, dass es ihm vor allem um Stil und Sprache geht, und so bilden die Figuren und die Geschichte nur den Rahmen, um mit der Sprache zu jonglieren. Darin hat sich der französische Schriftsteller bereits in seinen frühen Roman als wahrer Fabulierkünstler erwiesen. Mit seinem Roman „Pas de deux“ (der deutsche Titel bezieht sich auf einen Teil des „Nussknacker“-Balletts von Peter Tschaikowsky) erzählt Djian die komplexe Lebensgeschichte eines Musikers, in dessen Erinnerungen vor allem die ersten sexuellen Erfahrungen mit einer reifen Frau wie Romana und nachfolgenden Eroberungen einen breiten Raum einnehmen. Djian ist ein Schriftsteller, der pornographische Inhalte zu einem literarischen Erlebnis macht. 
Seitenlang vermag er die Lust an weiblichen Reizen und an erotischen Handlungen kunstvoll zu beschreiben, ohne dass es einem die Schamesröte ins Gesicht treibt. Doch darüber hinaus erweist sich „Pas de deux“ als feinsinniger Entwicklungsroman. Djian lässt seinen Protagonisten in den Tagebüchern seiner Frau und Briefen seines Freundes Oli schwelgen, führt so immer wieder eine andere Perspektive in den Plot ein, mit der sich Henri-John gezwungenermaßen auseinandersetzen muss, will er seine Frau wieder zurückgewinnen. Dabei entwickelt die Geschichte, die zwischen den ausgehenden 1950er Jahren und der heutigen Zeit pendelt, einen faszinierenden Sog, gelingt es Djian doch vorzüglich, seine Figur mit wahrer emotionaler Tiefe auszustatten und so reifen zu lassen. 
 

Philippe Djian – „Die Ruchlosen“

Dienstag, 24. August 2021

(Diogenes, 202 S., HC) 

Während die zwischen 2013 und 2016 erschienenen Romane „Love Song“, „Chéri-Chéri“ und „Dispersez-vous, ralliez-vous!“ noch auf ihre deutschsprachige Veröffentlichung warten, knüpft der französische Erfolgsautor Philippe Djian („Betty Blue - 37,2 Grad am Morgen“, „Oh…“) mit seinem neuen Roman an die kurze, aber knackige Prosa an, die bereits seine vorangegangenen Werke „Marlène“ und „Morgengrauen“ ausgezeichnet haben. 
Seit Patrick in den Armen seiner Frau Diana gestorben ist, kümmert sich sein Bruder Marc um die immer wieder von depressiven Stimmungen, die schon mal in Selbstmordversuchen münden, gezeichnete Zahnärztin, ist sogar in ihre Wohnung gezogen, wo er sie besser im Blick hat. Im Gegensatz zu seinem ebenso charismatischen wie temperamentvollen Bruder hat Marc nicht den gewissen Schlag bei Frauen, ist mit seinen knapp dreiunddreißig Jahren noch immer Jungfrau. Dass er mal den Platz seines Bruders bei Diana einnimmt, kommt weder für ihn noch seine Schwägerin in Frage. Aber als Marc, der viel zu viel Zeit mit Online-Poker verbringt und dabei sukzessive seine Geldreserven aufbraucht, eines frühen Morgens am Strand drei Päckchen mit Koks vom Meer angeschwemmt findet, hofft er durch Dianas Bruder Joël die Drogenpäckchen zu Geld machen zu können. Der über Sechzigjährige hat sich nicht nur mit seiner Schwester entzweit, sondern auch mit seiner dreißig Jahre jüngeren Frau Brigitte. Die Dinge verkomplizieren sich nicht nur dadurch, dass sich Joël in der Drogensache mit den falschen Leuten anlegt, sondern auch durch die gar nicht so heimlich Affäre, die Diana mit dem Bürgermeistersohn Serge unterhält … 
„Joël pflegte nicht nur guten Umgang, das lag auf der Hand, und Patrick hatte ihm in dieser Hinsicht nicht nachgestanden. Der Jachthafen und die paar Straßen im Umkreis brachten keine Messdiener und Kirchenleute hervor, und das war das Ergebnis, Geschichten wie aus einem Film, mit Engeln und bösen Jungs.“ (S. 60) 
Was den Umfang seiner Geschichten angeht, bewegt sich Djian weiterhin in Richtung zunehmend minimalistischer Regionen, von 280 Seiten („Marlène“) über 236 Seiten („Morgengrauen“) auf nunmehr 202 Seiten, doch qualitativ bewegen sich seine Geschichten auf etwa ähnlichem Niveau. 
Djian hat es sich angewöhnt, ohne große Einleitung gleich zur Sache zu kommen und den Plot wie ein Feuerwerk abzufackeln, ohne viel Mühe darauf zu verwenden, seinen Figuren und Lesern mal eine Ruhepause zu gönnen. Immerhin versteht er es in „Die Ruchlosen“, mit nur wenigen Skizzen sowohl Marc als auch der fast fünfzigjährigen Diana, aber auch dem vor fast einem Jahr verstorbenen Patrick, dessen Geist die Atmosphäre der Geschichte maßgeblich mitprägt, und dem zerstörerischen Joël Charakter zu verleihen. 
Die Frauenfiguren bleiben bis auf Diana aber recht blass, bleiben Sexgespielinnen oder Gefährten beim Rauchen eines Joints. Djian etabliert ein dichtes Geflecht von mehr oder weniger kranken Beziehungen, die durch den Drogendeal, Affären und schließlich Todesfälle das Drama zu einem echten Thriller werden lassen. Es ist Djians nach wie vor ungewöhnlichem sprachlichen Geschick, seiner einzigartigen Art, mit kurzen Sätzen und knackigen Dialogen Tempo zu machen, zu verdanken, dass sich „Die Ruchlosen“ sehr kurzweilig lesen lässt. 
Allerdings überschlagen sich im Finale die Ereignisse dann doch auf recht unglaubwürdige Art und Weise, die das zuvor schon bizarr anmutende Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren noch absurder erscheinen lässt. Spaß macht dieser teuflische literarische Ritt aber doch!  

Philippe Djian – „Morgengrauen“

Mittwoch, 27. Mai 2020

(Diogenes, 236 S., HC)
Nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, kehrt die dreiunddreißigjährige Joan aus dem Zentrum der Stadt in den Vorort ihres Zuhauses zurück, um sich um ihren autistischen Bruder Marlon zu kümmern, der panische Angst vor der Dunkelheit hat. Die neue Konstellation bringt einige Herausforderungen mit sich, denn neben der Second-Hand-Boutique, die sie mit ihrer fünfzigjährigen Freundin Dora in der Stadt führt, verdient sie ihren Lebensunterhalt als Prostituierte, wovon Marlon auf keinen Fall etwas mitbekommen soll. Einer ihrer Kunden ist Howard, ein alter Bekannter ihrer Eltern, der – wie Joan erfahren muss – auch eine Affäre mit ihrer Mutter Suzan hatte.
Joan bedauert, den Zustand der Gleichgültigkeit zwischen ihr und ihren Eltern jahrelang aufrechterhalten zu haben, und beschäftigt sich mit der Vergangenheit ihrer Eltern, vor allem durch das Lesen von Suzans überraschend leidenschaftlichen Briefen an Howard, der gegenüber Joan immer besitzergreifender wird. Doch das größere Problem stellt die sechzigjährige Ann-Margaret dar, die sich anfangs nur darum kümmern soll, dass Marlon bei seinen Panikattacken nicht allein ist, während Joan ihren zweifelhaften Geschäften nachgeht. Doch dann beginnt die Frau, sich auch Marlons sexueller Bedürfnisse anzunehmen, und Joans Bruder immer mehr für sich einzunehmen.
„Für ihren Geschmack wurde das Leben interessanter, wenn man etwas zu verlieren hatte. Sie hatte dreiunddreißig Jahre gebraucht, um das zu begreifen, war ziellos durch eine endlose, öde Wüste gewandert, aber jetzt war da endlich etwas, und dieses Etwas war ihr Bruder. Sie konnte es noch immer kaum glauben. Was er war, was er bedeutete. Und alles war gut gewesen, bis zu dem Moment, als Ann-Margaret die Bühne betreten hatte.“ (S. 213) 
Philippe Djian, der in den 1980er Jahren mit seinen ersten Romanen „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“ in der Literaturszene für Furore sorgte und zum Kultautor avancierte, hat in den vergangenen Jahren eher kürzere Werke veröffentlicht und begnügt sich auch in seinem neuen Roman „Morgengrauen“ damit, seine Figuren ohne große Einleitung gleich mitten im Geschehen zu verorten, das sich im abgehackten, episodischen Stil überschlägt.
Es bleibt kaum Zeit, die komplizierte (sexuelle Arbeits-) Beziehung zwischen Joan und Harold aufzuarbeiten, da bekommt der ehemalige Liebhaber von Joans Mutter einen cholerischen Anfall und verunglückt wenig später. Die Anziehungskraft zwischen Marlon und der reifen Ann-Margaret wird extrem sprunghaft inszeniert, wobei nur angedeutet wird, wie sich diese Beziehung überhaupt entwickeln konnte. Djian führt etliche Figuren ein, die er nur kurz skizziert, wie den Sheriff John, der zwar ein Auge auf das Etablissement von Dora und Joan wirft, für sein Schweigen aber mit freiem Zutritt zu den Mädchen entlohnt werden will. Am meisten enttäuscht „Morgengrauen“ auf der Beziehungsebene zwischen Joan und Marlon.
Der Autor konzentriert sich so auf Joans Perspektive, dass Marlon selbst fast ein Unbekannter bleibt, ein bloßes Objekt, um dessen Gunst sich Joan und Ann-Margaret zunehmend in die Haare geraten. Djian scheint, wie zuvor schon bei „Marlène“, nur an der Schilderung möglichst abstruser Szenarien interessiert zu sein, ohne Sympathien oder auch nur ein Interesse an seinen Figuren zu entwickeln, so farblos erscheinen sie in der losen Abfolge der Ereignisse. Djian nimmt sich weder die Zeit, Joans problematische Beziehung zu ihren verunglückten Eltern aufzuarbeiten, noch ihre schwierige Beziehung zu ihrem psychisch labilen Bruder. Hätte er das getan, würde das absurde Finale vielleicht auch ansatzweise glaubwürdig wirken, so bringt es nur einen stilistisch zwar wieder pointiert fesselnden, aber auf der erzählerischen Ebene zerfaserten und enttäuschend oberflächlichen Roman zum leider passenden Abschluss.

Philippe Djian – „Betty Blue – 37,2° am Morgen“

Mittwoch, 6. November 2019

(Diogenes, 396 S., Tb.)
Eigentlich könnte der Ich-Erzähler in Philippe Djians ein erfolgreicher Schriftsteller sein. Stattdessen droht sein handgeschriebenes Manuskript in einem Pappkarton in Vergessenheit zu geraten, während er seinen Lebensunterhalt als Mädchen für alles in einer Bungalow-Anlage verdient und sich nebenbei mit der temperamentvollen Betty vergnügt, die er seit einer Woche kennt. Da der Vermieter mit diesem Arrangement nicht so ganz einverstanden ist, erklärt sich der verhinderte Schriftsteller bereit, alle Bungalows neu zu streichen, damit Betty auch weiterhin bei ihm wohnen kann. Betty platzt dabei so richtig der Kragen und leert einen Farbeimer über dem Wagen des verhassten Vermieters. So bekommt der Protagonist in den Mittdreißigern einen ersten Vorgeschmack auf die Temperamentsausbrüche seiner Freundin.
Doch das ist erst der Anfang. Als Betty das Manuskript findet, ist sie von dem Text so begeistert, dass sie es persönlich abtippt und Kopien an verschiedene Verleger aus dem Telefonbuch schickt. Der Absender eines garstigen Ablehnungsschreibens bekommt es schließlich persönlich mit Betty zu tun. Um weiteren Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, zieht das Paar zunächst bei Eddie und Lisa ein, wo sie in Eddies Pizzeria arbeiten, dann verschafft Eddie den beiden einen Job im Klavierladen, den seine verstorbene Mutter betrieben hat. Hier findet der verkannte Schriftsteller genügend Zeit, um an einem neuen Manuskript zu arbeiten, aber Bettys Anfälle nehmen immer besorgniserregendere Züge an …
„Sie müsste einsehen, dass das Glück nicht existiert, dass das Paradies nicht existiert, dass es nichts zu gewinnen oder zu verlieren gibt und man im wesentlichen nichts ändern kann. Und wenn du glaubst, die Verzweiflung ist alles, was einem dann bleibt, dann irrst du dich noch einmal, denn auch die Verzweiflung ist eine Illusion.“ (S. 282) 
Mit seinem dritten Roman nach „Blau wie die Hölle“ und „Erogene Zone“ ist Philippe Djian Mitte der 1980er Jahre der internationale Durchbruch gelungen, angefeuert durch die erfolgreiche Verfilmung des Roman durch Jean-Jacques Beineix („Diva“) aus dem Jahre 1986. Wie in vielen von Djians Romane hadert auch in „Betty Blue“ der Ich-Erzähler mit seinem Schicksal als verkannter Schriftsteller. Es ist ihm auch egal. Hauptsache, er verdient etwas Geld, hat genügend Zeit, sich in der Sonne zu fläzen, mit Betty zu bumsen und etwas zu trinken. Mehr erwartet er gar nicht vom Leben. Doch an Bettys Seite kann er sich nicht einfach weiter so durch das Leben treiben lassen, denn Betty erwartet mehr von einem so talentierten Schriftsteller.
Während sie alles daransetzt, mit ihrem Liebsten aus dem Alltagstrott auszubrechen, bleibt ihm nicht anderes übrig, als mit ihr mitzuziehen. Djian erzählt diese außergewöhnlich leidenschaftliche Liebesgeschichte in einem rasanten, präzisen Stil, der in jedem Absatz deutlich macht, was vor allem der empathische Ich-Erzähler empfindet, der schließlich meint, auch Betty so gut zu kennen, wie es niemand sonst vermag. Die Beziehung zwischen den beiden und vor allem Bettys dem Borderline-Syndrom geschuldetes überschäumendes Temperament machen Stimmung und Tempo des Romans aus, wobei sich Tragik und Humor überzeugend die Waage halten. So ist Djian mit „Betty Blue – 37,2° am Morgen“ ein ebenso gefühlvoller wie aufrüttelnder Roman über Liebe, Treue, Loyalität und Leidenschaft gelungen, wie es ihm später in dieser Intensität kaum noch gelingen sollte.

Philippe Djian – „Doggy Bag. Eins“

Mittwoch, 26. Dezember 2018

(Diogenes, 274 S., Tb.)
Vor zwanzig Jahren hätten sich die beiden Brüder Marc und David Sollens wegen Édith beinahe umgebracht. Mittlerweile führen sie gemeinsam und sehr erfolgreich ein Autohaus, das seine Verkäufe vor allem der umtriebigen Sekretärin Béa verdankt, die ihren Kunden durch sexuelle Gefälligkeiten immer wieder Rabatte unterzuschieben versteht, aber eigentlich in ihre Chefs verschossen ist. Als Édith wie versprochen auf den Tag genau nach zwanzig Jahren wieder auftaucht, gerät das Leben der Sollens-Familie arg ins Wanken.
Nach unsachgemäßen Tiefbauarbeiten, in deren Folge Marcs Büro in der Erde verschwindet, will der 41-Jährige die gesamte Stadtverwaltung verklagen, beginnt aber eine neue Beziehung mit Édith, die ihre zwanzigjährige Tochter Sonia im Schlepptau hat, bei der sowohl David als auch Marc als Vater in Frage kommen. David unterhält dagegen eine Affäre mit der 35-jährigen Krankenschwester Josianne, die sich nach einem traumatischen Erlebnis aber auf keinen Geschlechtsverkehr einlässt …
„Er fühlte, dass Édith und Marc in diesem Augenblick zusammen waren, und das machte die Sache nicht besser. Es war zwar zunächst nur ein leichter Stich, ein verschwommener Schatten, der dem Nebel entwich, den die Reibereien mit Josianne erzeugten und der alles einhüllte. Aber dennoch ein Stich, eine zusätzliche Last, die er sich gern erspart hätte.“ (S. 200) 
Mit Romanen wie „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“ oder „Blau wie die Hölle“ hat sich der französische Autor Philippe Djian eine treue Fangemeinde erschlossen, die vor allem seine lebendige Sprache und das erotische Prickeln in den komplizierten Beziehungen seiner Protagonisten zu schätzen wissen. Mit der sechsteiligen Reihe „Doggy Bag“ versuchte sich Djian Mitte der 2000er Jahre an einer literarischen Soap Opera, um den allzu flach inszenierten Dramen des Prime-Time-Fernsehens etwas entgegenzusetzen.
Sein Ziel, jene Menschen wieder zum Buch zurückzuführen, die längst ans Fernsehen verloren gegangen sind, dürfte er nicht annähernd erreicht haben. Stattdessen dürfte Djian seine Fans mit einer kaum glaubwürdigen Abfolge zunehmend absurder erscheinenden Sex-Abenteuer wenn nicht gänzlich vergrault, dann doch enttäuscht haben.
Wer hier mit wem alles eine mehr oder weniger heimliche Affäre eingeht oder wenigstens von einer solchen träumt, wirkt allzu beliebig und irgendwann auch nicht mehr unterhaltsam. Dabei besitzen einzelne Figuren durchaus einen gewissen Charme und haben in den nachfolgenden Bänden hoffentlich noch Gelegenheit, an Kontur zu gewinnen, ohne zu wahllosen Objekten verschiedener sexueller Begierden zu werden.

Philippe Djian – „Marlène“

Donnerstag, 13. September 2018

(Diogenes, 280 S., HC)
Seit die beiden Kindheitsfreunde Dan und Richard nach verschiedenen Kriegseinsätzen in die französische Provinz zurückgekehrt sind, haben sie Probleme, wieder ins reale Leben zurückzufinden. Während Dan immerhin einen Aushilfsjob in der Bowlingbahn hat und sich um strukturierte Tagesabläufe bemüht, landet der draufgängerische Richard mit seinen kleinkriminellen Aktivitäten und Gewaltausbrüchen immer wieder im Knast.
So hat er nicht nur seine 18-jährige Tochter Mona aus dem Haus und zu Dan getrieben, sondern auch seine Frau Nath, die einen Friseursalon für Hunde und Katzen unterhält, in die Arme des gutaussehenden Vincent getrieben, der ihr nicht mehr von der Pelle rücken will. Noch komplizierter wird es, als Naths schwangere Schwester Marlène vorbeikommt, die auch schon was mit Richard hatte, nun aber Dans Leben durcheinanderwirbelt, der sonst wenig Umgang mit Frauen pflegt. Richard und Nath sind gar nicht davon begeistert, wie sehr Dan von Marlène eingenommen wird, aber auch Mona bleibt von den Ereignissen nicht unberührt …
„Marlène. Du musst durchgedreht sein. Wenn Richard davon erfährt. Nein, Dan, ich fasse es nicht. Das ist ein Witz. Er trat einen Schritt zurück und sah sie erwartungsvoll lächelnd an. Oh, oh, ich date deine Schwester, was es nicht alles gibt. Ich will sie ja nicht heiraten, beruhig dich, was hast du denn. Dan, bevor sie da war, waren wir eine Familie, und sie wird alles zerstören, was davon noch übrig ist, das habe ich.“ (S. 260f.) 
Philippe Djian („Erogene Zone“, „Die Leichtfertigen“, „Oh …“) braucht scheinbar immer weniger Worte, um die Katastrophen heraufzubeschwören, in die seine oft zum Scheitern verurteilten Figuren ohne großes eigenes Zutun schlittern. Auch in seinem neuen Roman „Marlène“ nimmt das Unheil recht schnell seinen Lauf. Djian hält sich nicht lange damit auf, sein reduziertes Figurenensemble vorzustellen. Wenige Sätze reichen aus, um die desolaten Seelenzustände von Dan, Nath, Mona und Richard zu beschreiben. Durch die mysteriöse Marlène wird das ohnehin empfindliche Gleichgewicht zum Kippen gebracht.
Dabei erfährt der Leser recht wenig über die fast vierzigjährige Frau, die vor allem in Dans Leben so unvermittelt auftaucht und für emotionale Ausnahmezustände sorgt. Während sie selbst immer mal wieder einfach so zusammensackt und tollpatschig Bier über ihr Kleid schüttet, Dans Motorrad zu Schrott fährt und Gläser zerdeppert, reagieren vor allem Richard und Nath mit Wut, Eifersucht und Gewalt auf Marlènes Gegenwart. Djian beschränkt sich bei der Inszenierung der Gefühlsausbrüche ganz auf die scharfzüngigen Dialoge und unüberlegt wirkenden Handlungen, statt seine Figuren zu charakterisieren. Durch die Intensität seiner Worte zieht der Autor den Leser mitten in die Handlung hinein, versperrt ihm aber den Blick auf die inneren Kämpfe, die vor allem Dan, Nath und Richard ausfechten, so dass die folgenschweren Handlungen, zu denen sie sich hinreißen lassen, einfach nur beschrieben werden. Besonders glaubwürdig wirkt das Szenario der ganzen amourösen Verflechtungen mit ihren brutalen Konsequenzen allerdings nicht. Dafür springt Djian zu sehr von einer kurzen Episode zur nächsten und überspannt den Bogen der Effekthascherei dann doch zu oft.
Leseprobe Philippe Djian - "Marlène"

Philippe Djian – „Blau wie die Hölle“

Sonntag, 12. Februar 2017

(Diogenes, 394 S., Tb.)
Auf dem Weg zu seiner Freundin Lucie wird Henri an einer Autobahnraststätte abgesetzt, wo er Zeuge wird, wie der Fahrer eines Buick den Laden betritt, die Toilette in Brand setzt und den Moment, als der Barkeeper das Feuer löschen will, zum Ausräumen der Kasse nutzt. Henri begleitet den Typen namens Ned kurzerhand auf seiner Flucht, aber die beiden haben unverzüglich den wirklich fiesen Bullen Franck in seinem Mercedes im Nacken.
Seit ihm seine geliebte Frau Lili vor sechs Tagen den Laufpass gab, kennt der ohnehin cholerische Cop keine Gnade mehr. Nachdem er mit seinem Kollegen Willy den Buick von der Straße gedrängt und die beiden flüchtigen Männer in Gewahrsam genommen hat, schleppt er seine Gefangenen direkt nach Hause, kettet sie im Badezimmer an und wartet darauf, dass Lili zu ihm zurückkommt.
Doch als sie mit Carol, seiner Tochter aus erster Ehe, aufkreuzt, fliehen die beiden Frauen mit Ned und Henri, worauf eine wilde Verfolgungsjagd über Landesgrenzen hinweg ihren Lauf nimmt …
In der Zwischenzeit tröstet sich Franck mit allen Frauen, die ihm während der Verfolgung von Ned und Henri über den Weg laufen.
„Er zuckte mit den Schultern, jetzt, wo sie ihre Spalte verbarg, blieb nichts mehr, für den Bruchteil einer Sekunden hatte er sich von ihr angezogen gefühlt, er hätte sie aufgespießt, doch gleichzeitig hätte er sich um ihre Tränen gekümmert, er hätte es versucht, aber es war vorbei, er tigerte mit seinem Glas durch das Zimmer, und als er zum Sofa zurückkam, hatte er sie völlig vergessen, sie war still, er streckte sich aus und legte einen Arm über seine Stirn, die Gedanken kamen zuhauf, die Bilder prasselten auf ihn ein, ohne jeden Bezug, sie überlappten sich, betäubten ihn.“ (S. 274) 
1986 war ein extrem gutes Jahr für den französischen Schriftsteller Philippe Djian, da wurden nämlich sowohl sein 1982 veröffentlichter Debütroman „Blau wie die Hölle“ durch Yves Boisset als auch sein dritter Roman „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ (1985) durch Jean-Jacques Beineix verfilmt. Tatsächlich präsentiert sich „Blau wie die Hölle“ wie ein atemberaubender Trip zwischen Godards Kultfilm „Atemlos“, Sam Peckinpahs „Getaway“ und David Lynchs „Wild at Heart“.
Der Roman stellt einen wilden Mix aus Sex und Gewalt dar, wobei der klassische Road-Movie-Plot nur das Gerüst darstellt, an dem sich die kaputten Typen, Männer wie Frauen, entlanghangeln, vielmehr hetzen, denn echte Verschnaufpausen sind weder den Flüchtenden noch den Cops vergönnt.
Das wahnwitzige Tempo der Handlung findet seine Entsprechung in Djians flotter Schreiber und einem coolen Stil, der sich in Sätzen voller Kommata oder auch ohne Satzzeichen konzentriert. Es bleibt bei dieser Hatz durch ein unbekanntes, aber an die USA erinnerndes Land, wobei eine Grenze in die Wüste überquert wird, auch dem Leser kaum Zeit, sich mit den Figuren auseinanderzusetzen, denen nichts wirklich heilig oder auch nur wichtig scheint. Was man begehrt, nimmt man sich einfach. Dieser Nihilismus wirkt dabei ebenso erfrischend wie anstrengend, auf der Suche nach Bedeutung wird der Leser schier verzweifeln. Aber wer das Tempo von „Blau wie die Hölle“ mitgehen kann, wird mit grober Action und ebenso grobem Sex belohnt.

Philippe Djian – „Rückgrat“

Dienstag, 24. Januar 2017

(Diogenes, 418 S., Tb.)
Nachdem der einst erfolgreiche Schriftsteller Dan vor fünf Jahren von seiner Frau Franck verlassen worden ist, fehlt dem nun auf die Mitte Vierzig Zurasenden jegliche Inspiration. Allenfalls für Drehbücher, mit denen ihn in schöner, aber auch enervierender Regelmäßigkeit sein Agent Paul Sheller beglückt, reicht sein Esprit noch. Als dieser ihn allerdings geradezu anfleht, mit der dreißigjährigen Tochter des prominenten C.V. Bergen an ihrem Drehbuch zusammenzuarbeiten, platzt Danny der Kragen. Nichtsdestotrotz lässt er sich auf den Deal ein, schließlich ist er auf die regelmäßigen Schecks seines Agenten noch immer angewiesen, doch damit werden seine Probleme nicht weniger.
Sarah, die nach dem Selbstmord ihres Mannes Mat vor gut zwei Jahren, ebenso wie Dan sich durch allerlei kurzlebige Affären treiben lässt und Mutter von Gladys und Richard ist, ist Dannys beste Freundin, aber eigentlich besteht darüber hinaus auch eine erotische Anziehungskraft, die den Schriftsteller immer wieder verzweifeln lässt.
Auch seine Beziehung zu seiner aktuellen, extrem attraktiven Geliebten Eloïse Santa Rose gestaltet sich schwierig, immerhin ist sie als Sängerin viel unterwegs und kommt so zwangsläufig immer auch mit anderen Männern in Kontakt. Und als wäre das Leben nicht kompliziert genug, muss Dan auch zwischen seinem Sohn Hermann, der heimlich mit Gladys liiert ist, und seinem besten Freund Richard vermitteln, der als eifersüchtiger Bruder nicht ahnt, was sein bester Freund hinter seinem Rücken treibt.
Doch vor allem Sarah bereitet ihm immer wieder Kopfschmerzen, zumal sie sich gerade mit einem besonders unausstehlichen Typen zusammengetan hat …
„Ich habe ihr jahrelang zu Füßen gelegen, ich hätte alles Mögliche für sie getan … Aber das Oberste Gebot, Bumse nicht mit deiner besten Freundin, stand zwischen uns wie ein unheilvolles Schwert. Ich muss gestehen, dass das Resultat meinen Hoffnungen nicht gerecht wird … Kannst du mir verraten, was von dieser schönen Freundschaft bleibt, die wir auf meiner mühsamen Enthaltsamkeit und meinem so schmerzlichen Verzicht aufgebaut haben …?“ (S. 321) 
Auch mit seinem fünften Roman (nach „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“) bleibt sich der französische Autor Philippe Djian treu. Wie in seinen vorangegangenen Werken steht auch in „Rückgrat“ ein Schriftsteller in Djians Alter im Mittelpunkt des Geschehens. Als Ich-Erzähler berichtet Dan von den Fehlschlägen in seinem Leben -der gescheiterten Ehe, der daraus resultierenden Flucht seiner Inspiration – und von den schwierigen Herausforderungen des Alltags, es seinem Agenten ebenso rechtzumachen wie seinem Sohn, seinen Freunden und Geliebten.
Dabei ist es gar nicht mal so spannend, wie die an sich übersichtliche Handlung vorangetrieben wird, sondern wie Djians Alter Ego seine inneren Kämpfe bestreitet, sein Gefühlschaos beschreibt, seine Beziehungen zu den Frauen in seinem Leben, zu seiner Arbeit und den Menschen um ihn herum, die ihm so viel Energie zu rauben scheinen. All das hat Djian wie gewohnt meisterhaft in eine glasklare Sprache gegossen und mit faszinierenden Beobachtungen über das Leben, die Liebe und die Kunst angereichtert.

Philippe Djian – „Verraten und verkauft“

Mittwoch, 4. Januar 2017

(Diogenes, 424 S., Tb.)
Fünf Jahre nach Bettys Tod ist es um Karriere des als Schriftsteller arbeitenden Ich-Erzählers nicht allzu rosig bestellt. Als er den 62. Geburtstag seines von ihm verehrten und mit ihm in einem Haus lebenden Dichter Henri ausrichtet, steckt sein Konto tief in den roten Zahlen. Händeringend wartet er auf den nächsten Scheck seines Verlegers, damit er endlich die Außenstände beim Lebensmittelhändler begleichen und seinen Mercedes aus der Werkstatt abholen kann, der dort seit einem Monat verweilt. Gemeinsam machen sich Henri und er auf die Suche nach Henris Tochter Gloria, die vor drei Monaten mit einem Gebrauchtwagenhändler durchgebrannt ist, was für Henri umso schwerer wiegt, als dass seine Frau Marlène ebenfalls mit einem Gebrauchtwagenhändler abgehauen war.
Doch als sie Gloria wieder zu sich holen – mit ihrem Freund im Gepäck – entspannt sich die Lage kaum. Der Ich-Erzähler unterhält eine komplexe Beziehung zur quirligen Tochter seines besten Freundes, die aus ihrer Verachtung ihm gegenüber keinen Hehl macht. Als dann auch Henris Ex-Frau Marlène wieder auftaucht, mit der der Autor immer wieder Sex hat, und ein Kritiker („Dingsbums“) alles daran setzt, seinen Ruf zu zerstören, wird das Leben nicht gerade einfacher.
Immerhin fangen sich auf einmal seine Bücher zu verkaufen, und die größeren und häufiger eintrudelnden Schecks sorgen für eine ungewohnt entspannte Lebenssituation.
„Ich hatte keine Lust zu reden, und sie redete nicht. Ich hatte keine Lust, mich zu bewegen, und sie bewegte sich nicht. Ich strich ihr eine Strähne hinters Ohr, und sie fasste nach meiner Hand. In der anderen hielt ich das Glas. Leider steht zu befürchten, dass ich nicht das Glück haben werde, in solch einem Moment zu sterben. Das macht aber nichts.“ (S. 191) 
Nach „Erogene Zone“ und „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ stellt „Verraten und verkauft“ den Abschluss einer Trilogie dar, in der der Franzose Philippe Djian über das Leben, die Liebe und das Schreiben sinniert, eingebettet in eine wundervolle Geschichte, die ihren Ausgang in einer außergewöhnlichen Männer- und Autoren-Freundschaft nimmt und über einen Road Trip zu den Tücken von Erfolg, Missgunst und Verrat führt.
Dabei hat der Ich-Erzähler selbst keinen geringen Anteil. Er sonnt sich im plötzlich auftretenden Erfolg, teilt mit dem zwanzig Jahre älteren Henri seine Not ebenso wie seinen Geldsegen, er lässt sich auf Affären sowohl mit Gloria als auch Marlène ein und unterhält ein schwieriges Verhältnis zu seinen Schriftstellerkollegen.
„Verraten und verkauft“ steckt voller Tempo, Witz, Erotik und immer wieder eingestreuten Lebensweisheiten eines coolen Schriftstellers, der stets um einen perfekten Stil bemüht ist und zu Frauen eine ganz besondere Beziehung unterhält. Zwar steht Djian eindeutig in der Tradition seiner literarischen Vorbilder Richard Brautigan, Henry Miller, Jack Kerouac und Jerome David Salinger, hat aber seinen ganz eigenen Ton in einer Welt gefunden, in der Liebe und die Kunst oft komplex miteinander verschlungen sind.

Philippe Djian – „Erogene Zone“

Mittwoch, 28. Dezember 2016

(Diogenes, 330 S., Tb.)
Der 34-jährige Schriftsteller Philippe Djian befindet sich gerade in einer extrem produktiven Schaffensphase, auf gut 100 vollgekritzelte Seiten kann er in den letzten Tagen zurückblicken, da schneit ihm die 18-jährige Cécilia auf der Flucht vor einem Mann ins Haus und bringt Djian fast um den Verstand. Doch das ist nicht die einzige Frau, die das Leben des Schriftstellers in kürzester Zeit aus den Fugen platzen lässt. Auf der Geburtstagsfeier seiner guten Freundin Annie, die zugleich die Schwester seines eigentlich einzigen Freundes Yan ist, trifft er auch Nina wieder, mit der noch vor ein paar Monaten zusammen gewesen ist und die er nach wie vor für das schönste Mädchen hält, das er je gehabt hatte.
Sie bittet ihren Ex, auf ihre achtjährige Tochter Lili aufzupassen, da sich Lilis Vater scheinbar nicht wie abgesprochen um das Mädchen kümmern kann, wenn Nina sich im Krankenhaus einer OP unterziehen muss.
Mit zwei jungen Mädchen im Haus lässt es sich nun gar nicht mehr so flott arbeiten, und der Schriftsteller ist ziemlich angefressen, als er erfahren muss, dass Nina gar nicht im Krankenhaus liegt, sondern einfach das Weite gesucht hat …
„Ich setzte mich wieder an die Arbeit, während alle anderen ausgingen, um sich zu amüsieren und um zu bumsen, und ich, ich hatte nicht die geringste Gelegenheit, das eines Tages nachzuholen, das war schon ziemlich beschissen, und wo ich einmal dabei war, fragte ich mich, was Nina eigentlich trieb, warum sie nicht da war. Ich verfasste auf die Schnelle ein kleines, wütendes Gedicht über die Unannehmlichkeiten, die das Zusammenleben mit sich bringt, aber es gelang mir nicht, das Problem erschöpfend zu behandeln.“ (S. 187) 
Bevor der französische Autor Philippe Djian den internationalen Durchbruch mit dem durch Jean-Jacques Beineix erfolgreich verfilmten Roman „Betty Blue, 37,2 Grad am Morgen“ schaffte, legte er mit dem Erzählband „50 gegen Einen“ und den Romanen „Blau wie die Hölle“ und „Erogene Zone“ mehr als nur stilistische Fingerübungen vor.
„Erogene Zone“ enthält bereits alle Zutaten, die Djians Werk bis heute auszeichnen, wobei der Ich-Erzähler manchmal Djians Namen trägt oder auch nicht, aber stets als Alter Ego des Autors fungieren darf.
In diesem Fall müht sich Philippe Djian als Getriebener zwischen seinem Werk als Schriftsteller und seiner Liebe zu den Frauen. Der Leser merkt schnell, dass beides schwer zu vereinbaren ist, aber manchmal dienen die Frauen ihm auch als Muse und nicht als erotische Verführungen. Wie der Ich-Erzähler dabei immer mal wieder betont, geht es ihm vor allem um den richtigen Stil, und hier erweist sich Djian tatsächlich als Meister der klaren, direkten Worte, der kraftvollen Sprache, die die Handlung und die schnittigen Dialoge wirbelnd vorantreibt.
Das Ringen um den treffenden Satz, die passende Beschreibung ist bei Djian und seinem Alter Ego ebenso zu spüren wie seine Leidenschaft für die Frauen, und seine Beschreibungen der erotischen Begegnungen sind ganz und gar nicht pornographisch, sondern demonstrieren nur sein Ringen um das Glück, das ihm Frauen bescheren.

Philippe Djian – „Ich arbeitete für einen Mörder“

Samstag, 3. Januar 2015

(Diogenes, 247 S., HC)
Nach einem Unfall in der Chemiefabrik in der französischen Kleinstadt Hénochville sind Geschäftsführer Marc und sein langjähriger Freund Patrick um Schadensbegrenzung bemüht. Während Marc den Inspektor, der den Vorfall untersucht, mit einer Tasche voller Geld und dem Freudenmädchen Laurence besticht, klappert Patrick die Bauernhöfe, die ihn oft genug bereits mit einem Korb mit toten Fischen empfangen, entlang des Flusses ab und versucht ihre Gemüter mit Steakplatten und anderen Lebensmittelzuwendungen zu beruhigen.
„Ich arbeitete für einen Mörder“, denkt sich Patrick, doch versteht er es nicht, einen Ausweg aus seinem ganz persönlichen Dilemma zu finden. Während er sich von Marc für alles einspannen lässt, was der Firma und Marc selbst die Rettung bescheren könnte, liegt auch Patricks eigenes Leben in Trümmern. Seit seine Frau ihn verlassen hat, unterhält er mit seiner Nachbarin Jackie eine sporadische sexuelle Beziehung, von der ihr Mann Thomas natürlich nichts ahnt.
Als versehentlich die Wohnung inseriert wird, die nach dem Tod seiner Mieterin frei geworden ist, bringt die aus Irland stammende Eileen weitere Verwirrung in Patricks Leben. Zunächst kommunizieren die beiden nur über kleine Briefchen. Schließlich lädt er die junge Frau zu einem Picknick ein, zu dem sich Thomas und Jackie mit Marc und Patrick verabredet haben. Allerdings verläuft das Treffen anders als erwartet: Marc bringt zu dem Picknick nämlich noch einen Überraschungsgast mit: im Kofferraum seines Wagens liegt der mit Schlafmitteln betäubte Inspektor, nachdem ihn Laurence aus Notwehr niedergeschlagen hatte.
Als schließlich sintflutartiger Regen die Hütte wegzuschwemmen droht, liegen die Nerven bei einigen Kurzurlaubern ziemlich blank …
„Der Fluss hatte eine hypnotisch beruhigende Wirkung. Es war nicht nötig, große Pläne zu machen und auf totale Befreiung zu hoffen. Man musste jedesmal all seine Kräfte zusammennehmen, um einen Schritt voranzukommen. Da war kein Opfer, das nicht zu erbringen war. Man gab nie alles, was man hatte. Wenn ein Problem bewältigt war, tauchte ein neues auf.“ (S. 230) 
Philippe Djian hat bereits in seinen früheren Werken (u.a. in „Blau wie die Hölle“, „Rückgrat“ und „Verraten und verkauft“) eine Meisterschaft darin entwickelt, die persönlichen Nöte seiner Protagonisten auf ebenso psychologisierende wie humorvolle Weise in Geschichten zu gießen, die letztlich kaum dazu angedacht waren, die Probleme zielorientiert zu lösen.
In „Ich arbeitete für einen Mörder“ reicht eine fast kammerspielartige Bühne, denn bis auf wenige Ausnahmen spielt sich die Geschichte nur in Patricks Haus und um die Hütte herum ab, in der die Freunde ein Wochenende verbringen. Hier spitzt sich nicht nur die Beziehung zwischen Patrick und Marc zu, der mit dem gekidnappten Inspektor seinem kriminellen Spektrum eine weitere brisante Komponente hinzufügt, sondern auch zwischen Patrick und Jackie, die eifersüchtig beobachten muss, wie Patrick und Eileen einander näherkommen. Das Unwetter mag stellvertretend für die Turbulenzen stehen, die Patrick mit seinen Problemen verursacht, die er aber auch nicht in den Griff bekommt.
Djian erweist sich einmal mehr als Autor, der seinen Figuren ein interessantes Leben einzuhauchen versteht, der mit scharfzüngigen Dialogen und geschliffener Sprache einen faszinierenden Sog erzeugt, der den Leser bis zur letzten Seite fesselt.

Philippe Djian – „Oh …“

Dienstag, 4. November 2014

(Diogenes, 231 S., HC)
Die Pariser Filmproduzentin Michèle hat einiges um die Ohren. Nicht nur, dass sie sich Tag für Tag mit miserablen Drehbüchern von Männern herumschlagen muss, die jede Kritik an ihren genialen Stücken als persönlichen Affront betrachten, auch in privater Hinsicht stellt ihr Leben derzeit kein Zuckerschlecken dar. Dass sie von einem maskierten Mann in ihrer eigenen Wohnung vergewaltigt worden ist, kann sie nur ihrer Freundin Anna anvertrauen, mit der sie die Filmproduktionsfirma leitet und mit deren Mann Robert sie seit einiger Zeit eine Affäre unterhält.
Ihr eigener Ex-Mann Richard vergnügt sich derweil mit der unverheirateten wie jungen Hélène, ihr gemeinsamer Sohn Vincent erkennt mit seinen 24 Lebensjahren immer noch nicht den Ernst des Lebens und glaubt, mit seinem Job bei McDonald’s sich und Josie unterhalten zu können, die gerade das Kind eines anderen Mannes austrägt. Zu allem Überfluss plant ihre 75-jährige Mutter nach etlichen Schönheitsoperationen noch einmal einen viel jüngeren Mann heiraten zu können, während ihr Vater im Gefängnis verrottet, nachdem er in den 80er Jahren sämtliche Kinder eines Micky-Clubs abgeschlachtet hatte.
Einzig ihr verheiratete Nachbar, der bislang so unauffällige Bankmanager Patrick, scheint etwas Licht in ihr anstrengendes Leben zu bringen.
„Ich habe in meinem Leben ja so manchen seltsamen Mann kennengelernt, aber Patrick bricht alle Rekorde. Trotzdem gefällt er mir. Ich möchte dieser Geschichte augenblicklich ein Ende setzen, jetzt sofort jeglichen Kontakt abbrechen, denn mit einem Mann, der so kompliziert, so unberechenbar ist, kann man sich nur Ärger einhandeln, andererseits fühle ich mich noch nicht so alt, dass ich nicht noch einige außergewöhnliche Abenteuer erleben könnte, ich fühle mich durchaus noch dazu imstande – denn so kurz kann das Leben nicht sein, denke ich mir.“ (S. 138) 
Seit Philippe Djian mit erotisch knisternden Romanen wie „Betty Blue – 37,2° am Morgen“, „Erogene Zone“ und „Rückgrat“ für Furore am internationalen Literaturmarkt gesorgt hat, etablierte er sich in der Folge mit weiterhin sehr lebendig geschriebenen, rasant erzählten Romanen, in denen es immer irgendwie um die Tücken des Lebens, die Schwierigkeiten in der Liebe und der Kunst, hin und wieder auch um Verbrechen geht.
Auch sein neuer Roman „Oh …“ stellt ein solches überbordendes Sammelsurium an teils neurotischen, teils ganz normalen Menschen dar, die in Situationen hineinmanövriert werden, die außerhalb ihrer Geschicke liegen, aber nicht ohne Einfluss auf ihr eigenes Schicksal bleiben.
Es ist bezeichnend für „Oh …“, dass Djian den kurzen Roman seinem Publikum ohne Kapiteleinteilungen in einem Guss serviert, denn Zeit zu verschnaufen haben weder die von allen Seiten attackierte Ich-Erzählerin noch Djians Leser, die mit Michèle von einer kuriosen Situation in die nächste taumeln.
Djians lakonischer Humor, sein feines Gespür für die allzu menschlichen Schwächen und für bei allen kuriosen Wendungen doch irgendwie lebensnahen Geschichten machen „Oh …“ zu einem extrem kurzweiligen Lesevergnügen, das zurecht 2012 mit dem Prix Interallié ausgezeichnet worden ist.
Leseprobe Philippe Djian - "Oh …"

Philippe Djian – „Wie die wilden Tiere“

Samstag, 2. November 2013

(Diogenes, 227 S., HC)
Als der bildende Künstler Marc in einer Metro ein völlig betrunkenes und vollgekotztes Mädchen aufliest und mit nach Hause in seine am Strand liegende Villa nimmt, füllt er damit nicht nur den geräumigen Wohnsitz, sondern auch die Leere, die dort nach dem Aufsehen erregenden Selbstmord seines achtzehnjährigen Sohnes Alexandre und der Trennung von seiner Frau Elisabeth entstanden ist.
Marc versteht selbst nicht, warum er die junge Frau unter seine Fittiche genommen hat, zumal sie am nächsten Tag schon wieder verschwunden ist und sein Haus völlig verwüstet zurückgelassen hat, aber er ahnt wohl, dass ihr gutes Aussehen sicherlich eine Rolle spielte. Kaum taucht Gloria wieder auf, zieht sie bei Marc ein. Er erfährt, dass sie die Alexandres Freundin gewesen ist, und bekommt durch ihre Erzählungen endlich einen Einblick in das Leben seines Sohnes, um den er sich zu wenig gekümmert hat. Marcs beste Freunde Michel und Anne warnen ihn allerdings vor dem Mädchen, von der niemand etwas weiß. Michel ist nicht nur Marcs Agent, mit seiner Frau Anne unterhielt Marc eine leidenschaftliche Affäre, bevor sie mit Michel zusammengekommen ist. Nun sehnt sie sich nach dem großartigen Sex mit Marc zurück, während sich Michel mit Erektionsstörungen herumplagt. Marc fällt es sichtlich schwer, ein besonnenes Verhältnis zu ihnen zu bewahren.
„Ich beobachtete sie einen Moment von draußen, Anne, wie sie Kartons mit dem Cutter aufschnitt, und ihn, wie er sich den Inhalt besah, und beide zusammen, wie sie beeindruckt den Kopf schüttelten, bevor sie sich dem nächsten Foto zuwandten. Michel kauerte auf dem Boden, und Anne ließ eine Hand auf seiner Schulter ruhen. Wenn ich an den Weg zurückdachte, den wir gemeinsam gegangen waren, eine dreißig Jahre lange Reise, erfüllte mich diese Hand mit Zuneigung für die zwei – ich erinnerte mich vor allem daran, wie sie mir geholfen hatten, alle möglichen Schicksalsschläge zu überwinden, wie wir uns stets gegenseitig zur Seite gestanden waren und was für ein phantastisches Bollwerk wir damit um uns aufgebaut hatten. Danach überkam mich ein anderes Gefühl, nämlich, dass diese Dreiecksbeziehung uns erdrückte, lähmte, blind machte – Julia hatte sich trotz ständiger Vorsichtsmaßnahmen immer ausgeschlossen und gekränkt gefühlt -, dass dieses Trio gar nicht so gut funktionierte, wenn man bedachte, wie extrem kräftezehrend unser Verhältnis letztlich war.“ (S. 144) 
Michel und Anne bedrängen Marc zunehmend, Gloria nicht zu nah an sich heranzulassen. Während Michel schon Ermittlungen über sie anstellen will, kann Anne die Vorstellung nicht ertragen, dass Marc mit der jungen Frau vielleicht sogar das Bett teilt. Als Gloria erneut spurlos verschwindet, verdächtigt Marc sogar seinen besten Freund, etwas damit zu tun zu haben …
Seit dem Durchbruch mit seinem dritten Roman „37,2° am Morgen“ (1985) haben es dem französischen Autor Philippe Djian vor allem die Lebenskünstler angetan, die unter Drogen- und Alkoholeinfluss ihre Schreibblockaden, emotionalen Irrungen und Wirrungen und vorwiegend sexuellen Leidenschaften in den Griff zu bekommen versuchen. Daran hat sich auch ein Vierteljahrhundert später nicht viel verändert. Wie in vielen seiner Werke funktioniert auch in Djians „Wie die wilden Tiere“ der Ich-Erzähler Marc nur in der Ausübung seiner Kunst, scheitert aber kläglich auf sozialem Terrain. In dieser Hinsicht bietet „Wie die wilden Tiere“ wenig Neues. Das Setting ist ganz vertraut, die Geschichte geht schon mal merkwürdige, nicht immer nachvollziehbare Wege, der Ton ist von Djian-typischer Deutlichkeit, der Stil unverblümt und rasant. Große psychologische Einsichten in die einzelnen Figuren darf man auf den gut 220 Seiten ebenso wenig erwarten wie überraschende Wendungen und Erkenntnisse. Das ist trotz des hohen Tempos nicht wirklich berauschend, aber ein kurzweiliges Lesevergnügen bietet auch dieses kleine Buch allemal. Leseprobe Philippe Djian - "Wie die wilden Tiere"