Stephen King – „Jahreszeiten: Frühling & Sommer“

Dienstag, 27. August 2019

(Bastei Lübbe, 352 S., Tb.)
Ende August 1947 erfuhr der leitende Bankangestellte Andy Dufresne, dass seine Frau Linda mit dem Golfprofi Glenn Quentin eine Affäre hatte. Nach einem heftigen Streit und Lindas Wunsch nach einer Scheidung in Reno wurde das Liebespaar in Quentins Liebesnest erschossen aufgefunden. Die Jury sah es als erwiesen an, dass Dufresne seine Frau und ihren Liebhaber mit je vier Schüssen niederstreckte, nachdem er sich zwei Tage vorher in der Pfandleihe eine Waffe gekauft und eine hohe Lebensversicherung für sich und seine Frau abgeschlossen hatte, durch die er 50.000 Dollar bei einem Freispruch erhalten würde. Stattdessen wurde Andy, der stets seine Unschuld beteuert hat, im Alter von dreißig Jahren zu einer lebenslangen Haft in Shawshank verurteilt, wo er sich mit Red anfreundet, einem Mann, der wegen Mordes an seiner Frau einsitzt und für die Häftlinge alles Mögliche besorgt, Pralinen, Alkohol, Pornomagazine und Scherzartikel.
Andy fragt Red nach einem Gesteinshammer und Poliertüchern, mit denen er Steine bearbeiten kann, dann nach einem Poster mit Rita Hayworth, die über die Jahre anderen Pin-up-Girls wie Jane Mansfield und Raquel Welch weichen muss. Als Andy 1963 durch einen Mitgefangenen einen Hinweis darauf bekommt, dass seine Unschuld bewiesen werden könnte, macht ihm der Gefängnisdirektor Norton allerdings einen Strich durch die Rechnung, und Andy verfolgt ernsthafte Pläne für einen Ausbruch …
„Er hatte fünfhundert Dollar im Arsch stecken, als er reinkam, aber irgendwie hat der Kerl noch etwas anderes mit reingebracht. Vielleicht ein gesundes Selbstwertgefühl oder die Ahnung, dass er auf lange Sicht gewinnen würde … Vielleicht war es auch ein Gefühl der Freiheit, das ihn innerhalb dieser gottverdammten grauen Mauern nicht verließ. Er trug eine Art inneres Licht mit sich herum.“ (S. 50) 
Mit der vier Novellen umfassenden „Jahreszeiten“-Anthologie hat Stephen King 1982 den eindrucksvollen Beweis angetreten, dass er nicht einfach nur der erfolgreichste Horror-Schriftsteller aller Zeiten, sondern einfach ein guter Geschichtenerzähler ist. „Pin-up“ ist eine wunderbare Geschichte über Hoffnung und Freundschaft, und die 1994 durch Frank Darabont erfolgte Verfilmung unter dem Titel „Die Verurteilten“ zählt bis heute fraglos zu den besten Stephen-King-Verfilmungen überhaupt – ohne auch nur eine Spur von übersinnlichen Elementen in sich zu tragen. Stattdessen gibt sich King viel Mühe, den Gefängnisalltag in Shawshank, die Beziehungen der Insassen untereinander eindrücklich zu beschreiben. Am meisten Raum nehmen die Erinnerungen des Ich-Erzählers Red über Andy Dufresne ein, der sich mit seiner ernsten, unaufdringlichen Art nicht nur gegen die sexuellen Übergriffe der „Schwestern“ zur Wehr gesetzt hat, sondern auch die Bestände der Bibliothek aufgestockt den Wärtern bei ihren Steuererklärungen und Investitionsplänen ausgeholfen hat.
In „Der Musterschüler“ entdeckt der 13-jährige Todd Bowden, dass sein Nachbar Arthur Denker der gesuchte NS-Verbrecher Kurt Dussander ist. Nachdem er ihm eine Zeitlang hinterherspioniert und Fotos von dem ehemaligen Kommandanten des Vernichtungslagers Patin gemacht hat, stellt er ihn zuhause zur Rede und erpresst ihn dazu, ihm alles über die begangenen Verbrechen zu erzählen. Todd ist so fasziniert von den Erzählungen des alten Mannes, dass seine zuvor hervorragenden schulischen Leistungen darunter zu leiden beginnen. Die Beziehung zwischen Todd und Dussander entwickelt eine gefährliche Eigendynamik, denn beide beginnen unabhängig voneinander, Obdachlose zu töten … „Der Musterschüler“, 1998 von Bryan Singer verfilmt, fesselt vor allem durch die psychologische Spannung, die zwischen dem bislang unentdeckten Kriegsverbrecher und dem neugierigen Jungen über die Jahre entsteht, bis aus dem Jungen ein junger Mann wird, der durch die Erzählungen des Alten selbst zum Morden animiert wird. 

Stephen King – „Jahreszeiten: Herbst & Winter“

Montag, 26. August 2019

(Bastei Lübbe, 332 S., Tb.)
Vern Tessio, Teddy Duchamps, Gordie Lachance und Chris Chambers verbringen im Sommer 1960 ihre Ferien überwiegend in einem Baumhaus auf einem unbebauten Grundstück in Castle Rock, wo sie Blackjack mit niedrigen Einsätzen spielen und „Master Detective“-Mordgeschichten lesen. Doch die Ferienroutine wird auf aufregende Weise unterbrochen, als Vern eines Nachmittags völlig aufgelöst am Baumhaus eintrifft und seinen Freunden von dem Gespräche berichtet, die sein Bruder Billy mit dessen Freund Charlie Hogan geführt hat: Offensichtlich haben sie den vor drei Tagen im vierzig Meilen entfernten Chamberlain verschwundenen Junge Ray Brower im Wald bei den Bahngleisen an der Harrow Road gefunden und darüber beraten, wie sie sich nun verhalten sollen. Die vier Freunde wissen jedenfalls, was sie zu tun gedenken: Sie erzählen ihren Eltern, dass sie gemeinsam zelten wollen, und machen sich auf den Weg zu der vermeintlichen Leichenfundstelle. 
„Wir waren alle ganz verrückt danach, die Leiche des toten Jungen zu sehen – einfacher und ehrlicher kann ich es nicht ausdrücken. Ob sie nun ganz harmlos aussehen oder uns mit tausend scheußlichen Träumen den Schlaf rauben würde, war uns gleichgültig. Wir wollten die Leiche sehen. Langsam waren wir so weit, dass wir glaubten, wir hätten es verdient.“ (S. 157) 
Allerdings sind die vier Jungs nicht die einzigen, die nach Browers Leiche suchen, auch Billy und Charlie machen sich mit ihrem Wagen auf den Weg zurück zu ihrem Fund …
Als sich Stephen King nach der erfolgreichen Veröffentlichung seines ersten Romans „Carrie“ mit seinem Redakteur Bill Thompson über ein mögliches zweites Buch sprach, hatte King bereits zwei Manuskripte fertig, von denen „Brennen muss Salem“ als nächster Roman erscheinen sollte – auch wenn Stephen King damit möglicherweise als Horror-Schriftsteller abgestempelt sein würde. Mit seinen nachfolgenden Romanen „Shining“, „Dead Zone – Das Attentat“, „The Stand – Das letzte Gefecht“, „Feuerkind“ und „Cujo“ bewies King schließlich, dass ein Schriftsteller auch nur mit Horrorgeschichten sein Geld verdienen kann, allerdings wollte er auch demonstrieren, dass er nicht nur solche Geschichten schreiben kann.
Mit „Jahreszeiten“ veröffentlichte King 1982 vier Novellen, mit denen der Autor bewies, dass er einfach ein begnadeter Geschichtenerzähler ist, der nicht auf übersinnliche Elemente zurückgreifen muss, um Spannung zu erzeugen. Aus dem ursprünglichen Paperbackband „Frühling, Sommer, Herbst & Tod“ wurden später zwei Taschenbücher, von denen „Die Leiche“ und „Atemtechnik“ im zweiten Band Verwendung fanden. „Die Leiche“ stellt eine wunderbare Coming-of-Age-Geschichte des Ich-Erzählers Gordie Lachance dar, der seine Erinnerungen an den erschreckenden Leichenfund mit zwei Geschichten garniert, die er nicht nur seinen Freunden unterwegs zum Besten gibt, sondern auch Zeugnis von seinen frühen Schriftsteller-Bemühungen ablegen. Vor allem beweist King mit dieser 1986 auch wunderbar von Rob Reiner verfilmten Geschichte, wie einfühlsam er sich in die Befindlichkeiten von Jungen in den 1960er Jahren hineinversetzen kann, um ihre viel zu frühe Begegnung mit dem Tod zu thematisieren.
Etwas drastischer geht es in der nur knapp 100 Seiten umfassenden Geschichte „Atemtechnik“ zu, in der ein New Yorker Anwalt erzählt, wie er in einen Herrenclub aufgenommen wird, in dem Männer sich zu lockeren Gesprächen treffen und vor allem am Donnerstag vor dem Weihnachtsabend unheimliche Geschichten erzählen. In diesem Fall gibt der Ich-Erzähler die Geschichte wieder, in der der Arzt Emlyn McCarron davon erzählt, wie er eine junge Frau auf die Geburt ihres Kindes vorbereitete, wobei er ihr eine besondere Atemtechnik beibringt, die später tatsächlich bei der ihrer Entbindung eine entscheidende Rolle spielen wird …
Auch mit „Atemtechnik“ demonstriert King, wie er sein Publikum im Nu zu fesseln versteht, und das überraschende wie erschreckende Finale bleibt dem Leser lange im Gedächtnis, auch wenn die Story gegenüber den anderen drei hervorragenden Novellen der Gesamt-Anthologie abfällt.

Stephen King/Peter Straub – „Der Talisman“

Donnerstag, 22. August 2019

(Heyne, 714 S., Pb.)
Seit der zwölfjährige Halbwaise Jack Sawyer mit seiner Mutter, der Schauspielerin und „B-Movie-Königin der 1960er Jahre“ Lily Cavanaugh, zunächst aus dem Haus am Rodeo Drive in Los Angeles in eine Mietwohnung nach New York und von dort aus in einen stillen Badeort an der Küste von New Hampshire geflüchtet ist, sind Ordnung und Regelmäßigkeit aus seinem Leben verschwunden. Warum seine Mutter auf der Flucht zu sein scheint, kann Jack nur vermuten. Offensichtlich hat seine sterbenskranke Mutter Probleme mit Morgan Sloat, dem ehemaligen Geschäftspartner seines bei einem Jagdunfall verstorbenen Vaters. Die Zeit im heruntergekommenen Hotel Alhambra Inn and Gardens versucht sich der Junge mit Ausflügen in den nahegelegenen Freizeitpark Arcadia Funworld zu vertreiben, wo sein schwarzer Freund Speedy Parker arbeitet. Durch ihn wird Jack mit der mystischen Welt der Territorien jenseits der uns vertrauten Realität bekannt gemacht und erfährt von den sogenannten Twinnern, Doppelgängern der Menschen aus unserer Welt.
So ist die über die Territorien herrschende Königin Laura DeLoessian die Twinnerin von Jacks Mutter und liegt ebenfalls im Sterben. Jack obliegt es, in den Westen zu reisen, um dort einen Talisman zu finden, mit dem nicht nur verhindert werden kann, dass Morgan von Orris, Twinner von Morgan Sloat, die Macht über die Territorien an sich reißt, sondern der auch das Leben seiner Mutter/der Königin retten soll. Zunächst hilft noch eine Flasche mit einem widerlich schmeckendem Gesöff Jack dabei, zwischen den Welten zu „flippen“, später reichen Gedanken daran aus. Unterwegs hat Jack aber einige Gefahren zu bestehen, denn Morgan von Orris und seine Schergen, vor allem der bösartige Sunlight Gardener, haben längst mitbekommen, dass ausgerechnet Jack Sawyer angetreten ist, seine diabolischen Pläne zu vereiteln. Dabei bekommt er unerwartete Unterstützung von einem friedfertigen, tapferen Wolf und seinem besten Freund Richard, dem realitätsverhafteten Sohn von Morgan Sloat …
„Jack war sich vage bewusst, dass er mehr versucht hatte, als nur seiner Mutter das Leben zu retten; dass er von Anfang an versucht hatte, etwas Größeres zu bewerkstelligen. Er hatte versucht, ein gutes Werk zu tun, und ihm war gleichermaßen vage bewusst, dass ein derart verrücktes Unterfangen immer Zähigkeit erzeugte.“ (S. 560) 
Als die beiden bekannten Horror-Autoren Stephen King und Peter Straub Ende der 1970er Jahre den Plan entwickelten, gemeinsam einen Roman zu schreiben, hatte sich King durch seine Bestseller „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und „The Stand“ bereits den Titel „King of Horror“ erworben, Peter Straub begann sich mit „Geisterstunde“ und „Schattenland“ einen Namen im Genre zu machen. Allerdings verzögerte sich das Projekt bis in die frühen 1980er Jahre. Die beiden Autoren wechselten sich beim Verfassen der einzelnen Kapitel ab, schrieben an den jeweiligen Anfängen und Enden aber gemeinsam, überarbeiteten die Kapitel des jeweils anderen und waren so bemüht, einen einheitlichen, neuen Stil zu kreieren.
Wie die einleitenden und abschließenden Zitate bereits nahelegen, ist das Fantasy-Epos vor allem von Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ beeinflusst, fraglos aber auch von klassischen Heldenepen, in denen Jungen durch eine abenteuerliche Mission zum Mann heranreifen. Die Geschichte von Freundschaft, Mut, Verrat, Angst und Tod ist weder neu noch originell, bis zum Ende sogar erschreckend vorhersehbar. Nervig ist vor allem die ausufernde Episode, in der Jack von Wolf begleitet wird, und auch sonst wartet „Der Talisman“ mit einigen unnötigen Längen auf.
Für Fantasy-Freunde ist „Der Talisman“ eine nicht unbedingt zwingende Empfehlung, Stephen Kings Zyklus um den „Dunklen Turm“ ist da weit packender und interessanter gelungen. Nichtsdestotrotz hat sich Steven Spielberg frühzeitig die Filmrechte gesichert, und nachdem das Projekt schon fast abgehakt zu sein schien, soll nach dem Erfolg von „Es“ nun Fernsehserien-Regisseur Mike Barker („The Handmaid’s Tale“, „Broadchurch“, „Fargo“) die längst überfällige Adaption von „Der Talisman“ übernehmen, dem King und Straub übrigens mit „Das schwarze Haus“ noch eine Fortsetzung angedeihen ließen.
Leseprobe Stephen King & Peter Straub - "Der Talisman"

Grégoire Delacourt – „Das Leuchten in mir“

Sonntag, 18. August 2019

(Atlantik, 266 S., Tb.)
Emma ist noch nicht ganz vierzig und seit achtzehn Jahren glücklich mit Olivier verheiratet, mit dem sie die drei wunderbaren Kinder Louis, Léa und Manon aufgezogen hat. Dass ihr trotzdem etwas in ihrem wohlgeordneten Leben in dem großen weißen Haus am Golfplatz von Bondues nahe Lille zu fehlen scheint, merkt sie erst beim Besuch in der Brasserie André, wo sie die Kulisse während des Hochbetriebs zur Mittagszeit an die Filme des von ihr so geschätzten Claude Sautet erinnert. Hier verliert sich ihr Blick auf dem Gesicht eines Mannes, der nicht merkt, dass er von einer Frau angesehen, augenblicklich sogar begehrt wird.
Als sie beobachtet, wie das nackte, ehrliche Gesicht des Mannes hinter einer weißen Baumwollserviette hervorkommt, ist es vorbei mit der Ruhe und dem Glück ihres bisherigen Lebens, ist ihr Dasein urplötzlich vom Feuer des Verlangens erfüllt.
An diesem ersten Tag hat er sie nicht mal bemerkt, später finden sich ihre Blicke, doch es vergehen ganze drei Wochen, bis sich Emma an den gerade freigewordenen Nachbartisch des Mannes setzt und sie sich einander vorstellen. Emma erfährt, dass das Objekt ihrer Begierde Alexandre heißt, ebenfalls verheiratet ist, aber keine Kinder hat – und seit drei Wochen an sie denkt. Beide sind sich sicher, ihr bisheriges Leben aufzugeben, zusammen wegzugehen, miteinander etwas Neues zu beginnen. Emmas beste Freundin Sophie, aber auch ihre Mutter sind entsetzt, doch Emma ist sich im Klaren, dass sie keine andere Wahl hat …
„Ich glaube, dass man wegen einer kleinen inneren Leere in die Liebe stolpert. Wegen eines kaum wahrnehmbaren Freiraums. Eines nie befriedigten Hungers. Das zufällige, mal charmante, mal brutale Auftauchen der Verheißung macht diese Kluft spürbar, lässt unsere Sehnsucht aufscheinen und stellt die als sicher und endgültig angesehenen Dinge wie Heirat, Treue, Mutterschaft in Frage; dieses unerwartete, geradezu mystische Auftauchen offenbart uns sogleich uns selbst, erschreckt uns auch, verleiht uns Flügel, schürt unseren Appetit, unseren Lebenshunger.“ (S. 21f.) 
Grégoire Delacourt („Der Dichter der Familie“, „Die Frau, die nicht alterte“) erzählt aus der Ich-Perspektive seiner Protagonistin eine ebenso leidenschaftliche und sinnliche wie dramatische und tragische Liebesgeschichte. Den Vernünftigen – die hier durch die Stimmen von Emmas Freundin Sophie, vor allem aber durch die ihrer Mutter vertreten sind – scheint Emmas Verhalten unmöglich und sogar schändlich. Wie kann eine erwachsene Frau mit einem – auch noch schwerkranken - Mann und drei jungen Kindern aus einer Laune heraus alles hinter sich lassen, ihren Liebsten solche Schmerzen bereiten?
Delacourt gelingt es, dieses gemeinhin unverständliche und unverzeihliche Gebaren seiner Anti-Heldin jedoch nachvollziehbar zu beschreiben. Emma ist durchaus bewusst, was sie ihrer Familie antut, doch ebenso deutlich ist ihr auch, dass es zu ihrer Entscheidung keine Alternative gibt, dass sie die plötzliche Leere, die sie entdeckt, mit einer neuen Liebe füllen muss. Interessant wird der Roman durch die unerwartete Wendung der Geschichte zur Mitte hin und die Auseinandersetzung mit Emmas Erinnerungen sowohl an ihren Mann als auch an den Geliebten, aber nun wirkt der Plot doch sehr dramatisch zugespitzt und konstruiert.
Auf der anderen Seite betonen die dramatischen Umstände, denen sich Emma auf einmal ausgesetzt sieht, das ganze Spektrum menschlicher Empfindungen, die Zärtlichkeit, Leidenschaft, Trauer, Wut, das große Unbehagen angesichts einer so weitreichenden Entscheidung. Es geht schließlich um das Verlassen und Verlassenwerden, Krankheit, Einsamkeit, Angst und Tod, die Kraft der Erinnerung. All das vereint Delacourt in seinem recht kurzen Roman, der weniger von den Handlungen als Empfindungen getragen wird und auf unvergleichlich poetische Weise die wilde Achterbahnfahrt der Gefühle beschreibt, die Emma durchlebt. Das ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack, zeigt aber eindringlich auf, wie unvorhersehbar sich das Leben entwickeln kann.

Lee Child – (Jack Reacher: 10) „Way Out“

Samstag, 10. August 2019

(Blanvalet, 448 S., HC)
Jack Reacher, ehemals hochdekorierter Ermittler bei der Militärpolizei ohne festen Wohnsitz, fahrbaren Untersatz und mit gerade soviel Kleidung ausgestattet, wie er am Leib tragen kann, weiß guten Kaffee zu schätzen. Aus diesem Grund bricht er mit seiner eigenen Regel, sich innerhalb von 24 Stunden niemals am selben Ort blicken zu lassen, und genießt an zwei aufeinanderfolgenden Abenden einen wunderbaren Espresso in einem Café auf der Westseite der Sixth Avenue in New York City. Am ersten Abend bemerkt er einen Mann, der zielstrebig auf eine viertürige Mercedes-Limousine im Parkverbot zugeht, in den Wagen hineinsteigt und davonfährt. Als am darauffolgenden Abend ein Ex-SAS-Agent namens John Gregory auf ihn zukommt und sich nach Reachers Beobachtungen erkundigt, lernt Reacher wenig später Edward Lane kennen, Geschäftsführer von Operational Security Consultants. Von ihm erfährt Reacher, dass seine Frau Kate und ihre Tochter Jade vor über 24 Stunden entführt worden ist und Reacher die Abholung des Lösegeldes in Höhe von einer Million Dollar beobachtet habe.
Lane ist von Reachers Beobachtungsgabe und offensichtlichen Ermittler-Qualitäten beeindruckt und engagiert ihn, vor allem die Entführten und natürlich die Entführer aufzuspüren. Wie Reacher erfährt, ist bereits Lanes erste Frau Anne vor fünf Jahren entführt und getötet worden. Reacher soll eine Million Dollar als Erfolgsprämie erhalten, doch nimmt er den Job weniger wegen Lane oder der Belohnung an, sondern wegen der wunderschönen Frau und dem Mädchen, die er auf einem eindrucksvollen Portrait gesehen hat. Als Reacher mit seiner Arbeit beginnt, lernt er die Schwester der verstorbenen Anne Lane kennen, Patti Joseph, die Reacher gegenüber behauptet, dass Lane Anne ermorden ließ, dafür aber keine Beweise habe, weshalb sie mit dem Polizisten Brewer und der Privatdetektivin Laura Pauling Lane beobachtet.
Pauling war als FBI-Agentin damals mit der Entführung Anne Lanes befasst und gibt sich nach wie vor die Schuld für den Tod der Frau. Als Reacher mit Pauling die Suche nach Kate Lane und ihrer Tochter beginnt, kommen sie sehr schnell dahinter, dass es sich bei den Entführern um einen Insider handeln muss. Doch Reacher und Pauling sind sich unsicher, ob Lane nicht auch diesmal eine Entführung vortäuscht, um seine Frau ermorden zu lassen …
„Er mochte Termine. Er mochte es, ein Problem kurzfristig lösen zu müssen. Er mochte es, in ruhiger Umgebung arbeiten zu können. Und er mochte es, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der wie er dachte. Deshalb bezweifelte er anfangs nicht im Geringsten, dass Pauling und er es schaffen würden, den Fall bis zum nächsten Morgen zu lösen.
Dieses Gefühl hielt ungefähr eine halbe Stunde lang an.“ (S. 261) 
Es ist ein längst bewährtes Konzept, mit Lee Child seinen Helden Jack Reacher quasi zufällig in brisante Situationen manövriert, in die kein normal Sterblicher geraten würde. Seit dem Ende seiner Militärzeit vor sieben Jahren lässt sich Reacher einfach durch die USA treiben, und der Leser erfährt weder, wie Reacher zu Beginn einer Romanhandlung da gelandet ist, wo die Probleme, die nur Reacher lösen kann, ihren Anfang nehmen, noch wohin er nach Erledigung seiner Mission verschwindet. Der Autor, der während seiner langjährigen Zeit beim Fernsehen gelernt hat, kurz und prägnant zu schreiben, lässt Reacher und der Leserschaft nicht viel Zeit für eine Einführung. Stattdessen wird der hochintelligente Ex-Militärcop gleich in einen Entführungsfall verwickelt, der durch seine Verbindung zum Söldner-Milieu schnell eine eigene Dynamik entwickelt und bei dem nichts so zu sein scheint, wie Entführungen normalerweise verlaufen. Schließlich lernt Reacher während seiner Ermittlungen einige Leute kennen, die ihn auf die besonderen Umstände hinweisen, die bei der Entführung von Lanes erster Frau zu deren Tod geführt haben, so dass Reacher die berechtigte Sorge umtreibt, dass auch Kate und Jade ein solches Schicksal beschieden sein könnte. Lee Child gelingt es, den Plot von Beginn an packenden Plot mit genügend Wendungen auszustatten, dass lange Zeit unklar bleibt, wohin die Reise geht, und selbst Reacher gelangt zu fatalen Fehlschlüssen, die er erst in einem dann doch wieder vorhersehbaren Showdown geradebiegen kann. Mit Laura Pauling bekommt Reacher auch noch eine attraktive Weggefährtin zur Seite gestellt, mit der natürlich auch ins Bett steigt und die ihm als Stichwortgeber für die weitere Vorgehensweise bei dem Fall dienen darf. Außerdem wird einerseits die Praxis thematisiert, wie das Pentagon private Sicherheitsorganisationen wie hier die OSC engagiert, um weltweit in Krisengebieten zu den gewünschten Ergebnissen zu kommen, wobei für die Söldner nur das Geld zählt, nicht die moralische Rechtfertigkeit für die Mission.
Dagegen wird Reacher nach wie vor von einem starken Gerechtigkeitsbedürfnis geleitet, weshalb es ihm hier nicht schwerfällt, die Seiten zu wechseln, sobald er erkennt, auf welcher Seite die Bösen stehen. Er macht schließlich ganz zu Anfang schon klar, dass es ihm um Kate und Jade geht, nicht um seinen Auftraggeber oder die Belohnung.
„Way Out“ zählt vielleicht nicht zu den stärksten Romanen der Reacher-Reihe, sorgt mit interessanten Wendungen und knallharter Action aber für den gewohnt kurzweiligen Spannungs-Faktor und Lesegenuss.
Leseprobe Lee Child - "Way Out"

Ian McEwan – „Solar“

Donnerstag, 1. August 2019

(Diogenes, 405 S., HC)
Bereits in seinen frühen akademischen Jahren wurde Michael Beard für seine Arbeit zum besseren Verständnis der komplexen Interaktionen zwischen Materie und elektromagnetischer Strahlung der Nobelpreis für Physik verliehen. Mittlerweile ist der Naturwissenschaftler bereits 53 Jahre alt und mit seiner kleinen und dicken Statur keine wirklich attraktive Erscheinung. Dennoch hat er fünfmal geheiratet und es innerhalb der fünf Ehen mit Maisie, Ruth, Eleanor, Karen und Patrice auf elf Affären gebracht.
Momentan zahlt es ihm Patrice heim, indem sie eine Affäre mit dem im Vergleich zu Beard zwanzig Zentimeter größeren und zwanzig Jahre jüngeren Bauhandwerker Rodney Tarpin unterhält. Während er noch immer von seinem akademischen Ruhm zehrt, hat Beard seit seiner Auszeichnung mit dem Nobelpreis kaum Nennenswertes hervorgebracht. Immerhin schmückt sein Name Briefbögen, eine Vortragsreihe über Quantenfeldtheorie in der Royal Geographic Society und Diskussionsrunden im Radio und Fernsehen. Schließlich leitet er ein Institut für die Erforschung erneuerbarer Energien. Doch erst als er einen weiteren von Patrice Geliebten, ausgerechnet seinen eigenen Mitarbeiter Tom Aldous, im eigenen Haus tötet und den Mord Tarpin anhängen kann, der dafür in den Knast wandert, scheint Beards Karriere wieder an Schwung zu gewinnen. Denn bevor Aldous unglücklich mit dem Kopf an die Ecke des Wohnzimmertisches stößt, hat er seinen Mentor auf eine Mappe mit seinen Arbeiten zur Quantenkohärenz in der Photosynthese hingewiesen. Da niemand sonst von diesen Arbeiten weiß, macht sich Beard die Erkenntnisse des Toten zunutze …
„Er fand, er sei ein Durchschnittstyp, nicht grausamer, nicht besser oder schlechter als die meisten. Gewiss war er manchmal, wenn er sich anders nicht zu helfen wusste, gierig, egoistisch, berechnend und verlogen, aber das waren alle anderen auch.“ (S. 244) 
Mit seinem 2010 veröffentlichten Roman „Solar“ hat sich der britische Bestseller-Autor Ian McEwan („Am Strand“, „Abbitte“) vordergründig des globalen Klimawandels und der Suche nach erneuerbaren Energien gewidmet, im Grunde genommen zeichnet er aber das umfassende Portrait eines ganz und gar unsympathischen Mannes, der seinen in den Endzwanzigern erworbenen akademischen Ruhm ausnutzt, um seine Pfründe zu stopfen.
Wie skrupellos er seine eigenen Interessen verfolgt, lässt sich nicht nur an der Vielzahl der Ehen und Affären ablesen, die er ohne jede Verpflichtungen eingeht, sondern auch im Berufsleben. Dabei wird leider nicht deutlich, was die Frauen und die Wissenschaftswelt an Beard eigentlich so attraktiv finden. So scheint es McEwan gar nicht so sehr darum zu gehen, einen Gedankenanstoß zum Kampf gegen die Erderwärmung zu vermitteln oder das psychologisch tiefgründige Portrait eines außergewöhnlichen Menschen zu präsentieren.
Die lakonische und schelmenhaft Art, wie er Beard beschreibt, legt eher nahe, dass Beard als Synonym für das Problem der Menschheit an sich steht, der sich selbst im Wege steht, weil er nur an sich denkt und nicht das große Ganze im Sinn hat. Das ist vor allem im ersten der drei Teile durchaus unterhaltsam geschrieben, verliert aber zum Ende hin mit seinem vorhersehbaren Clou an Überzeugungskraft. Dafür ist „Solar“ fraglos das bislang witzigste Werk im Schaffen des Briten geworden.
Leseprobe Ian McEwan - "Solar"