Posts mit dem Label Håkan Nesser (Gunnar Barbarotti) werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Håkan Nesser (Gunnar Barbarotti) werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 7) „Schach unter dem Vulkan“

Sonntag, 24. Oktober 2021

(btb, 430 S., HC) 
Seit der schwedische Erfolgsschriftsteller Håkan Nesser 2003 mit „Sein letzter Fall“ seinen zehnten und vorerst letzten Roman um Kommissar Van Veeteren veröffentlichte, etablierte er mit Inspektor Barbarotti eine neue Figur, die fortan in Serie ermittelte. Mit „Schach unter dem Vulkan“ erscheint nun der bereits siebte Roman um den längst zum Kommissar beförderten Barbarotti, der mit seiner Kollegin und Frau Eva Backman im fiktiven Kymlinge das mysteriöse Verschwinden dreier Schriftsteller aufklären muss. 
Der erfolgreiche Schriftsteller Franz J. Lunde leidet seit zwei Jahren unter einer Schreibblockade. Seiner Lektorin Rachel Werner hat er zwar versichert, bis Weihnachten ein Manuskript über sechzig, siebzig Seiten vorzulegen, die Hälfte des Vorschusses ist auch schon ausbezahlt worden, doch die zündende Idee ist ihm bislang noch nicht gekommen. Als Lunde bei einer Lesung in Ravmossen aus dem Publikum mit der Frage einer Frau aus dem Publikum konfrontiert wird, ob er das perfekte Verbrechen, das er in seinem letzten Buch beschrieb, selbst erlebt habe, bricht der Moderator zwar die Fragerunde ab, doch im Hotelzimmer macht sich anschließend Angst bei dem Autor breit, der gerade an einem sehr autobiografisch gefärbten Manuskript mit dem Titel „Letzte Tage und Tod eines Schriftstellers“ arbeitet. 
Bei der anschließenden Lesung am 21. November in Kymlinge wiederholt sich der Vorfall, danach verschwindet Lunde spurlos von der Bildfläche. Als Lundes in der Schweiz lebende Tochter Viktoria tagelang keinen Kontakt zu ihrem Vater herstellen konnte, gibt sie eine Vermisstenmeldung auf. Während Barbarottis Kollegin und Frau Eva in Sydney verweilt, um ihrem fast dreißigjährigen Sohn Kalle aus der Klemme zu helfen. Er sitzt wegen des Verdachts auf Drogenbesitz und Misshandlung seiner Frau in Untersuchungshaft. In einem Gespräch mit Lundes Schwester und der Polizeianwärterin Sisulu erfährt Barbarotti, dass Lundes Frau vor einigen Jahren nach einer Wanderung an der Grenze zwischen den USA und Kanada verschwand und Lunde selbst vor ein, zwei Jahren auch völlig untergetaucht sei. 
Als aber mit der Lyrikerin Maria Green und dem gefürchteten Literaturkritiker Jack Walde zwei weitere Autoren von der Bildfläche verschwinden, ohne dass es einen Anhaltspunkt gibt, was es mit diesen Fällen auf sich hat, beginnen Barbarotti und seine dann aus Australien zurückgekehrte Frau mit der kaum Resultate bringenden Spurensuche. 
„Wie stellt man sicher, dass man mit diesem Frachter keinen Schiffbruch erleidet? Wenn nirgendwo Land in Sicht ist, wie gelingt es einem dann, wenigstens den richtigen Kurs zu finden? Er merkte, dass ihn Lindhagens länger zurückliegende Bemerkung ärgerte, drei Fälle ergäben ein besseres Muster als zwei. War das nur etwas gewesen, das man in die Runde warf, weil es schlau klang, oder war da etwas dran? Auf welche Weise konnte Jack Waldes Schicksal, wie immer es auch aussehen mochte, zur Klärung der Frage beitragen, was mit Franz J. Lunde und Maria Green passiert war?“ (S. 326) 
Mit „Schach unter dem Vulkan“ bewegt sich Nesser in einem Metiers, das er aus eigener Erfahrung nur zu gut kennt, doch bekommt der Leser nur wenig Neues aus dem Literaturbetrieb vermittelt, außer einer Idee davon, wie verschroben und zurückgezogen Schriftsteller sein können. Davon abgesehen plätschert der neue Barbarotti-Roman ebenso ziellos dahin wie die Ermittlungen von Nessers Protagonisten, der selbst etwas blass bleibt. Die kurze Krise, die die räumliche Trennung von Barbarotti und Backman heraufbeschwört, ist schon so schnell überwunden, wie Eva Backman wieder aus Australien zurückkehrt und sich mit ihrem Mann in die Ermittlungen reinhängt. 
Auch hier gewinnen die Figuren wenig Profil, am meisten noch Lunde und der Kritiker Walde, der unter Pseudonym sehr erfolgreich Romane verfasst, die er als Kritiker gnadenlos verreißen würde, doch Spannung kommt nie auf, da es nie auch nur einen Hinweis auf das Schicksal der drei vermissten Autoren gibt und erst zum Ende der Fall eher zufällig gelöst wird. 
Bis dahin lässt Nesser auch recht oberflächliche Kommentare zu Donald Trump und den Auswirkungen der gerade um sich greifenden Corona-Pandemie in die Geschichte einfließen, überzeugt mit humorvollen Einfällen und sprachlichen Feinheiten, doch insgesamt zählt „Schach unter dem Vulkan“ definitiv zu den schwächeren Werken des schwedischen Bestseller-Autors.  

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 6) „Barbarotti und der schwermütige Busfahrer“

Montag, 28. September 2020

(btb, 414 S., HC) 
Der Ideenhistoriker Albin Runge lebte zur Jahrtausendwende mit seiner Frau Viveka in Uppsala, wo sie beide an der Universität arbeiteten. Während die Theologin jedoch promovierte und einen halbwegs sicheren Job hatte, wurde Runge nie recht fertig. Als ihm und seinem Kollegen schließlich die Forschungsmittel am Institut gestrichen wurden, nahm er schließlich das Angebot von seinem Schwager Tommy an, in seinem Busunternehmen zu arbeiten. Runge ließ sich von Vivekas älteren Bruder die Ausbildung zum Busfahrer finanzieren und fand überraschenderweise Spaß daran, kunstinteressierte Rentner nach Skagen in Dänemark zu fahren und Orte wie Krakau, Madrid und Sankt Petersburg kennenzulernen, die er sonst nie besucht hätte. 
Doch im März des Jahres 2007 kommt es zur Katastrophe. Als Runge eine Gruppe von Neuntklässlern aus Stockholm zu einer Skifreizeit nach Duved fährt, versucht er einem Tier auf der Straße auszuweichen, gerät dabei auf der vereisten Fahrbahn in den Gegenverkehr und stürzt mit dem Bus zwanzig Meter einen Hang hinunter. Ungefähr die Hälfte der Fahrgäste kommt bei diesem Unfall ums Leben. Runge wird zwar wegen Gefährdung des Straßenverkehrs und fahrlässiger Tötung angeklagt, aber in allen Punkten freigesprochen. Die Ehe mit Viveka zerbricht, aber zwei Jahre später erbt Runge vierzig Millionen Kronen von seinen Eltern und lernt in der Bank die attraktive Angestellte Karin Sylwander kennen. Der unscheinbare Runge lädt die jüngere Frau zum Abendessen ein und heiratet sie wenig später. Fünfeinhalb Jahre nach dem tragischen Unglück erhält Runge mysteriöse Briefe, die er als Drohungen versteht und mit „Nemesis“ unterschrieben sind. Als sich die Drohungen auf den Jahrestag des Unglücks zuspitzen, weiht er die beiden Kommissare Eva Backman und Gunnar Barbarotti ein, die sich bereits seit fünfundzwanzig Jahren kennen, aber erst vor kurzem auch ein (heimliches) Liebespaar geworden sind. Viel kann die Polizei nicht unternehmen, ordnet jedoch eine Bewachung an, der sich Runge und seine Frau aber entziehen. Schließlich verschwindet Runge während der gemeinsamen Flucht auf der Fähre spurlos und wird schließlich für tot erklärt … 
Sechs Jahre später erschießt Eva Backman bei einem Einsatz einen siebzehnjährigen Jungen, bevor dieser eine Bombe unter ein Auto mit einem knutschenden Pärchen werfen konnte. Um der Unruhe wegen der internen Ermittlungen zu entgehen, nehmen sich Backman und Barbarotti eine Auszeit und ziehen sich in die Abgeschiedenheit Gotlands zurück. Als Barbarotti Albin Runge wiederzusehen glaubt, erwachen seine kriminalistischen Instinkte und rollt zusammen mit seiner Kollegin und Lebensgefährtin den ungelösten Fall wieder auf … 
„Was störte ihn am meisten, wenn es um diesen verfluchten Runge ging? Das heißt, abgesehen davon, dass er vielleicht lebte. Sicher, Barbarotti gönnte es ihm, dass er dem Tod entronnen war, aber wie in aller Welt war das nur möglich? Was war passiert? Welches Szenario hatten sie so vollständig übersehen, als sie vor fünf … nein, fünfeinhalb Jahren in dem Fall ermittelten? Rein polizeilich war er doch gelöst und zu den Akten gelegt worden. Dennoch blieb die Frage, was damals eigentlich passiert war.“ (S. 225) 
Mit seinem sechsten Fall um den etwas über fünfzigjährigen Kommissar Gunnar Barbarotti präsentiert der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser wieder einmal einen äußerst kniffligen Fall, in dessen Zentrum zwar die Frage steht, was aus dem 2013 verschwundenen Albin Runge letztlich geworden ist, der aber auch die Natur menschlicher Beziehungen thematisiert. Auf der einen Seite beschreibt Nesser, wie sich innerhalb der fünfeinhalb Jahre zwischen dem Verschwinden und dem vermeintlichen Wiederauftauchen von Albin Runge die Beziehung zwischen Barbarotti und der einige Jahre jüngeren Eva Backman von einer rein kollegialen zu einer Liebesbeziehung entwickelte, vor allem wird aber die weitaus komplexere Ehe von Albin Runge und Karin Sylwander seziert. 
Indem der Autor zwischen den Jahren und den Protagonisten hin- und herspringt, hält er geschickt die Spannung hoch. Albin Runge lässt er dabei vor allem durch seine eigenen Notizbuch-Eintragungen selbst charakterisieren, wobei die darin zum Ausdruck kommende Unscheinbarkeit und Lebensmüdigkeit durch die erste Begegnung mit Eva Backman noch verstärkt wird. Wie Backman und Barbarotti während ihrer Auszeit in Gotland schließlich den Fall wieder aufrollen, ist vor allem durch Barbarottis zwischenzeitlichen philosophischen Betrachtungen und dem damit korrespondierenden leichten Humor seiner Lebensgefährtin besonders lesenswert, aber auch die Art und Weise, wie die Geheimnisse in Runges Vergangenheit nach und nach gelüftet werden, sorgen dafür, dass die Leser bis zum Finale glänzend unterhalten werden. 

Håkan Nesser – (Gunnar Barbarotti: 5) „Am Abend des Mordes“

Dienstag, 16. Oktober 2012

(btb, 474 S., HC)
Nachdem seine Frau Marianne durch ein Aneurysma plötzlich verstorben ist, bekommt Inspektor Barbarotti von seinem Chef Asunander einen sogenannten „Cold Case“ zur alleinigen Bearbeitung. Offensichtlich will der Kommissar einen Monat vor seiner Pensionierung noch ein paar ungelöste Fälle abgearbeitet haben, vielleicht möchte er Barbarotti aber auch nur mit einem hoffnungslosen Fall beschäftigen, bis er wieder richtig bei der Sache sein kann. Vor fünf Jahren verschwand der damals 54-jährige Elektriker Arnold Morinder spurlos. Seine Lebensgefährtin Ellen Bjarnebo wurde deshalb verdächtigt, etwas mit dem Umstand zu tun zu haben, weil sie bereits 1989 den Beinamen „Die Schlächterin von Klein-Burma“ erhalten hatte, nachdem sie gestand, ihren Mann Harry Helgesson mit einem Vorschlaghammer erschlagen, zerstückelt und die Körperteile in Müllsäcken im naheliegenden Wald verstreut zu haben.
Während Barbarotti die alten Vernehmungsprotokolle durcharbeitet und alte Zeugen und mit dem Fall befasste Kriminalbeamte besucht, leitet seine Kollegin Eva Backman die Ermittlungen im Mordfall Raymond Fängström, Mitglied im Stadtrat von Kymlinge für die rechtspopulistischen Schwedendemokraten. Barbarotti nutzt die Reisen zu den Zeugen für einen Besuch seiner Tochter Sara in Stockholm, versucht, bei einem Trauertherapeuten mit dem Verlust seiner geliebten Frau umgehen zu lernen, befindet sich in einem Zwiegespräch mit Gott und hofft auf eine Zeichen, dass es Marianne im Jenseits gut geht.
„Die Trauer öffnete eine Tür zwischen Seele und Körper und wurde rein physisch empfunden. Nach Mariannes Tod hatte er gelernt, dass es so war – so sein konnte. Dass er tatsächlich gelähmt sein konnte, unfähig, aus dieser Position, dieser Gemengelage zu kommen, in der er sich befand. Wie gesagt, wie versteinert. Weil jede Bewegung, jede Handlung und jeder Gedanke völlig sinnlos waren. Unter dem schweren Druck der Trauer lag man platt. Das Atmen fiel ihm schwer, die Brust wurde zusammengepresst, statt sich zu weiten. War es das, was man gemeinhin panische Angst nannte? Er wusste es nicht. Man konnte nur abwarten, dass es aufhörte, zumindest ein klein wenig nachließ; das Einzige, was man eventuell tun konnte, war beten, aber wortlos, weil es keine Worte gab; als ein mehr oder minder heroischer Versuch, die Gedanken zu fokussieren. Auf sie. Auf die Hoffnung, dass sie in irgendeinem Sinne noch lebte. Darauf, dass es überhaupt so etwas wie einen Sinn gab.“ (S. 247) 
Bevor sich Barbarotti auf den Weg nach Lappland macht, um sich mit Ellen Bjarnebo zu treffen, warnt ihn Marianne vor der Gefahr, in die er sich begibt … Nach Van Veeteren hat der schwedische Bestseller-Autor Håkan Nesser mit dem halbitalienischen Inspektor Gunnar Barbarotti einen ebenfalls sehr sympathischen Protagonisten kreiert, der in „Am Abend des Mordes“ auch schon seinen fünften Fall bearbeitet. Dabei fügen sich gleich mehrere Fälle zusammen, die zunächst wenig miteinander gemein haben und bei denen sich erst allmählich herauskristallisiert, wie die Dinge wirklich liegen. Im Falle der „Cold Cases“ geschieht dies immer wieder durch Rückblenden, in denen vor allem die Beziehung zwischen der Verdächtigen und ihrem gehandicapten Sohn Billy im Zentrum stehen, aber auch ihr Verhältnis zu den beiden unbeliebten Männern, während Eva Backmans Fall eher im Hintergrund verläuft. Doch „Am Abend des Mordes“ überzeugt nicht nur allein durch Barbarottis Ermittlungsarbeit, die die Schwächen der vorangegangenen Verhöre und Schlussfolgerungen aufdeckt, sondern vor allem auch in der einfühlsamen Beschreibung von Barbarottis Innenleben nach seinem schmerzlichen Verlust. Das verleiht dem durchaus packenden Krimi eine zutiefst menschliche Note, für die Nesser wohlbekannt ist.
Leseprobe Håkan Nesser - "Am Abend des Mordes"