Rick DeMarinis – „Götterdämmerung in El Paso“

Montag, 27. Dezember 2021

(Pulp Master, 320 S., Tb.) 
Als Sohn des italienischen Gangsters „Big Al“ DeMarinis ist Rick DeMarinis (1934-2019) früh mit der Welt in Kontakt gekommen, die er zwischen 1975 und 2015 in Romanen und Kurzgeschichten thematisiert hat. Zwar ist sein schriftstellerisches Werk innerhalb dieser 40 Jahre recht überschaubar geblieben, wurde aber immer wieder ausgezeichnet, so mit dem Jesse H. Jones Award des Texas Institute of Letters und dem Independent Publishers Award. Mit „El Paso Twilight“ erschien leider schon sein letzter Roman, der 2012 bei Pulp Master in deutscher Übersetzung vorgelegt wurde und wunderbar respektlos mit den Konventionen des Krimi-Genres aufräumt. 
Luther Penrose und J.P. Morgan sind schon seit der Schule enge Freunde. Da sich Luther in der Schule als großkotziger Streber präsentierte und von seinem besten Kumpel vor den Rowdys beschützt werden musste, etablierte sich diese Beziehung auch ihrem Einsatz bei Desert Storm. Als Millionenerbe war es Luther vergönnt, sich seiner Schriftstellerei zu widmen, während J.P. Morgan eine Karriere als Versicherungsdetektiv einschlug und nach seinem Rausschmiss dort nun auf eigene Rechnung Aufträge übernimmt. 
Luther ist gerade mit seinem neuen Werk beschäftigt, einem historischen Bildungsroman mit dem Titel „Der Entfesselte Parsifal“, als er seinen Freund damit beauftragt, seine Frau Carla wieder zurückzubringen. Die Dozentin für Lateinamerikanische Studien der Universität von Texas in El Paso setzt sich als leidenschaftliche Aktivistin für mexikanische Illegale ein und scheint mit dem Doktoranden Hector Martinez durchgebrannt zu sein, so Luthers Vermutung. Er setzt dabei nicht allein auf J.P.s Loyalität, sondern heuert auch noch die Detektei Hamilton Scales & Partner an. J.P. gelingt es, das vermeintliche Liebespaar in Las Vegas ausfindig zu machen, entdeckt aber, dass Carla und Hector eher durch ihre ehrenamtlichen Missionen verbündet sind als durch amouröse Leidenschaften. Es dauert nicht lange, da hängen J.P. auch die Kopfgeldjäger, Texas Ranger und eine obskure Nazi-Bruderschaft sich an die Fersen von Carla, Hector und J.P. Denn wie sich herausstellt, ist eine Menge Geld im Spiel … 
„Für mich sah die Sache folgendermaßen aus: Sie würde niemals nach Chihuahua City fahren. Sie würde einfahren. Auch Hector würde nicht nach Chihuahua City fahren. Höchstwahrscheinlich war er bereits tot. Und ich würde todsicher keine zehntausend Dollar von jemanden bekommen, der im Knast war oder tot. Dieses irre Vorhaben war bereits gescheitert und die Folgen würden alles andere als angenehm werden.“ (S. 183) 
Bereits in „Kaputt in El Paso“ hat DeMarinis das US-Grenzstädtchen am Rio Grande, auf dessen anderer Seite Juárez liegt, zum Mittelpunkt einer grenzüberschreitenden Handlung in bester Noir-Tradition gemacht. Mit „Götterdämmerung in El Paso“ bekommen das Flüchtlingsthema und vor allem rassistische Ressentiments, wie sie später in der Donald-Trump-Ära auf die Spitze getrieben wurden, eine besondere Bedeutung. So wie J.P. Morgans exzentrischer und selbstgefälliger Schriftsteller-Freund Luther in seinem neuen Roman, für den er tatsächlich einen Verleger findet, Hitler und Richard Wagner in einen Topf wirft, erhält die nationalistische Note durch die von verschiedenen Seiten organisierte Jagd auf Luthers Frau und ihrem Liebhaber weiteren Treibstoff. 
Es ist eine mehr als blutige Hetzjagd, die sowohl die Gesuchten als auch J.P. selbst nach Vegas, Phoenix bis nach Albuquerque treibt und immer wieder neue Aspekte zutage treten lässt, die die Geschichte ebenso abstrus wie bedrohlich real erscheinen lassen. DeMarinis präsentiert mit „Götterdämmerung in El Paso“ einen grotesken Road Trip, der die tiefe Zerrissenheit innerhalb der US-amerikanischen Bevölkerung und ihrem Verhältnis zu ihren Nachbarn aus Mexiko offenbart. 

 

Alan Parks – (Harry McCoy: 3) „Bobby March Forever“

Freitag, 24. Dezember 2021

(Heyne Hardcore, 428 S., Pb.) 
Mit John Niven und Irvine Welsh hat Heyne Hardcore bereits zwei schottische Schriftsteller mit ganz eigener Stimme im Programm, über die ihr Landsmann Alan Parks mit seiner Reihe um den in Glasgow agierenden Cop Harry McCoy auf andere Weise verfügt. Während ihm zwar der derbe Humor seiner berühmten Kollegen abgeht, fesselt er mit atmosphärisch stimmigen und fesselnden Krimis. Nach „Blutiger Januar“ und „Tod im Februar“ folgt mit „Bobby March Forever“ nun der dritte Teil in der McCoy-Reihe. 
Für den damals 17-jährigen Bobby March ging ein Traum in Erfüllung, als er mit seiner Band The Beatkickers und ihrem Manager Tom im Februar 1964 im Zug nach London saß, um bei dem berühmten Parlophone-Label eine Aufnahmesession zu absolvieren. Knapp zehn Jahre später hat Bobby vor allem als Gitarrist Karriere gemacht und wurde sogar von den Rolling Stones gebucht. Doch nun wird seine Leiche mit einer Nadel im Arm in seinem Hotelzimmer in Glasgow entdeckt. Für Detective Harry McCoy von der Glasgower Police Force scheint der Fall schnell geklärt: Überdosis. Doch als er mit Bobbys heruntergekommenen Vater redet, erwähnt dieser eine beige Tasche, die sein Sohn immer in seiner Nähe hatte, doch im Hotelzimmer war sie nicht aufzufinden. 
McCoy hat aber dringendere Aufgaben zu erledigen. So wird seit fünfzehn Stunden die dreizehnjährige Alice Kelly vermisst, und der korrupte wie geschniegelte Detective Inspector Bernard „Bernie“ Raeburn schickt seinen verhassten ehemaligen Partner McCoy zunächst von Tür zu Tür für die Befragungen der Nachbarn, dann schanzt er ihm eine Reihe von ungelösten Raubüberfällen zu, nur damit er aus seinem Umfeld verschwindet. Als hätte der dreißigjährige Cop nicht schon genug zu tun, bekommt er von seinem ehemaligen Vorgesetzten Chief Inspector Hector Murray den inoffiziellen Auftrag, dessen fünfzehnjährige Nichte Laura wieder nach Hause zurückzubringen, nachdem sie offensichtlich mit dem berüchtigten Donny MacRae durchgebrannt ist. 
Als Raeburn einen psychisch labilen Jungen für den mutmaßlichen Mord an Alice einem brutalen Verhör unterzieht, kommt es zur Katastrophe, worauf Raeburn seinen Hass gegenüber McCoy offen auslebt. Der versucht mit Raeburns Partner Douglas „Wattie“ Watson Licht in die verschiedenen Fälle zu bekommen, wobei sich ihre Wege mit McCoys früheren Kumpel Steven Cooper kreuzen, der mit seinen Handlangern Billy Weir und Jumbo Mühe hat, die Zügel in Glasgows Unterwelt in der Hand zu behalten, ist er doch selbst von dem Stoff abhängig geworden, den er vertickt. Als McCoy zu einer Beerdigung nach Belfast fährt, gerät er auch noch mitten in die Konflikte mit der IRA. Aber auch wieder zurück in Glasgow erlebt McCoy einige böse Überraschungen … 
„Was ihn betraf, so hatte der einzige Mensch, dem er vertraute, gerade die Grenze überschritten. Und wenn dieser Mensch die Grenze überschritten hatte, dann war die Schlacht verloren. Dann konnte er genauso gut auch aufgeben. Wenn Murray die Grenze überschritten hatte, dann würde die Polizei bald nur noch aus Raeburns bestehen. Ignoranten Arschlöchern, die ihre Macht ausspielten, in die eigene Tasche wirtschafteten, das Gesetz auslegten, wie es ihnen am besten in den Kram passte. Und damit wollte er nichts zu tun haben.“ (S. 394) 
Offensichtlich plant Parks, mit seiner Reihe um Harry McCoy jeden Monat des Jahres abzudecken. Dabei trägt sein dritter Band den März nur im Namen des viel zu früh verstorbenen Rockstars, dessen Karriere Parks immer wieder in kurzen Rückblenden Revue passieren lässt. Hier demonstriert Parks ein ähnlich ausgeprägtes Gespür für Rockmusik und das Umfeld, in dem sie entsteht, wie er die Atmosphäre im an allen Ecken und Enden abgefuckten Glasgow wunderbar einzufangen versteht. Es ist allerdings eine dreckige Welt, in der Gewalt, Folter, Korruption, Entführungen, Überfälle, Drogenmissbrauch, Erpressung und Drohungen den Alltag bestimmen. Selbst McCoy muss einiges an Prügeln über sich ergehen lassen, schlägt aber auch mal zu, wenn es die Situation erfordert. 
McCoy bleibt kaum etwas anderes übrig, die Pubs abzuklappern und seine Kontakte zur Glasgower Unterwelt aufzufrischen, um all die vertrackten Fälle zu lösen, die ihm Raeburn auf den Tisch geknallt hat. Parks gelingt das Kunststück, durch die geschickte Verknüpfung der Spuren, die sein sympathischer Protagonist in den verschiedenen Fällen verfolgt, ein hohes Tempo beizubehalten und sukzessive die Spannung zu erhöhen. Dabei nimmt sich der Autor aber auch die Zeit, seine Figuren und die Umgebung, in der sie leben und arbeiten, so lebendig zu beschreiben, als wäre sein Roman ein Drehbuch für das Kino im Kopf des Lesers. Vor allem die authentisch wirkenden Dialoge und die Schilderung der Musik- und Pubszene machen „Bobby March Forever“ zu einem stimmungsvollen Pageturner, bei dem am Ende vielleicht etwas zu konstruiert alle Fälle gelöst werden. Auf jeden Fall hat Alan Parks mit Harry McCoy einen charismatischen, lebensecht wirkenden Cop geschaffen, der uns hoffentlich noch lange begleiten wird.  

William Lindsay Gresham – „Nightmare Alley“

Mittwoch, 15. Dezember 2021

(Heyne, 510 S., Pb.) 
Gleich mit seinem ersten, 1946 veröffentlichten Buch „Nightmare Alley“ wurde William Lindsay Gresham (1909-1962) weltberühmt, erwarb Hollywood doch für 60.000 $ die Filmrechte und machte 1951 unter dem deutschen Verleihtitel „Der Scharlatan“ mit Tyrone Power in der Hauptrolle einen Film daraus. An diesen Erfolg konnte Gresham Zeit seines Lebens nicht mehr anknüpfen. Zwar schrieb er anschließend noch vorwiegend non-fiktionale Bücher wie „Monster Midway: An Uninhibited Look at the Glittering World of the Carny“ (1954), „Houdini: The Man Who Walked Through Walls“ (1959) und „The Book of Strength: Body Building the Safe, Correct Way“ (1961), doch setzte er seinem Leben 1962 mit einer Überdosis Schlaftabletten vorzeitig ein Ende. 
Es ist Guillermo del Toro („Hellboy“, „Shape of Water“) zu verdanken, diesen Klassiker der amerikanischen Literatur wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückgeholt zu haben. Am 22.01.22 startet seine Neuverfilmung mit Bradley Cooper, Cate Blanchett und Toni Colette in den Hauptrollen in den deutschen Kinos, der Roman zum Film erschien nun einer Neuauflage bei Heyne Hardcore. 
In der Wanderzirkustruppe Ten-o-One präsentiert Clem Hoatley vor allem abnorme menschliche Kreaturen, die als sogenannte Geeks zum Gespött des Publikums werden, aber auch sein Interesse und seine Sensationslust ansprechen, z.B. mit Herculo den perfektesten Mann der Welt, mit Major Mosquito den kleinsten je gemessenen Menschen und mit Joe Plasky einen Halbmensch-Akrobaten. Stan Carlisle beginnt als Hellseher in der Show, wickelt das Publikum mit kleinen Tricks um den Finger und fängt eine Affäre mit der Wahrsagerin Zeena an, die mit dem alkoholkranken Pete verheiratet ist und bei der Stan als Assistent aushilft. Nachdem Stan Pete versehentlich mit Spiritus umgebracht hat (eigentlich wollte er ihm nur seinen ersehnten Alkohol besorgen), rückt Stan zu Zeenas Partner in ihrer Nummer auf und erfährt dabei, dass ihm größere Möglichkeiten offenstehen. 
Er macht sich mit der ebenfalls im Zirkus engagierten 15-jährigen Molly in die Stadt davon und beginnt dort erfolgreich, mit Mollys Hilfe die Reichen der Stadt auszunehmen, indem er als Spiritist Kontakt zu ihren geliebten Menschen im Jenseits aufnimmt. Als er dem anhänglichen Mädchen überdrüssig wird, hält sich Stan an die Psychologin Lilith Ritter, die allerdings gerissener ist, als Stan es für möglich gehalten hat. Als er den skeptischen Industriellen Grindle von seinen Fähigkeiten überzeugt hat, scheint nun das große Geld zu winken, doch dann beginnen die Dinge schiefzulaufen … 
„In Stanton Carlisle machte sich eine Angst ohne Gestalt oder Namen breit. Der Tod und Geschichten über das Sterben oder Brutalität gingen ihm unter die Haut wie Zecken und lösten Infektionen aus, die sich durch seinen Körper bis ins Gehirn vorarbeiteten und an ihm nagten.“ (S. 464) 
Im Alter von 29 Jahren wartete William Lindsay Gresham nach seiner Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg auf seine Heimkehr in die Vereinigten Staaten, als er in einem Dorf nahe Valencia von die Geschichte eines Mannes erzählt bekam, der sogar die Köpfe von Hühnern und Schlangen abbiss, um an den ersehnten Alkohol zu kommen. 
Die Geschichte faszinierte den jungen Mann so sehr, dass er sie selbst in seinem ersten Roman verarbeitete. Dabei kam nicht nur seine Faszination für die Welt der Jahrmärkte und ihrer bunten Welt der Verführung und Täuschung zum Ausdruck, sondern auch sein Interesse an der Psychoanalyse, von der er hoffte, dass sie ihn von seinen inneren Dämonen befreien würde. Genau so wirkt „Nightmare Alley“ schließlich auch. Gresham beschreibt eindringlich die Atmosphäre, wie sie in den sensationsheischenden Jahrmärkten im 19. Jahrhundert herrschte, vor allem auch die Faszination, wie sein Protagonist immer deutlicher wahrnimmt, mit welchem Talent er gesegnet ist und wie er dieses gewinnbringend einsetzen kann. Es ist der altbekannte amerikanische Traum vom großen Glück, der Stan Carlisle seine Trickkiste auspacken lässt, wobei er immer skrupelloser vorgeht, um an das Vermögen seiner Klienten zu gelangen. Geschickt tarnt er seine Aktivitäten unter dem Deckmantel einer religiösen Vereinigung, gräbt besonders vertrauliche Informationen aus dem Lebenslauf seiner Opfer aus und überzeugt sie schließlich mit spektakulären Darbietungen, die jeden Zweifel an seiner Redlichkeit ausräumen. Allerdings wird er dabei von einem übersteigerten Ehrgeiz angetrieben, dass er nicht das größere Unheil wahrnimmt, das ihn in den Abgrund stürzt. 
Es kommt nicht von ungefähr, dass Gresham eine Psychologin ebenfalls in den Mittelpunkt seiner Erzählung stellt, war der Autor doch selbst von Persönlichkeiten wie Freud und Ouspensky fasziniert, benennt die Kapitel in seinem Roman nach der Großen Arkana im Tarot. Gresham gelingt es, die bewegende Odyssee seines Protagonisten mit einer lebendigen Sprache und einem guten Gespür für Atmosphäre, Tempo und Charakterisierungen zu schildern. Zum Finale hin schleichen sich zwar auch einige Längen ein, aber „Nightmare Alley“ stellt ein faszinierendes Werk dar, das Grand Guignol mit der Noir-Tradition ebenso verbindet wie mit Tod Brownings „Freaks“ und Ray Bradburys „Das Böse kommt auf leisen Sohlen“

 

James Sallis – (Turner: 3) „Dunkles Verhängnis“

Mittwoch, 8. Dezember 2021

(Heyne, 190 S., Tb.) 
Mit dem Privatdetektiv und Schriftsteller Lew Griffin sowie dem Ex-Cop, Ex-Häftling und Ex-Psychiater John Turner hat der US-amerikanische Schriftsteller, Kritiker, Musiker und Übersetzer James Sallis sehr lebendige, charismatische Figuren geschaffen, die irgendwie durch das Leben gestrauchelt sind, ohne richtigen Plan von einem Job zum nächsten, ganz anders gearteten. Während es die Reihe um Lew Griffin, mit der Sallis 1992 seine Karriere erfolgreich startete, immerhin auf sechs Bände brachte, hat er sich bei John Turner von vornherein auf eine Trilogie beschränkt. Viel Neues hat der nach „Dunkle Schuld“ und „Dunkle Vergebung“ abschließende Band „Dunkles Verhängnis“ zwar nicht zu bieten, dafür aber Sallis‘ einzigartig lakonische wie bildhafte Sprache, mit der er eine Lebensweisheit nach der anderen hervorbringt. 
Als vor zwei Jahren seine Freundin Val von einem Auftragskiller in ihrem eigenen Haus und in Turners Gegenwart erschossen worden ist, hat sich nicht nur für den Aushilfssheriff das Leben in Cypress Grove für immer verändert. Doc Oldham hat seine Praxis aufgegeben und sie an einen jungen Mann abgegeben, der noch grün hinter den Ohren zu sein scheint. Nun sitzt er meistens draußen irgendwo herum und gibt kluge Sprüche und Erkenntnisse von sich, wobei er in Turner einen regelmäßigen Zuhörer findet. 
So schwadroniert der unter Grauem Star leidende Doc darüber, wie fragil das Leben so sei, dass jeder seine eigene Version davon habe, was die Wahrheit, das Leben, den eigenen Werdegang angeht. Turner erinnert sich dagegen an eine ihm überlieferte Episode, deren Quintessenz darauf hinausläuft, dass man einfach sehen müsse, wie viel Musik man noch mit den Mitteln machen könne, die einem bleiben. In diese philosophischen Betrachtungen hinein erreicht Turner die Nachricht, dass Billy, der Sohn des ehemaligen Sheriffs Lonnie Bates, mit einem unbekannten Wagen ins Rathaus gefahren sei. Wenig später erliegt er seinen Verletzungen im Krankenhaus. Er war zuvor bei Kneipenschlägereien, Verkehrsvergehen und Hausfriedensbruch auffällig gewesen, hatte dann Milly geheiratet und wieder seinen Job im Baumarkt aufgenommen. 
Wie sich herausstellt, gehörte das Auto einer alten Dame aus Hazelwood, für die Billy und an Besorgungen gemacht hatte. Wenig später wird Milly vermisst und verletzt in einem Autowrack gefunden. Die Männer, die sie entführt haben, sind in einen Streit geraten, worauf der eine den anderen erschoss. Zu allem Überfluss taucht auch noch Eldon auf, der mit Val auf Tour gehen wollte, und erzählt Turner, dass er in Texas vielleicht jemanden umgebracht habe, er könne sich nicht erinnern … 
„Immer häufiger und ohne besonderen Anlass steigen Erinnerungen in uns auf, und es kommt so weit, dass alles uns an irgendetwas zu erinnern beginnt. Wir, unsere Handlungen, unser Leben, werden symbolisch. Wir stellen uns vor, die Welt würde dadurch tiefer, reicher; tatsächlich wird sie nur abstrakter. Wir reden uns ein, wir wüssten jetzt, auf was es wirklich ankommt im Leben, tatsächlich geht es nach wie vor nur darum, die tägliche Routine am Laufen zu halten.“ (S. 90) 
Mehr noch als in den beiden vorangegangenen Turner-Romanen dient in „Dunkles Verhängnis“ die Kriminalgeschichte nur als grobe Klammer, die den Erinnerungsfetzen, Assoziationen und Erkenntnissen, die Turner in seinem durchaus abwechslungsreichen, aber auch richtungslosen Leben angesammelt hat und die in der vermeintlichen Einöde eines Provinznestchens immer dann in seinem Geist widerhallen, wenn er einmal mehr mit den Kuriositäten des Lebens konfrontiert wird. 
Was letztlich zu Billy Bates‘ geheimnisvoller Fahrt ins Rathaus geführt wird, löst Sallis am Ende ebenso lapidar auf, wie sein vom Leben etwas müder Protagonist mit seinen philosophischen Betrachtungen um sich wirft. Besonders erheiternd wirkt die Turner-Trilogie nicht, aber sie spendet Trost denjenigen, die ebenso wie Turner und seine Weggefährten das Gefühl haben, ihr Leben nicht selbst in der Hand zu haben, sondern einfach dahinzutreiben. 
Bei aller Lebensmüdigkeit und Gewalt begegnet Turner seinen Nächsten allerdings mit ungebändigter Empathie, hat stets ein offenes Ohr für jene, die ein Problem haben, auch wenn er selten etwas beitragen zu können scheint, um diese aus der Welt zu schaffen. Diese schwierige Balance meistert Sallis wie kein Zweiter. 

James Sallis – (Turner: 2) „Dunkle Vergeltung“

Dienstag, 7. Dezember 2021

(Heyne, 236 S., Tb.) 
Bereits mit seiner sechsbändigen, zwischen 1992 und 2001 veröffentlichten Reihe um den Privatdetektiv, Teilzeitlehrer und Schriftsteller Lew Griffin hat James Sallis die Konventionen des Krimi-Genres geschickt umschifft und mit ganz eigener Stimme vom Suchen und Sich-Verlieren und Finden, von Gegenwart und Vergangenheit, von Lebensentwürfen und geplatzten Träumen erzählt. Während von diesen sechs Bänden leider nur zwei ins Deutsche übersetzt und von DuMont veröffentlicht worden sind, erging es der nachfolgenden Trilogie um den Ex-Cop, Ex-Häftling und Ex-Psychiater Turner hierzulande besser. 
Alle drei Romane sind unter den einheitlichen deutschen Titeln „Dunkle Schuld“, „Dunkle Vergeltung“ und „Dunkles Verhängnis“ bei Heyne verfügbar. 
Eigentlich hatte sich Turner in das kleine, zwischen Memphis und Little Rock gelegene Nest Cypress Grove zurückgezogen, um seine Ruhe zu haben. Sowohl seine Tätigkeit als Cop als auch als Therapeut hat ihn im Leben nicht wirklich vorangebracht, doch musste er schnell feststellen, dass seine Erfahrungen vom örtlichen Sheriff bei einem Ritualmord durchaus nützlich sein könnten. Am Ende der Ermittlungen musste Sheriff Lonnie Bates angeschossen ins Krankenhaus eingeliefert werden, sein Deputy Don Lee wurde zum kommissarischen Sheriff ernannt, während Turner sich bereit erklärte, hin und wieder als Deputy auszuhelfen. 
In dieser Funktion kommt er gerade nach einem Gefangenentransport aus Marvell zurück, als Don Lee davon erzählt, wie er einen Mann festgenommen hat, der mit seinem Mustang mit hundertdreißig Meilen durch die Stadt gerast war und nun eine der beiden Arrestzellen belegt. Wie sich herausstellt, befinden sich im Kofferraum des Mustangs zweihunderttausend Dollar. Der Gefangene namens Judd Kurtz macht seinen Anruf, wenig später wird er gewaltsam befreit, wobei Don Lee und June verletzt werden. Turner braucht nicht lange, um festzustellen, dass Kurtz offenbar als Geldkurier für die Mafia in Memphis unterwegs gewesen ist. Er sucht dort seinen alten Kollegen Sam Hamill auf, räumt in der Stadt ein wenig auf und kehrt wieder nach Cypress Grove zurück, wo ihn seine Tochter J.T. aus Seattle, ebenfalls Polizeibeamtin, besucht. Natürlich braucht die Mafia nicht lange, um den Verantwortlichen für den Vergeltungsschlag in Memphis ausfindig zu machen. Fortan lebt Turner in ständiger Gefahr … 
„Man fängt an zu glauben, dass man eine Möglichkeit entdeckt, die Welt mit klarem Blick zu sehen, während man in Wirklichkeit lediglich eine Sprache lernt – eine gefährliche Sprache, weil sie den Blick verengt und uns vorgaukelt, man verstehe, warum die Menschen tun, was sie tun. Aber wir verstehen es nicht. Wir verstehen so wenig von allem.“ (S. 205) 
Wie wenig es bei James Sallis – sowohl in seiner Lew-Griffin-Reihe als auch in seiner Turner-Trilogie – um die klassische Auflösung von Verbrechen geht, untermauert der Autor mit seiner Art, die Gegenwart immer wieder mit Episoden aus der Vergangenheit seiner Protagonisten zu konfrontieren. 
In „Dunkle Schuld“, dem ersten Turner-Roman, wechselte Sallis sogar konsequent nach jedem Kapitel von einer Zeit in die andere. Im Vergleich dazu wirkt „Dunkle Vergeltung“ mehr wie aus einem Guss, auch wenn der Ich-Erzähler immer wieder Anekdoten von früheren Fällen wie dem vierfachen Kindermörder Lou Winter zum Besten gibt, die Tuners pessimistische Weltsicht illustrieren. Sallis nimmt sich Zeit, seine Beziehungen zur Anwältin Val, die mit einem schwarzen Musiker losziehen will, um auf verschiedenen Festivals zu spielen, und zu seiner Tochter J.T. zu beschreiben, die ihr Leben in Seattle aufgibt, um fortan Dienst in der Nähe ihres Vaters zu tun. 
Die Auseinandersetzung mit der Mafia gerät da fast zur Nebensache – wenn auch mit tragischen Folgen. Vielmehr macht Sallis in bester Noir-Tradition deutlich, was jedwede Entscheidung, ob bewusst getroffen oder nicht, mit dem Leben eines Menschen macht. Doch trotz aller Erschütterungen gibt Turner nicht auf. Er ist für seine Mitmenschen ein verlässlicher Freund, ein Mann der Tat, der bei all dem Tod um ihn herum den Humor nicht verliert – und seine Zuversicht, doch noch den einen oder anderen Lichtblick am Horizont zu erheischen. 

James Sallis – (Turner: 1) „Dunkle Schuld“

Montag, 6. Dezember 2021

(Heyne, 302 S., Tb.) 
Seinen Debütroman „The Long-Legged Fly“, Auftakt seiner Serie um den Privatdetektiv, Lehrer und Schriftsteller Lew Griffin, veröffentlichte der US-amerikanische Schriftsteller, Poet, Kritiker, Übersetzer und Musiker James Sallis 1992 – da war er selbst bereits 48 Jahre alt. Mittlerweile wurde Sallis mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Krimi Preis (für „Driver“), dem Hammett Prize und dem Grand prix de littérature policière, und zählt zu den eigenwilligsten und bedeutendsten Krimi-Autoren unserer Zeit. Nach den sechs Lew-Griffin-Romanen (von denen leider nur die ersten beiden ins Deutsche übersetzt wurden) folgte 2003 der Auftakt einer Trilogie um den ehemaligen Soldaten, Polizisten, Gefangenen und Therapeuten Turner. 
Turner ist die Stadt leid, vor allem aber den Menschen, den die Stadt aus ihm gemacht hat. Nachdem er in einen Krieg geschickt worden war, den er nicht wollte, als Cop seinen Partner erschossen hatte, elf Jahre im Gefängnis gesessen hatte, um dann festzustellen, dass er auch als Therapeut nur wenig tun konnte, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, zieht er sich nach Cypress Grove zurück, einem Kaff im Nirgendwo zwischen Memphis und Little Rock. Doch auch hier hat er nicht lange Ruhe. Sheriff Lonnie Bates weiß natürlich von Turners früherer Vergangenheit als Großstadt-Cop und bittet ihn als Berater um Unterstützung bei einem Mord, der wie eine rituelle Tötung inszeniert worden ist. Das Opfer wurde an die Seite eines Carports mit ausgestreckten gekreuzigt und von einem Holzpflock durchbohrt. 
Die Spur führt zu einem offenbar kultisch verehrten Trash-Filmemacher mit den Initialen BR, von dessen mutmaßlichem letzten Meisterwerk „The Giving“ nur eine Szene dokumentiert ist, in der ein Schauspieler ebenso zu Tode gepfählt wird wie der Mann, der als Carl Hazelwood identifiziert wird und für einen Herumtreiber ungewöhnlich weiche Hände hatte. Für Turner, der in Cypress Grove viele neue Freunde wie die Anwältin Val Bjorn und eben Sheriff Bates findet, geht es weit mehr als um die Suche nach dem Täter, sondern die Ermittlungen führen ihn tief in seine eigene Vergangenheit, vor allem in die Zeit seines Gefängnisaufenthalts. 
„In dieser Kiste, die dein Zuhause und dein zweiter Körper geworden ist, erhält jeder noch so kleine Laut ein übertriebenes Gewicht. Das Entlangstreifen des Wärterknüppels über die Gitterstangen, der rasselnde Atem des Mannes auf der Pritsche unter dir, Unterhaltungen, die sich aus Nachbarzellen oder dem gegenüberliegenden Trakt einschleichen, ein Husten, das von Wand zu Wand prallt.“ (S. 171) 
James Sallis hat sich bereits mit seiner Lew-Griffin-Reihe wenig um Konventionen des Krimi-Genres geschert und die nicht immer erfolgreich abgeschlossenen Suchen seines Protagonisten nach vermissten Personen stets mit philosophischen Betrachtungen und Rückblicken in die bewegte Vergangenheit des Privatdetektivs und Schriftstellers unterfüttert. 
In „Dunkle Schuld“, dem Auftakt der nachfolgenden Trilogie um einen Ex-Cop, Ex-Sträfling und Ex-Therapeuten, der dem Moloch der Großstadt entkommen wollte und nun in der Provinz wieder in den Polizeidienst einsteigt, geht Sallis in dieser Hinsicht sogar noch strukturierter vor, wechselt mit jedem Kapitel von der Gegenwart in Turners Vergangenheit und wieder zurück. So bekommt der Leser mit jedem weiteren Kapitel aus Turners Vorgeschichte einen besseren Einblick in die irgendwie verloren wirkende Seele des sympathischen und unaufdringlich agierenden Mannes. 
Sein Einsatz in Vietnam, die versehentliche Tötung seines Partners während der Schlichtung eines Ehestreits, die elfjährige Haftstrafe und die unbefriedigende Tätigkeit als Therapeut haben tiefe Wunden in Turners Seele hinterlassen, aber das hindert ihn nicht, seine ganze Erfahrung einzubringen, um einen wirklich seltsamen Mordfall aufzuklären, der immer kuriosere Züge annimmt. 
Turner lernt dabei einen Filmfreak kennen, der sich auf Trashfilme spezialisiert hat und dem Ermittler seine persönliche Erkenntnis auf den Weg gibt, dass Trashfilme die Gesellschaft so zeigen, wie sie ist, während die Hochglanz-Produktionen aus Hollywood eher die Gesellschaft präsentiert, wie sie sich selbst gerne sieht. In gewisser Weise trifft das auch auf James Sallis‘ Werk zu, das weit entfernt davon ist, Trash zu sein. Aber seine Geschichten gehen in die Tiefe, folgen keinem Schema F und nehmen gerade die Biegungen, die auch das echte Leben so unvorhersehbar machen. 

 
Leseprobe James Sallis - "Dunkle Schuld"

James Sallis – (Lew Griffin: 2) „Nachtfalter“

Samstag, 4. Dezember 2021

(DuMont, 254 S., Tb.) 
Lew Griffin hat seine langjährige Tätigkeit als Privatdetektiv längst hinter sich gelassen und verdient in New Orleans seine Brötchen als Teilzeitlehrer und Schriftsteller, weshalb es dem mittlerweile Fünfzigjährigen möglich gewesen ist, seine Unterkunft in den respektablen Garden District zu verlegen. Doch als er in der Kinderintensivstation vor dem Brutkasten mit dem nicht mal 600 Gramm schweren Baby McTell steht, ist Griffin schon längst wieder auf der Spurensuche – und zwar auch auf den Spuren seines eigenen Lebens. Als seine langjährige Freundin LaVerne verstorben ist, taucht ihr letzter Ehemann, Chip Landrieu, bei ihm auf, um ihn zu engagieren. 
LaVerne hat nämlich zu der Zeit ihrer Ehe mit dem Arzt Horace Guidry eine Tochter namens Alouette geboren, zu der sie allerdings den Kontakt verlor, als Guidry nach der Scheidung das alleinige Sorgenrecht zugesprochen bekam. Doch Alouette nahm irgendwann Reißaus, brachte selbst viel zu früh ein Kind zur Welt – nämlich besagtes Baby McTell – und ist nun ihrerseits wie vom Erdboden verschluckt. Die Odyssee zu Alouette führt Griffin immer wieder zu sich selbst zurück, lässt Erinnerungen an vergangene Beziehungen – auch die zu der ehemaligen Prostituierten LaVerne – lebendig werden, aber auch an seine Zeit als Ermittler. Griffin kommt wieder mit all den düsteren Erlebnissen von Kindesmissbrauch und Gewalt in Berührung, die er längst hinter sich gehabt zu haben glaubte … 
„Wenn sich meine Phantasie in höhere Gefilde aufschwingt, denke ich mir Folgendes. Einst gab es Wesen, ein Geschlecht, eine Spezies (man kann es nennen, wie man will), die wahrhaftig auf diese Welt gehörten. Dann zogen sie irgendwann, aus irgendeinem Grund weiter, und wir traten an ihre Stelle. Seither versuchen wir einen endlosen Tag um den anderen, ihre Stelle einzunehmen. Aber wir werden immer Freunde bleiben, wir alle. Und trotz aller Mühen und sosehr wir uns auch verstellen mögen, werden wir nie ganz hierherpassen.“ (S. 108) 
Mit der Reihe um den Privatdetektiv/Lehrer/Schriftsteller Lew Griffin hat der US-amerikanische Schriftsteller James Sallis eine einzigartige Krimi-Serie geschaffen, in der zwischen 1992 und 2001 zwar sechs Romane erschienen sind, aber nur die ersten beiden – „The Long-Legged Fly“ und „Moth“ – ins Deutsche übersetzt wurden. Sallis‘ Debüt „Die langbeinige Fliege“ (später unter dem Titel „Stiller Zorn“ wiederveröffentlicht) ging im Zeitraffer die Stationen in Griffins Leben durch, machte den Leser mit Griffins unterschiedlichen Tätigkeiten, Aufträgen und Frauenbekanntschaften vertraut, steckte aber auch das Menschenbild und das gesellschaftliche Terrain ab, in dem sich sein belesener Protagonist bewegt. 
Mit dem Nachfolgeroman „Nachtfalter“ präsentiert sich Sallis etwas orthodoxer, aber noch immer jenseits der Genrekonventionen. Es mag zwar vor allem die Suche nach der Tochter seiner langlebigen Freundin sein, die die Handlung hier vorantreibt, aber Griffin schweift immer wieder in philosophische Betrachtungen und seine eigene Vergangenheit ab, lässt Beziehungen zu den ganz unterschiedlichen Frauen in seinem Leben und Fällen Revue passieren, die auf grausame Weise seiner momentanen Suche ähneln. Im Gegensatz zu konventionellen Krimis baut sich auch bei „Nachtfalter“ kein gewöhnlicher Spannungsbogen auf. 
Dafür überzeugt Sallis mit seinem einzigartigen Gespür für Sprache und Musik, den Rhythmus der Großstadt, das Elend und die Gewalt, die prekären Abhängigkeiten von Drogen oder schlechten Menschen. Fans von Bestseller-Thriller-Autoren, deren Plots nach Schema F gestrickt sind, werden sich mit Sallis und seiner Lew-Griffin-Reihe kaum anfreunden können, doch wer sich auf sprachlich gewandte, philosophisch unterfütterte Gegenwartsliteratur mit kriminellen Elementen einlassen kann, wird fürstlich belohnt.