(Hoffmann und Campe, 527 S., HC)
Nach dem Abbruch seines Studiums beginnt für den 25-jährigen Martin Schlosser 1988 der Ernst des Lebens. Um die Miete seiner Wohnung in Oldenburg bezahlen zu können, jobbt er als Hilfsarbeiter in der Spedition für neun Mark die Stunde, während seine Freundin Andrea immerhin eine Mark mehr bekommt, wenn sie putzen geht. Eigentlich will Schlosser sein Prosadebüt mit dem Arbeitstitel „Die Weißheit der Indianer“ bei einem Verlag unterbringen, doch trotz etlicher Absagen lässt er sich nicht unterkriegen und bekommt mit seinen Kurzgeschichten und Reportagen immerhin beim „Alltag“ einen Fuß in die Tür.
Zwischen der Plackerei in der Spedition und dem Schreiben von Reportagen über das Leben im friesischen Jever und Kaffeefahrten verbringt Schlosser seine Zeit mit dem Lesen von „Der Spiegel“, „Frankfurter Rundschau“, „taz“, „Kowalski“, „Titanic“, „konkret“ und Karheinz Deschners „Kriminalgeschichte des Christentums“ sowie Romanen von Eckhard Henscheid, John Le Carré und Walter Jens. Vor allem hält ihn aber seine Familie auf Trab.
Seine Mutter möchte aus Meppen wegziehen, was der Vater überhaupt nicht versteht, dann bringt sich sein Cousin Gustav um, und der Mutter geht es mit ihrem Lymphdrüsenkrebs immer schlechter. Schließlich zieht Schlosser mit seiner Andrea nach Heidmühle, wo Schlosser nun in einer Kneipe jobbt und die Folgen der Wiedervereinigung am eigenen Leib zu spüren bekommt.
„Die DDR-Menschen, die sich im Fernsehen äußerten, sahen fast alle so aus, als ob sie sich um eine Nebenrolle in einer Parodie auf die TV-Serie Miami Vice bewerben wollten. Sie trugen sonderbare Formfleischfrisuren und hatten sich gruselige Oberlippenbärte wachsen lassen, die in mir den Verdacht erweckten, daß die realsozialistische Mangelwirtschaft auch dem Bartwuchs hinderlich gewesen sei.“ (S. 410)
Aufmerksam verfolgt Schlosser das Zeitgeschehen und steht auch einer spirituellen Weiterentwicklung offen gegenüber, während seine Freundin Andrea vielleicht doch nicht mehr mit Kindern arbeiten, sondern als Bauchtänzerin Karriere machen möchte …
Nach „Kindheitsroman“, „Jugendroman“, „Liebesroman“, „Abenteuerroman“, „Bildungsroman“ und „Künstlerroman“ legt der bei Hamburg lebende Schriftsteller Gerhard Henschel mit „Arbeiterroman“ bereits den siebten Band der großartigen Chronik seines Ich-Erzählers und Alter Egos Martin Schlosser vor.
Wie gewohnt gehen in kurzen Absätzen Alltagsbeschreibungen und -bewältigung, Familien- und Liebesprobleme, Lese- und Hörgewohnheiten sowie geistvolle Kommentare zum Zeitgeschehen fast nahtlos ineinander über und bilden so über einen Zeitraum von über einem Jahr umfassend sowohl Schlossers (alias Henschels) Kampf um die Anerkennung als Autor (inklusive Aufnahme bei der Künstlersozialkasse) als auch familiäre Auseinandersetzungen ab.
Besonders amüsant fallen aber vor allem seine Beobachtungen und Kommentare zu politischen Entwicklungen wie der Auflösung der DDR und kulturgeschichtlichen Anekdoten wie den Themen, die in der NDR Talk Show oder im Feuilleton der Tages- und Wochenzeitungen abgehandelt werden.
Das ist so lebendig geschrieben, als würde der Leser die Jahre 1988 bis 1990 noch einmal live miterleben und dazu die humorvoll-bissigen, aber durchaus treffenden Analysen zum Zeitgeschehen gleich mitgeliefert bekommen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen