Peter Straub – (Blaue Rose: 4) „Der Schlund“

Sonntag, 2. Mai 2021

(Heyne, 812 S., Tb.) 
Der aus der Kleinstadt Millhaven, Illinois, stammende Tim Underhill schrieb nach seiner Entlassung aus der Army, für die er in Vietnam gedient hatte, in Bangkok einen Roman namens „The Divided Man“ geschrieben, in dem er die als „Blaue Rose“ benannte Mordserie in seiner Stadt fiktional verarbeitete. Während die Morde vor dreißig Jahren ungelöst blieben, hat Underhill in seinem Roman den Alkoholiker und Detective William Damrosch unter einem anderen Namen als Täter identifiziert. Schließlich wurde die Leiche des Detectives in seiner Wohnung gefunden, neben ihm ein Zettel mit den Worten „Blaue Rose“ auf seinem Schreibtisch. 
Zusammen mit Peter Straub schrieb er mit „Koko“ und „Mystery“ zwei weitere Bücher im Zusammenhang mit den „Blaue Rose“-Morden, womit das Kapitel für ihn abgeschlossen schien. Doch dann erreicht den seit sechs Jahren in New York lebenden Schriftsteller die Nachricht seines alten Bekannten John Ransom, der nach wie vor in Millhaven lebt und dem Autor von dem Überfall auf seine Frau April erzählt, die zusammengeschlagen wurde und nun im Koma im Krankenhaus liegt. Der Täter, der sein Opfer wohl tot wähnte, hatte über ihrem Körper die Worte „Blaue Rose“ an die Wand gekritzelt. Der Schriftsteller kehrt auf seinen Wunsch nach Millhaven zurück, erinnert sich daran, wie seine zwei Jahre ältere Schwester April im Alter von neun Jahren ermordet wurde, und auch an die ersten „Blaue Rose“-Morde zu jener Zeit. 
Zu den Opfern zählten eine sechsundzwanzigjährige Prostituierte, die beiden Männer James Treadwell und Monty Island sowie der Fleischer Heinz Stenmitz. Im „Ledger“ wurde der Zusammenhang zwischen Stenmitz und seiner Vorliebe für kleine Jungen mit Damrosch aufgedeckt, der ebenfalls als Pflegekind in der Fleischerfamilie zum Opfer wurde und sich offensichtlich später an ihm auf blutige Weise rächte. Für Underhill ist die Rückkehr nach Millhaven ebenso mit Furcht verbunden wie seine Zeit in Vietnam, und er hofft, durch seine Ermittlungen bei der Rückkehr des „Blaue Rose“-Mörders auch zu erfahren, wer damals seine Schwester getötet hatte. 
John Ransom lehrte wie sein Schwiegervater Alan Brookner am Arkham College, stand aber stets im Schatten des berühmten Religionswissenschaftlers, der geistig aber nicht mehr ganz auf der Höhe ist und gar nicht mitbekommen hat, was mit seiner Tochter geschehen ist. Mittlerweile scheint es erwiesen zu sein, dass Damrosch nicht Blaue Rose gewesen sein kann, denn die Blaue Rose ist nicht nur nach Millhaven zurückgekehrt, sondern tötet ihre Opfer an denselben Orten wie vor vierzig Jahren. Zusammen mit dem passionierten Privatermittler Tom Pasmore machen sich Tim Underhill und John Ransom auf die Spurensuche, die zu den Eigentümern des St. Alwyn Hotels ebenso führt wie zurück nach Vietnam … 
„Ein einziger Blick auf der Straße hatte mir einen Moment erschlossen, eine Reihe von Momenten, die ich vor vierzig Jahren in eine Truhe gesperrt hatte. Eine Kette nach der anderen hatte ich um diese Truhe geschlungen und sie dann in einen seelischen Brunnenschacht gestürzt. Seither hatte sie dort gegärt und Blasen geworfen. Zu den Gefühlen, die aus mir hervorbrachen, gehörte auch das Staunen - denn das war mir geschehen, mir, und ich hatte es absichtlich und für mich höchst verderblich völlig verdrängt.“ (S. 715) 
Mit „Der Schlund“ bringt Peter Straub nach „Blaue Rose“, „Koko“ und „Mystery“ sein Magnum Opus um die „Blaue Rose“-Morde zu einem spektakulären Abschluss. Noch mehr als die Vorgänger-Bände erweist sich das 1993 veröffentlichte 800-Seiten-Epos als immens komplexes Kriminaldrama, das ganz ohne übernatürliche Elemente auskommt, dafür aber ein paar eindringliche Halluzinationen im Zusammenhang mit der Vietnam-Vergangenheit des Ich-Erzählers Tim Underhill zu bieten hat. 
„Der Schlund“ präsentiert sich auch deshalb so vielschichtig, weil es wie in den Film noirs der 1940er Jahre um ein raffiniertes Spiel mit Identitäten und Initialen geht, wobei der Film-noir-Klassiker „On Dangerous Ground“ am Ende sogar eine Schlüsselrolle spielt. Immer wieder scheint die Identität der Blauen Rose gelüftet worden zu sein, bis weitere Morde und Indizien auf einen anderen Täter verweisen. Wer erst einmal die etwas umständlich wirkende Einführung hinter sich hat, wird mit einem packenden, atmosphärisch dichten und extrem wendungsreichen Krimi-Drama belohnt, das zu den besten Werken aus der Feder des Horror-Autors („Geisterstunde“, „Der Hauch des Drachen“) zählt. 

 

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