(Diogenes, 220 S., Tb.)
Obwohl Jim Thompson (1906-1977) bereits Anfang der 1940er Jahre einen Haufen Romane zu veröffentlichen begann (allein zwölf in den Jahren 1952-54), war dem alkoholkranken Schriftsteller lange Zeit kaum Erfolg beschieden. Das änderte sich erst mit seinen beiden Drehbüchern zu den Stanley-Kubrick-Filmen „Wege zum Ruhm“ und „Die Rechnung ging nicht auf“ sowie dem 1959 veröffentlichten und 1972 von Sam Peckinpah mit Steve McQueen und Ali McGraw verfilmten Roman „Getaway“.
Dank des korrupten Vorsitzenden des Begnadigungsausschusses, Benyon, wird der vierzigjährige Carter „Doc“ McCoy frühzeitig aus dem Gefängnis entlassen, schuldet dem korrupten Lokalpolitiker allerdings 15.000 Dollar, die er durch einen wohlüberlegten Überfall auf eine kleine Bank in Beacon City besorgen will. Die ist nicht der Bundeszentralbank angeschlossen, so dass die Bankräuber nichts ins Visier des FBI geraten. Bei dem Coup sind McCoy nicht nur seine vierzehn Jahre jüngere Frau Carol, sondern auch der paranoide und gerissene Gangster Rudy Torrento und dessen nervöser Gehilfe Jackson mit an Bord. Torrento bringt Jackson noch während des Überfalls um – je weniger Beteiligte sich die Beute teilen müssen, desto besser. Nachdem der erfolgreiche Überfall hundertvierzigtausend Dollar in bar und weitere zweihunderttausend in Papieren eingebracht hat, kommt es auch zwischen Doc und Torrento zu einer nahezu tödlichen Auseinandersetzung. Der totgeglaubte Torrento lässt sich von einem Veterinär zusammenflicken, nimmt ihn und dessen Frau als Geiseln und macht sich auf die Jagd nach McCoy. Der wiederum will zunächst seine Schulden bei Benyon begleichen und dann nach Mexiko fliehen. Durch einen verhängnisvollen Fehler seiner Frau muss McCoy die Flucht aber neu organisieren, was vermehrt zu Spannungen und Misstrauen zwischen dem Paar führt. Mittlerweile hängt ihnen nicht nur Torrento, sondern auch die Polizei an den Fersen…
„Doc hatte das Gefühl, sich haltlos im Kreis zu drehen. Sosehr es ihn auch drängte, Carol zu glauben – die Zweifel wollten sich nicht ausräumen lassen. Er gestand sich, dass dieser fast krankhafte Argwohn Teil seines Wesens war. Als Berufsverbrecher konnte er es sich einfach nicht leisten, jemandem völlig zu vertrauen. Und Untreue grenzte in seiner Vorstellung an Verrat und war entweder ein Zeichen für eine gefährliche Charakterschwäche oder für einen Treuebruch, was nicht minder gefährlich war. Jedenfalls bildete die Frau ein Risiko in einem Spiel, das kein Risiko duldete.“ (S. 86)
In erster Linie scheint Jim Thompson, der als kurzweiliges Mitglied der kommunistischen Partei unter der McCarthy-Ära zu leiden hatte und als Alkoholschmuggler seine eigenen Erfahrungen mit einem Leben am Rande der Legalität sammelte, in „Getaway“ die Flucht eines Ehepaars zu beschreiben, das sich in den vier Jahren, die Doc McCoy im Zuchthaus verbrachte, nicht nur entfremdet hat, sondern sich während der Flucht und des Carols nahezu unverzeihliches Missgeschick die Beute zwischenzeitlich an einen Betrüger aus den Augen verloren zu haben, immer wieder versichern muss, dass die Beziehung noch funktioniert, dass man einander vertraut und liebt, folglich unentbehrlich für einander ist.
Doch Thompson nutzt seine Gangster-Ballade auch dazu, ein äußerst düsteres Bild eines Staates zu zeichnen, in dem sich die meisten Menschen in öden Jobs abrackern müssen, um halbwegs über die Runden zu kommen. Wie konträr sich die hart arbeitende Bevölkerung und die Gangster gegenüberstehen, macht Thompson schon zu Beginn deutlich, wenn er Doc McCoy unter falschem Namen im Beacon City Hotel charmant mit großzügigen Trinkgeldern um sich werfen lässt, während ihm die Hotelangestellten unterwürfig jeden Wunsch von den Lippen abzulesen versuchen.
Die Vorbereitung und die Durchführung des Banküberfalls nimmt in gebührender Kürze geschildet und bildet für Thompson nur die Ausgangssituation, nach der sich nicht nur McCoy und Torrento misstrauisch beäugen, sondern vor allem McCoy und Carol den Stand ihrer Ehe auf den Prüfstein stellen. Indem der Autor immer wieder geschickt die Perspektiven wechselt, macht er deutlich, aus welch unterschiedlichen Welten die beiden stammen. Carol wird beispielsweise als ehemalige Bibliothekarin beschrieben, die bei ihren spießigen Eltern in einem leblosen Zuhause lebte, einem leblosen Job nachging und in ihrem altjüngferlichen Dasein einigelte. McCoy ist dagegen durch und durch ein Verbrecher mit Leib und Seele.
Die Spannung des gerade mal 220-seitigen Romans ergibt sich fast schon weniger aus der Frage, ob dem Paar die Flucht nach Mexiko gelingt, sondern ob die beiden das Ziel wohl gemeinsam erreichen oder ob einer der beiden lieber eigene Wege geht. Bemerkenswert ist zudem, wie Thompson das Verbrecher-Milieu mit dem des Arbeiter-Milieus vergleicht, mit einer ausgeprägten Arbeitsmoral, nach der Dinge einfach getan werden müssen, und einem Ehrenkodex, nach dem man Freunde nicht im Stich lässt. Dass das Verbrechertum allerdings auch nicht ein unbeschwertes Leben garantiert, müssen Thompsons Protagonisten auf die harte, oft tödlich endende Tour erfahren.
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