Seit dem Mord an seiner Frau Laura, die vor gut einem Jahr ihren Schlüssel vergessen hatte und während sie darauf wartete, dass ihr Mann die Tür öffnet, von einem Unbekannten erschossen worden ist, hat der 42-jährige Finanzbuchhalter Peter Taler jeden Antrieb verloren, weshalb er in der Baufirma, für die er arbeitet, bereits kritisch angesprochen wurde. Nach Feierabend setzt er sich in der Regel mit seinem ersten Feierabend-Bier ans Fenster seiner im zweiten Stock gelegenen Wohnung im Gustav-Rautner-Weg 40, kocht Spaghetti Pomodoro, spielt „Back to Black“ von Amy Winehouse und versucht auch sonst, in seinem Leben das Bild jenes Abends zu konservieren, als Laura starb.
In ihrem unverändert belassenen Zimmer zündet er sogar ihre Zigaretten an und lässt sie im Aschenbecher langsam runterbrennen. In dem etwas skurrilen Nachbarn Knupp findet Taler nahezu einen Gleichgesinnten. Auch er verlor seine Frau Martha, nachdem sie aus dem Urlaub in Nigeria zurückgekehrt waren und sie nach kurzer, aber schwerer Krankheit starb. Knupp hofft allerdings, die Geschicke ändern zu können, wenn er noch einmal genau die Zustände des schicksalhaften 11. Oktober 1991 herstellen und so den Tod seiner Frau abwenden kann.
Denn nach der Theorie des 1988 verstorbenen Walter W. Kerbeler wird Zeit allein durch Veränderung definiert. Wenn aber keine Veränderung stattgefunden hat, ist auch keine Zeit vergangen. Dass auch seine Frau Kerbelers Hauptwerk „Der Irrtum Zeit“ bei einem Antiquariat in Auftrag gegeben hat, macht Taler neugierig.
Er unterstützt den alten Witwer bei seinem umfangreichen Unterfangen, die von seinem Haus erkennbare nähere Umgebung in den Zustand vor zwanzig Jahren zurückzuversetzen, beauftragt ein Gartenbauunternehmen und jemanden, der die Automodelle auftreibt, die damals auf den Parkplätzen standen, und sie entsprechend umlackiert, tauscht Pflanzen und Müllcontainer aus und überprüft anhand unzähliger Fotografien von damals die Übereinstimmungen und Abweichungen. Im Gegenzug erwartet Taler Hilfe bei der Aufklärung des Mordes an Laura, denn auf einem von Knupps Fotos ist ein verdächtiges Moped zu sehen, dessen Halter Taler unbedingt ausfindig machen will. Doch als Taler in Lauras Privatleben beginnt herumzuschnüffeln, entdeckt er eine geheime Seite an ihr, die ihn zutiefst verunsichert.
„An diesem Nachmittag hatte sich das Gefühl, mit dem er an Laura zurückdachte, verändert. Er spürte nicht mehr das Bedürfnis, ihre Leibspeisen zu kochen, ihr Parfum zu versprühen, ihre Zigaretten abzubrennen, ihre Musik zu spielen. Er wollte die Illusion, sie wäre noch da, nicht beschwören, solange ihre Beziehung zu dem Mopedmann nicht geklärt war. Und damit die zu ihm.“ (S. 180)Mit „Die Zeit, die Zeit“ hat der aus Zürich stammende Martin Suter einen Zeitreiseroman der besonderen Art geschrieben. Statt jedoch in die Zeit zurückzureisen, um von bestimmten Schlüsselmomenten in der Vergangenheit aus so zu handeln, dass unerwünschte Ereignisse in der Zukunft nicht eintreten – wie in Robert Zemeckis fantastischer „Zurück in die Zukunft“-Trilogie -, strebt mit Knupp zumindest einer der Protagonisten in Suters Roman danach, die Zeit einfach nicht vergehen zu lassen, so dass er von dem letztlich durch eigenes Tun bewirkte Wiederherstellung einer Situation vor zwanzig Jahren die Zukunft in andere Bahnen lenken und seine Frau am Leben lassen kann, indem sie wie von ihr gewünscht nach Nepal und nicht Afrika reisen.
Bei aller minutiösen Planung wirkt das Experiment allerdings wenig schlüssig, das Wetter und verschiedene andere Aspekte können einfach nicht wie vor zwanzig Jahren rekonstruiert werden. Doch davon abgesehen gelingt es Suter auch nicht, die beiden Witwer mit überzeugendem Leben zu füllen. In ihrem gemeinsamen Bemühen, die Erinnerung an ihre geliebten Frauen wachzuhalten, wirken sowohl Taler, vor allem aber Knupp seltsam schablonenhaft. Einzig durch die eingeflochtene Kriminalgeschichte, in der nicht nur Lauras Ermordung, sondern auch ein vor kurzer Zeit verübter ähnlicher Mord aufgeklärt werden soll, wird die Spannung hochgehalten, während das große Experiment, das eigentlich im Zentrum des Romans steht, einfach nur zum Scheitern verurteilt scheint.
So interessant das Überlistung-der-Zeit-Thema auch ist, vermag Suter dem Sujet doch keine wirklich neuen Aspekte hinzuzufügen. Seine Figuren sind dabei ebenso trocken geraten wie seine schnörkellose Sprache, die nüchtern die Handlung beschreibt, ohne emotionale Tiefen auszuloten.
Leseprobe Martin Suter - "Die Zeit, die Zeit"
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