David Morrell – (Thomas De Quincey: 3) „Der Eisenbahnmörder“

Dienstag, 15. September 2020

(Knaur, 410 S., Tb.)
Als der in der exklusiven Londoner Geschäftsstraße wirkende Jurist Daniel Harcourt am Abend des 22. März 1855 sein Büro verlässt, um den Neun-Uhr-Zug von Euston nach Sedwick Hill zu nehmen, wird er in seinem Abteil von einem Mann erstochen, der dem korpulenten Fünfzigjährigen nicht unbekannt gewesen ist. Zufälligerweise sitzt auch der bekannte „Opiumesser“, Schriftsteller und Ermittler Thomas De Quincey mit seiner 22-jährigen Tochter Emily in diesem Zug und wird durch ungewöhnlichen Lärm aus dem Nachbarabteil aufgeschreckt. Später entdeckt er in einem Tunnel auf den Bahngleisen die Leiche des angesehenen Anwalts. Gegen elf Uhr werden auch die beiden Scotland-Yard-Polizeibeamten Sean Ryan und der fünfzehn Jahre jüngere Becker von dem Vorfall unterrichtet und übernehmen schließlich die Ermittlungen in dem ungewöhnlichen Mordfall. Allerdings bleibt es nicht bei diesem einen Mord.
In kurzer Zeit erschüttern vor allem gezielte Bombenattentate auf die Great Northern Railway rund um London das Vertrauen der Reisenden in die revolutionäre Art des Reisens, so dass auch alle Aktien der Unternehmen rapide im Wert fallen, die irgendwie mit der Eisenbahn zu tun haben. Selbst Königin Victoria, deren geplanten Anschlag auf ihr Leben De Quincey verhindern konnte, ist über die Ereignisse so beunruhigt, dass sie De Quincey bittet, auch in diesem Fall Scotland Yard bei den Ermittlungen zu unterstützen.
Nachdem De Quincey am Tatort ein wertvolles Benson-Chronometer sichergestellt hat, dauert es nicht lange, die Spur zu seinem Besitzer zurückzuverfolgen. Als Lord Palmerston von Commissioner Mayne erfährt, dass es sich bei dem ersten Toten um den Juristen Harcourt handelt, ist der Premierminister nicht von ungefähr beunruhigt, denn wie viele andere Prominente der Londoner Gesellschaft zählte auch er zu Harcourts Mandanten, und vielleicht war sein Mörder an den Geheimnissen und Unterlagen interessiert, die dem Juristen anvertraut worden sind. Als De Quincey mit seinen Ermittlungen beginnt, trifft er auch Carolyn wieder, mit der er als Kind das Schicksal des Bettlerdaseins und ein leer stehendes Haus in der Geek Street geteilt hatte, doch dann trennten sich ihre Wege, als De Quincey nach Eton gegangen war, um den guten Willen seiner Mutter zurückzugewinnen, und nach seiner Rückkehr weder Carolyn noch ihre Leidensgenossin Ann wiedertraf.
Mittlerweile ist Carolyn als Frau von Edward Richmond zu Wohlstand und gesellschaftlicher Anerkennung gekommen. Während sich der berühmte Opiumesser und Carolyn über ihre gemeinsame Vergangenheit und ihren jeweils ganz andersartigen Werdegang austauschen, bekommen die Eisenbahnmorde auch eine außenpolitisch brisante Bedeutung. Nach neuesten Informationen ist nämlich der russische Zar vor zwei Wochen verstorben, sein deutscher Leibarzt Dr. von Mandt spurlos verschwunden. Nun verbreiten sich Gerüchte, dass der Deutsche dazu angestiftet worden sei, den Zar zu ermorden, um den Ausgang des Krieges zu beeinflussen, und dass Russen für die Eisenbahnmorde verantwortlich sein könnten. Erst in Sedgwick Hill, wo sich die elitäre, von Dr. Wainwright betriebene Wasserkurklinik befindet, scheinen sich all die losen Fäden zusammenzufügen, werden die Rätsel der Vergangenheit gelöst …
Ein wirkliches Vergessen gibt es nicht, hatte der Opiumesser geschrieben. Tausend Umstände mögen und werden sich wie ein Schleier zwischen das gegenwärtige Geschehen und die geheimen Inschriften in unserem Gedächtnisse legen; aber gleichgültig, ob verschleiert oder unverschleiert, die Inschrift bleibt für immer, geradeso wie die Sterne sich vor dem Tageslichte zurückzuziehen scheinen, während wir doch alle wissen, dass die darauf warten, enthüllt zu werden, wenn das verbergende Tageslicht wieder hinweggezogen ist.“ (S. 307) 
Wer hätte gedacht, dass der berühmte Autor der „Rambo“-Romane, der später vor allem durch Thriller wie „Der Geheimbund der Rose“ und „Creepers“ seinen Bestseller-Status zementierte, auch im Genre des viktorianischen Krimis Meisterleistungen vollbringen würde? Mit der Trilogie um den historisch verbürgten britischen Schriftsteller, Essayisten und Journalisten Thomas De Quincey (1785-1859), zu dessen berühmtesten Werken sein autobiografisches Buch „Bekenntnisse eines englischen Opiumesser“ und das Essay „Der Mord als schöne Kunst betrachtet“ zählen, ist David Morrell eine Reihe durchweg authentisch wirkender, packender Krimis gelungen, die den Leser auf eine unvergleichliche Zeitreise schicken.
In „Der Eisenbahnmörder“, dem wiederum durchweg kurzweiligen Abschluss der Trilogie, beschreibt Morrell zunächst eindringlich, wie das kleine, doch so weltumspannende Reich Großbritanniens durch die Erfindung der Eisenbahn noch einmal an Macht dazugewinnen konnte, denn statt einer Tagesreise auf Schotterstraßen voller Schlaglöcher von Liverpool nach Manchester brauchte die Eisenbahn nur eine halbe Stunde und leistete so einen wesentlichen Beitrag zur Ausbreitung der Industriellen Revolution.
Der Leser wird in diesem Roman aber auch mit anderen Erfindungen vertraut gemacht, mit einer Phosphorpaste, die eigentlich zum Vertreiben von Ratten gedacht war, hier aber eine Verwendung als Sprengstoff findet, und mit dem Erfrischungsgetränk Gin-Tonic. Doch den Mittelpunkt der Geschichte bilden die vor dem Hintergrund des Krimkrieges ausgeführten Morde, die bis in die höchsten Londoner Gesellschaftskreise reichen und eine ganz persönliche Beziehung aus De Quincey bettelarmen Jugendjahren auffrischt. Natürlich spielen auch die Gefühle, die Ryan und Becker für De Quinceys Tochter Emily hegen, nach wie vor eine Rolle, werden doch eher nebensächlich abgehandelt.
Morrell erweckt das Treiben im viktorianischen London beeindruckend realistisch zum Leben. Dafür hat er aber auch sorgfältig recherchiert, wie er im ausführlichen Nachwort belegt. Die Verbindung von tiefschürfenden Nachforschungen und der Sinn für die Dramaturgie einer komplexer Krimi-Handlung machen „Der Eisenbahnmörder“ wie schon seine beiden Vorgänger „Der Opiummörder“ und „Die Mörder der Queen“ zu einem absoluten Highlight des Genres.
Leseprobe David Morrell - "Der Eisenbahnmörder"

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