Raymond Chandler – (Philip Marlowe: 5) „Die kleine Schwester“

Montag, 21. September 2020

(Diogenes, 352 S., HC) 
Der 38-jährige Privatdetektiv Philip Marlowe ist seit fünf Minuten hinter einer Schmeißfliege in seinem heruntergekommenen Büro in Los Angeles her, als eine junge Frau mit Kleinmädchenstimme anruft und sich einen ersten Eindruck davon verschaffen möchte, ob Marlowe der richtige Mann für das sein könnte, was sie benötigt. Wenig später sitzt sie auch schon in seinem Büro, Orfamay Quest aus Manhattan, Kansas, und berichtet dem Detektiv, dass sie nach ihrem Bruder Orrin sucht, der nach seinem Studium als Ingenieur für die Cal-Western Aircraft Company in Bay City zu arbeiten begann. Da seine Briefe an Mutter und an sie selbst aber seit Monaten ausgeblieben sind, hat Orfamay sich auf die Reise nach Bay City gemacht, doch aus dem Fremdenheim, dessen Adresse sie von Orrin hatte, ist er ohne bekanntes Ziel ausgezogen, sein Arbeitgeber habe ihn entlassen. 
Obwohl er die zwanzig Dollar Vorschuss von Orfamay letztlich nicht annimmt, ist Marlowes Neugierde geweckt. Nachdem er sich in Orrins alter Absteige umgesehen hat, entdeckt er den Verwalter Lester B. Clausen in seiner Wohnung – mit einem Eispickel im Nacken. Wenig später bekommt es Marlowe nicht nur mit den hartnäckigen Cops French und Maglashan zu tun, weil der Privatschnüffler wenig später einen weiteren Toten mit einem Eispickel im Nacken entdeckt. Seine Ermittlungen führen ihn sowohl in den Dunstkreis des Gangsters Weepy Moyer als auch in die gar nicht so glamouröse Welt von Hollywood. 
„Für wen schneide ich mir diesmal die Halsschlagader auf? Für eine Blondine mit sexy Augen und zu vielen Schlüsseln? Für ein Mädchen aus Manhattan, Kansas? Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass nicht alles ist, wie es scheint, und das gute alte Bauchgefühl sagt mir, dass der oder die Falsche den Pott verliert, wenn alle ihre Karten so ausspielen, wie sie ausgeteilt worden sind? Geht mich das etwas an? Weiß ich das? Habe ich es jemals gewusst? Fangen wir nicht damit an. Du bist heute kein Mensch, Marlowe. War ich vielleicht nie, werde ich vielleicht nie sein.“ (S. 111) 
Mit seinem ersten Roman um Philip Marlowe, „The Big Sleep“, gelang dem 1888 in Chicago geborenen, aber zunächst in England lebenden Raymond Chandler gleich ein großer Erfolg. 1946 wurde das Buch durch Howard Hawks mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle auch noch wunderbar verfilmt. Bis zu seinem Tod 1959 erschienen sechs weitere Marlowe-Romane, das unvollendete Manuskript zu „Poodle Springs“ wurde erst 1989 durch Robert B. Parker fertiggestellt. 
Mit dem fünften Band der Marlowe-Reihe, „Die kleine Schwester“, hat Chandler 1949 einen coolen Hardboiled-Krimi geschaffen, der Marlowe wieder mit einigen geheimnisvollen, sexy Frauen zusammenbringt, die den Detektiv lange an der Nase herumführen. Es ist aber weniger der komplexe Plot, der „Die kleine Schwester“ so unterhaltsam macht, sondern die Art und Weise, wie Marlowe als Ich-Erzähler mit flotten, zynischen Sprüchen an sein Ziel zu kommen versucht, die Affäre um ein Foto und die offensichtlich damit zusammenhängenden Morde aufzuklären. 
Interessant sind dabei vor allem seine wehmütigen Erinnerungen, als Los Angeles noch kein heruntergekommener Slum mit Neon-Beleuchtung war, sondern ein sonniger, friedlicher Ort, in dem die Menschen draußen auf der Veranda schliefen. Chandler gelingt es, allein durch die knackigen Dialoge ein Gespür für die Zeit bei seinen Lesern zu entwickeln, für die Atmosphäre, in der Cops, Gauner und Hollywood-Sternchen in ihrem Wirken kaum auseinanderzuhalten sind und die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen lassen. Dass sich die Marlowe-Romane aber mehr als sechzig Jahre nach ihrer Entstehung immer noch so flüssig lesen lassen, liegt einfach auch an der wahrhaften Beschreibung menschlicher Tugenden und Schwächen, an der Hoffnung, die Marlowe trotz aller Rückschläge tapfer in seinem Herzen trägt. Das ist einfach große Literatur, die in der neuen Übersetzung von Robin Detje ihren ganzen sprachlichen Glanz verbreitet. Dazu hat Michael Connelly der Neuausgabe noch ein Nachwort gespendet, in dem er begründet, warum gerade „Die kleine Schwester“ sein Lieblingsbuch von Chandler ist. 

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