Jonathan Franzen – „Die Korrekturen“

Sonntag, 29. März 2020

(Rowohlt, 782 S., HC)
Der 39-jährige Chip Lambert holt seine Eltern vom LaGuardia Airport in New York City ab, damit sie mit Nordic Pleasurelines eine weitere Kreuzfahrt antreten können, vielleicht die letzte in ihrem Leben, denn Chips Vater Alfred leidet zunehmend unter Parkinson. Dabei sitzen sie noch immer dem Missverständnis auf, dass Chip beim Wall Street Journal arbeitet. Stattdessen liefert Chip, der vor fast zwei Jahren seine Stelle als Assistenzprofessor im Fachbereich Text-Artefakte an einem College in Connecticut wegen eines Vergehens verloren hatte, in das eine seiner Studentinnen involviert gewesen war, nicht honorierte Beiträge für das Magazin Warren Street Journal: Monatsschrift der Transgressiven Künste ab. Seinen Lebensunterhalt verdient er durch einen Teilzeitjob als Korrektor bei einer Anwaltskanzlei, während sein gerade fertiggestelltes – von vor Phallusängsten und Brüsten triefendes - Drehbuch keinen Abnehmer findet. So bleibt ihm nur seine Wohnung in Manhattan und seine hübsche – leider verheirateten - Freundin Julia. Die hat natürlich von seiner Sexsucht bald genug und sucht das Weite. Interessanterweise erhält Chip ausgerechnet von Julias Mann, den litauischen Diplomaten Gitanas, das Angebot, ihn nach Litauen zu begleiten und bei seinem neuen Projekt zu unterstützen, bei dem es um die Gewinnung internationaler Investoren für die – natürlich betrügerische - „Parteigesellschaft Freier Markt“ geht.
Doch auch seine Geschwister haben ihre Probleme. Gary war erfolgreicher Abteilungsleiter bei der CenTrust Bank, leidet aber unter Depressionen und dem Gefühl, dass sich seine Frau Caroline und seine drei Kinder gegen ihn verschworen haben. Denise scheint es mit ihren 32 Jahren zunächst gut getroffen zu haben, macht als Spitzenköchin Karriere, doch die Ehe mit dem fast doppelt so alten Emile Berger hält nicht. Denise lässt sich von Brian Callahan engagieren, in den Räumen eines alten Kohlekraftwerks ein eigenes Restaurant zu leiten. Doch als sie sowohl mit Brian als auch seiner Frau Robin eine Affäre beginnt und beide davon erfahren, löst sich ihre Karriere in Luft auf. Von all diesen Problemen bekommen Alfred und Enid Lambert auf ihrem Kreuzfahrtschiff nichts mit. Enid ist nur noch von dem innigen Wunsch getrieben, ein letztes gemeinsames Weihnachtsfest in St. Jude zu feiern …
„Die letzten acht Weihnachten hatte sie im Exil, im fremden Osten, verbracht, und nun fühlte sie sich endlich zu Hause. Sie stellte sich vor, in dieser Landschaft begraben zu werden. Sie war glücklich bei dem Gedanken, dass ihre Gebeine einst an einem Hang wie diesem ruhen würden.“ (S. 665) 
Jonathan Franzen legte 2002 mit „Die Korrekturen“ seinen dritten Roman vor. Seine ersten beiden Werke „The Twenty-Seventh City“ (1988) und „Strong Motion“ (1992) wurden erst nach dem internationalen Erfolg seines dritten Romans in Deutschland veröffentlicht und untermauerten die erzählerische Qualität des 1959 in Western Springs, Illinois, geborenen und nun in New York lebenden Autors. In „Die Korrekturen“ entwirft er ein Familienportrait, das als Querschnitt der amerikanischen Mittelschicht gelesen werden kann. Während Alfred auf eine erfolgreiche Karriere als Bahningenieur zurückblickt, aber seiner Frau nach zwei Jahre zu früh in Pension gegangen ist, kam seiner Frau die Erziehung der Kinder zu, auf die sie keinen Einfluss mehr ausüben, da sie im ganzen Land verstreut ihren eigenen Lebensentwürfen folgen.
Franzen gibt sich viel Mühe, die einzelnen Biografien minutiös und überzeugend auszugestalten. Dabei bildet Chip das unstete Leben im Kreativ-Bereich ab, wirkt durch seine sexuelle Promiskuität, vor allem aber auch durch sein Engagement in Litauen wie eine Karikatur. Weitaus glaubwürdiger ist der Erzählstrang um den Banker Gary ausgefallen, der nicht wie sein Vater allein für das Aufkommen des Familienunterhalts zuständig ist und sich damit gewisse Rechte bei der Ausgestaltung des familiären Lebens herausnehmen könnte, sondern mit Caroline eine selbstbewusste, finanziell unabhängige Frau an seiner Seite hat, die souverän ihre eigenen Interessen zu vertreten versteht und für den größten Widerstand bei den Weihnachtsplänen ihrer Schwiegermutter sorgt.
Denise wiederum reibt sich zunächst im Beruf auf, trifft aber unglückliche Entscheidungen im Bereich ihrer persönlichen Beziehungen, was nicht ohne Folge auf ihre Karriere bleibt. Sie erweist sich allerdings am Ende als die gute Tochter, die sich im Gegensatz zu ihrem Bruder Gary am meisten darum sorgt, wie es mit ihren Eltern weitergeht. All diese Einzelschicksale verwebt Franzen zu einem großen Familienroman, der einerseits den Wechsel im Umgang mit Traditionen von einer Generation zur nächsten nachvollzieht, zum anderen aber auch die Probleme zunehmend individualisierter Lebensentwürfe in einer post-modernen Welt aufzeigt.
Franzen bezieht dabei die Probleme der „New Economy“ ebenso mit ein wie die Schwierigkeit, bei der grenzenlos erscheinenden Auswahl an geschlechtlichen und gesellschaftlichen Rollen seinen eigenen Weg zu finden, ohne die eigenen Eltern mit ihren festen Moralvorstellungen zu sehr vor den Kopf zu stoßen. Dabei bedient sich der Autor einer wunderbar fließenden, bildgewaltigen Sprache, die viel Humor und Sympathie für die Figuren erkennen lässt.

Francis Fukuyama – „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“

Samstag, 28. März 2020

(Atlantik, 238 S., Pb.)
Der 1952 geborene Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat 1992 mit seinem Bestseller „Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?“ darauf hingewiesen, dass weder Nationalismus noch Religion als Kräfte der Weltpolitik verschwinden würden. Die Tatsache, dass ein Vierteljahrhundert später ausgerechnet die wegweisenden Demokratien der USA und Großbritanniens mit der Wahl Donald Trumps einerseits und dem Beschluss, die Europäische Union zu verlassen andererseits, beängstigender Ausdruck nationalistischer Tendenzen geworden sind, haben den in Stanford lehrenden Professor dazu bewogen, mit seinem schmalen Band „Identität. Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet“ eine neue Bestandsaufnahme der Weltpolitik vorzunehmen.
Nachdem die Anzahl repräsentativer Demokratien zwischen den frühen 1970er und 2005 von ungefähr 35 auf über 110 angestiegen war, was mit einem Anwachsen wirtschaftlichen Austauschs (Globalisierung), der Vervierfachung weltweit produzierter Güter und erbrachter Dienstleistungen sowie der Verringerung des Anteils der unter extremer Armut leidenden Menschen um 17 Prozent einherging, ist die Tendenz mittlerweile rückläufig. Der Autor nennt in diesem Zusammenhang die 2008 vom US-amerikanischen Subprime-Markt verursachte Große Rezession und die Euro-Krise nach der drohenden Staatspleite Griechenlands. Russland und China nutzten diese Ereignisse, um eindeutig undemokratische Wege zu mehr Reichtum und Selbstbewusstsein einzuschlagen, 2011 sorgte der Arabische Frühling zwar zunächst für eine Zerschlagung von Diktaturen im Nahen Osten, konnte aber die Hoffnungen auf demokratische Prozesse nicht erfüllen, so dass sich Libyen, der Jemen, Irak und Syrien in Bürgerkriegen zerfleischten.
Als gemeinsamen Nenner für diese an sich ganz unterschiedlichen Ereignisse sieht Fukuyama das Problem der sogenannten „Identitätspolitik“. Überall auf der Welt würden sich Menschen nicht mehr damit abfinden, respektlos behandelt zu werden. Sowohl die Schwulenbewegung, die Frauenbewegung als auch die schwarze Bürgerrechtsbewegung und die jüngste #MeToo-Debatte haben darauf aufmerksam gemacht, dass sich Menschen wegen ihrer Rasse, ihrer Religionszugehörigkeit, ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Ausrichtung diskriminiert fühlen, und zwar über politische und kulturelle Grenzen hinweg. So verstand es Osama bin Laden beispielsweise, seinen Zorn über die Kränkung der Muslime in der ganzen Welt in seiner Al-Qaida-Bewegung so zu mobilisieren, dass sie mit Gewalt für einen Islamischen Staat eintraten.
In den USA waren es vor allem die ländlichen Wähler, die sich von den städtischen Oberschichten beider Küsten ignoriert fühlten und dankbar Trumps Wahlkampfslogan „Make American Great Again“ aufnahmen. Die Demokratien in aller Welt haben es bislang nicht verstanden, dem individuellen Wunsch nach Würde und Respekt befriedigend zu entsprechen. Schließlich hat schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel darauf aufmerksam gemacht, dass der Kampf um Anerkennung die höchste Antriebskraft der Menschheitsgeschichte sei.
„Viele zeitgenössische liberale Demokratien stehen vor einer immensen Herausforderung. Sie haben einen raschen wirtschaftlichen Wandel durchgemacht und sind infolge der Globalisierung weitaus vielfältiger geworden. Dadurch ist das Verlangen nach Anerkennung bei Gruppen geweckt worden, die früher für die Mehrheitsgesellschaft unsichtbar waren. Solche Wünsche bewirken einen subjektiv empfundenen Statusverlust bei den von ihnen verdrängten Gruppierungen und lösen eine Politik des Unmuts und der Gegenreaktion aus.“ (S. 194) 
Für Fukuyama besteht die Herausforderung darin, das drängende Problem der steigenden Anzahl von Immigranten dadurch zu lösen, dass die Immigranten in die nationale Bekenntnisidentität eines Landes einbezogen werden, denn nur so können sie eine gewinnbringende Vielfalt in die Gesellschaft tragen, während schlecht integrierte Einwanderer eine Belastung für den Staat und sogar eine Gefahr für die Sicherheit wären. Fukuyama führt seine klugen Überlegungen knapp und anschaulich aus, bemüht griechische Philosophen, frühneuzeitliche Denker wie Hobbes, Locke und Rousseau bis zu Soziologen und Politikwissenschaftler wie Samuel P. Huntington, um die Entwicklung des Identitätsbegriffs und den damit zusammenhängenden Problemen in immer komplexeren Gesellschaften zu beschreiben, wobei er überzeugend darlegt, warum gerade die linken Parteien an den aktuellen Herausforderungen scheitern.
Es sind zwar keine wirklich neuen Erkenntnisse, die der renommierte Politikwissenschaftler hier auftischt, aber in der Beobachtung und Analyse der gegenwärtigen globalen Krisen bietet „Identität“ einen kompakten Überblick.
Leseprobe Francis Fukuyama - "Identität"

Håkan Nesser – „Der Choreograph“

Mittwoch, 25. März 2020

(btb, 256 S., HC)
„Ich bin kein Schriftsteller, kein Mensch, der schreibt. Ich kann es nicht prinzipiell leugnen, dass mir der Prozess an sich gefällt, Buchstaben, Worte, einen Sinn zu formen, auf weißem Papier; aber nach vielen Stunden mit Stift und Notizbuch bin ich meistens nicht besonders interessiert an dem Ergebnis“, bekennt der Ich-Erzähler, den wir später nur durch einen Brief seiner Geliebten als David identifizieren können, gleich zu Beginn seiner ungewöhnlichen Erzählung. Sie beginnt in einem Eisenbahnabteil, einer unbekannten Landschaft mit einer unbekannten Frau, die der Reisende auf Deutsch angesprochen hat.
Er beobachtet aus den Augenwinkeln, wie sich ein Soldat dieser Frau nähert, doch das erotisch anmutende Intermezzo fällt in sich zusammen, als sich der Erzähler mit einem Schlucken bemerkbar macht. So ähnlich verhält es sich mit der schicksalhaften Bekanntschaft, die der Mann am Ziel seiner Reise macht. In K. begegnet der Mann, der vor zehn Jahren seine zweijährige Ehe scheiden ließ, in einem Geschäft der „schönsten Frau der Welt“. Er spricht die Frau namens Maria in dem roten Kleid mit den schwarzen Applikationen an, sie verabreden sich für den Nachmittag und lieben sich auf eine Weise, die in dem Erzähler das Verlangen nach Mehr weckt.
Doch Maria verschwindet immer wieder spurlos, bekennt, dass sie mit ihm nicht zusammen sein könne, kommt aber auch nicht von ihm los. Was folgt, ist eine kuriose Odyssee, eine Suche, in die schließlich auch Davids Kollegen von der Universität einbezogen werden, als er zusammen mit ihnen einen Ausflug in die Berge unternimmt. Doch ein romantisches Happy End ist dieser Beziehung natürlich nicht vergönnt …
„Wie konnten wir diese lange Zeit über zusammen sein, ohne Fragen zu stellen? Wie sonderbar erscheint das doch im Nachhinein. Einem anderen Menschen so nah zu sein und trotzdem nicht zu wissen, wer er eigentlich ist.
Doch etwas sagte mir, dass es genau so sein sollte.“ (S. 111) 
Der schwedische Schriftsteller Håkan Nesser ist durch seine charismatischen Kommissare bekannt geworden, vor allem mit der Reihe um Van Veeteren, die 1993 mit „Das grobmaschige Netz“ begann, später auch mit Gunnar Barbarotti, der 2006 in „Mensch ohne Hund“ seinen Einstand feierte. Doch bereits 1988 veröffentlichte Nesser mit „Koreografen“ seinen ersten Roman, der nun – längst überfällig – als limitierte Sonderausgabe anlässlich des 70. Geburtstags des Autors erschienen ist. Literarisch ist „Der Choreograph“ schwer einzuordnen. Das hängt vor allem mit der eigenwilligen Struktur der Erzählung zusammen. Was für den Ich-Erzähler als leidenschaftliche Romanze in einer fremden Stadt beginnt, entwickelt sich nur kurz zu einem Krimi-Plot, wenn die Suche nach Maria thematisiert wird und die Begegnung mit ihrem Mann einen dramatischen Höhepunkt zu versprechen scheint. Doch Nesser untergräbt die Erwartungshaltung des Publikums immer wieder geschickt. Indem Nesser die Geschichte in die Hände seines Erzählers legt, sind die Leser den Launen und der tiefer liegenden psychischen Befindlichkeiten ausgeliefert, also auch den unvermuteten Wechseln von Zeit, Ort und betroffenen Personen.
Es lässt sich gut nachvollziehen, dass „Der Choreograph“ erst jetzt in deutscher Übersetzung erscheint, denn für einen gänzlich unbekannten Autor wäre es schwer gewesen, mit so einem Stück die Lesermassen zu gewinnen. Dafür verschließt sich der Plot einer nachvollziehbaren Struktur, und nicht wenige Handlungsstränge verlaufen einfach im Nichts, bis auch das Ende viele Leser unbefriedigt zurücklassen wird. Auf der anderen Seite präsentiert „Der Choreograph“ bereits die schriftstellerischen Stärken des schwedischen Bestsellerautors, nämlich das immens ausgeprägte Einfühlungsvermögen in seine Figuren. Die bruchstückhaften Erzählungen, Erinnerungen und Phantasien, die der Ich-Erzähler lose aneinanderreiht, packen den Leser auf einer emotionalen Ebene und lassen ihn dann auch nicht mehr los, so dass es am Ende nicht viel ausmacht, dass eine konventionelle Auflösung der geschilderten Ereignisse ausbleibt.
Das mag nicht für alle Leser zutreffen. Abgerundet wird das Buch übrigens von einem sehr informativen Vorwort von Eugen G. Brahms und einem Nachwort von Paula Polanski, von der das zusammen mit Håkan Nesser veröffentlichte „Strafe“ ebenfalls bei btb erhältlich ist.
Leseprobe Hakan Nesser - "Der Choreograph"

Irvine Welsh – „Die Hosen der Toten“

Sonntag, 22. März 2020

(Heyne Hardcore, 474 S., HC)
1993 zeichnete der schottische Autor Irvine Welsh mit „Trainspotting“ das gelungene Portrait einer jungen Generation, für die es in der von Arbeitslosigkeit und Mietskasernen geprägten Post-Thatcher-Ära keinen Platz mehr in der Gesellschaft gab und die deshalb im Drogen- und Alkoholrausch versank. Mittlerweile, wir schreiben das Jahr 2015, sind die aus dem Edinburgher Stadtteil Leith stammenden Freunde Simon David „Sick Boy“ Williamson, Danny „Spud“ Murphy, Mark Renton und Francis James Begbie erwachsen geworden, doch nicht allen ergeht es so gut wie Mark, der als erfolgreicher DJ-Manager durch die Welt jettet, um seinen Klienten vor allem Drogen und Prostituierte zu beschaffen.
Als er auf einem Flug nach Los Angeles aber unerwartet seinem Erzfeind Franco/Frank/Francis Begbie begegnet, geht ihm ordentlich die Flatter, denn wie seine anderen ehemaligen Kumpel hat Renton auch Begbie damals um ein kleines Vermögen betrogen. Doch Begbie, der sich mittlerweile einen Namen als Künstler machen konnte und nun mit seiner Frau Melanie in Kalifornien, hegt überhaupt keine Rachegedanken.
Den anderen beiden Leith-Jungs ist es nicht so gut ergangen. Spud hat Rentons Rückzahlung der 15.000 Pfund gleich wieder in Drogen investiert und ist im illegalen Organhandel tätig. Dumm nur, dass sein Hund Toto die Niere anknabbert, die er nach Berlin transportieren soll. Dafür wird er selbst übel bluten müssen. Und Simon betreibt mit Colleagues einen exklusiven Escort-Service und wird Zeuge, wie sein sexsüchtiger Schwager Euan McCorkindale Ehebruch begeht, als das Video von seinem Seitensprung der ganzen Familie vorgeführt wird. Doch das ist nur der Anfang einer ganzen Reihe von schicksalhaften Begegnungen in ihrer alten Heimat Edinburgh, wo sich ein vertrauter Strudel aus Alkohol- und Drogenmissbrauch, ungeschützten, wilden Sex-Eskapaden und brutaler Gewalt entlädt und alte Ressentiments wieder aufbrechen lässt …
„Überall wimmelt es von alten Bekannten, wie zum Beispiel ,Trimmrad‘, die wir so genannt haben, weil sich jeder auf ihr abstrampelte, sie sich dabei aber kein Stück bewegte. Kaum erkennt sie mich, setzt sie diesen gleichzeitig nuttigen und unsicheren Gesichtsausdruck auf, den sie schon in den Leith-Academy-Tagen zur Schau gestellt hat. An ihrer Lippe klebt ne Zigarette. Ihr abwesender Blick und der durchgescheuerte Schulterriemen ihrer Handtasche lassen vermuten, dass Letztere am Ende des Tages nicht mehr in ihrem Besitz sein wird.“ (S. 305) 
Irvine Welsh hat es mit seiner „Trainspotting“-Reihe, zu der die Fortsetzung „Porno“ und das Prequel „Skagboys“ zählen, wie sein schottischer Kollege John Niven mit seiner trashigen Sprache und den humorvollen Szenarien voller abgefuckter Typen zum Kult-Autor gebracht.
Mit „Die Hosen der Toten“ bringt er die Reihe zu einem würdigen Abschluss, wobei es vor allem interessant zu verfolgen ist, was aus den damals so unterschiedlich veranlagten Versagern, die sich nur um Sex, Drugs und ebenso berauschende Tanzmusik kümmerten, nach über zwanzig Jahren so geworden ist. Dabei lässt Welsh seine rein männlichen Protagonisten abwechselnd die Erzählperspektive einnehmen, ohne ihnen allerdings eine eigene Stimme zu verleihen. Je mehr die einzelnen Handlungsstränge voranschreiten, um so mehr entsteht der Eindruck, als seien die Leith-Jungs, aus denen Begbie schließlich noch Büsten gießt, die für viel Geld den Besitzer wechseln, in ihrer Entwicklung nicht weiter vorangeschritten.
Zwar spielt die Musik nicht mehr so eine prägende Rolle in ihrem Leben, Sex und Drogen aber schon. Tatsächlich präsentiert sich Welsh in den Szenen, die von den merkwürdigsten – natürlich männlichen - Sex-Erlebnissen und -Phantasien handeln, am erfindungsreichsten, auch in sprachlicher Hinsicht. Stephan Glietsch hat hier großartige Arbeit bei der Übersetzung geleistet. Allerdings dürfte „Die Hosen der Toten“ mit seiner frauenfeindlichen Tonart tatsächlich nur ein männliches Publikum begeistern. Die Geschichte wirkt dabei seltsam zusammengestückelt, episodenhaft, die Figuren wenig konturiert, da sie nur von primitivsten Begierden getrieben werden.
Wer an den bisherigen „Trainspotting“-Büchern Gefallen fand, wird auch „Die Hoten der Toten“ unterhaltsam finden, doch ein ganz großes Finale stellt dieser Roman nicht dar. Dafür scheint Welsh zu sehr an oberflächlich zündenden Gags als an der Entwicklung seiner Figuren und der Beschreibung – selten vorkommender – familiärer Konzepte gelegen zu sein.
Leseprobe Irvine Welsh - "Die Hosen der Toten"

Jens Henrik Jensen – (Oxen: 4) „Lupus“

Sonntag, 15. März 2020

(dtv, 608 S., Pb.)
Nachdem der ehemalige, mit dem Tapferkeitsorden ausgezeichnete Elite-Soldat Niels Oxen zusammen dem ehemaligen PET-Geheimdienstchef Axel Mossman, dessen Neffen Christian Sonne und dessen Mitarbeiterin Margarethe Franck dabei half, den mächtigen Geheimbund Danehof zu zerschlagen, will sich Oxen zunächst um eine Annäherung zu seinem 14-jährigen Sohn Magnus kümmern, doch die gemeinsamen Besuche im Kopenhagener Zoo an den Wochenenden tragen nicht wirklich dazu bei. Auch seine regelmäßigen Termine bei einer Psychologin im Veteranenzentrum der Armee schaffen keine Abhilfe gegen Oxens Unwillen, Veranstaltungen mit größerem Menschenaufkommen zu besuchen, und andere Folgen seiner posttraumatischen Belastungsstörung. Eines Tages kommt Mossman zu Besuch, der jetzt einer eigenen Kommission vorsitzt und bei der Durchforstung der Danehof-Archive auf weiteres Unheil gestoßen ist, das sich zwar erst als undeutlicher Schatten abzeichnet, aber der anglizistisch veranlagte Mossman würde seinen „black knight in shining armour“ gern nach Jütland schicken, um auf einem abgelegenen Bauernhof einige Voruntersuchungen anzustellen.
Er macht Oxen den Ausflug nach Harrildholm mit der Aussicht schmackhaft, dass er auf dem Weg dahin auch das Haus in Brande besuchen könnte, wo er einst bei der Fischzucht gearbeitet hatte, um mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit abschließen zu können. Trotz seiner Absicht, nicht mehr für Mossman arbeiten zu wollen, ist Oxen nicht abgeneigt, nach dem vermissten Poul Hansen in der Harrilder Heide zu suchen, zumal in der Gegend nach zweihundert Jahren wieder Wölfe gesichtet worden sind, die Oxen schon immer fasziniert haben. Sein Sohn, der er mitgenommen hat, wird bei der ersten Besichtigung des Hofes Zeuge, wie sein Vater einen Einbrecher ausschaltet, und wenig später überschlagen sich die Ereignisse, bei denen Mossman und Oxen einer Organisation namens Lupus auf die Spur kommen, die die Justiz immer dann selbst in die Hand nimmt, wenn die staatliche Rechtsprechung zu versagen scheint. Und die Hinweise führen auch zwölf Jahre zurück, als Margarethe Franck nach einem Banküberfall den vermeintlichen Fahrer des Fluchtwagens erschoss und dabei ihr Bein verlor …
„Dort draußen waren Schatten. Schatten, die Risiken eingingen. Lupus-Schatten, die bis in Mossmans Anfangsjahre zurückreichten, vage Spuren eines feuchtfröhlichen Sommerabends unter Polizisten, auf einem Gartenfest in Roskilde … Und Jahre später auf einer Geburtstagsfeier im Søpavillon. Schatten, deren Existenz nur durch einen kleinen Fetzen Papier in den Hinterlassenschaften eines ehemaligen PET-Chefs angedeutet wurde, auf dem ein Millionenbetrag notiert worden war.“ (S. 298) 
Jens Henrik Jensen hat viele Jahre lang als Journalist in seiner dänischen Heimat gearbeitet und 1997 seinen Debütroman „Wienerringen“ veröffentlicht, bevor er sich seit 2015 ganz auf das Schreiben von Büchern verlegte. Mit seiner zwischen 2012 und 2016 erschienenen Trilogie um den hochdekorierten Ex-Jäger-Soldaten Niels Oxen hat Jensen schließlich auch international die Bestseller-Listen gestürmt und verständlicherweise weiterhin Lust gehabt, die Geschichte um seinen interessanten Protagonisten weiterzuerzählen.
Auch wenn der mächtige Danehof durch das beherzte Zusammenwirken von Mossman, Franck, Oxen und Sonne demaskiert und zerstört werden konnte, sind die staatsfeindlichen Kräfte in Dänemark natürlich nicht ausgemerzt. Der „Lupus“-Fall vereint nicht nur die Faszination für die in die Harrilder Heide zurückgekehrten Wölfe mit der nach dem Canis Lupus benannten Organisation, sondern versucht zumindest ansatzweise die persönliche Entwicklung des traumatisierten Ex-Elitesoldaten zu charakterisieren. Allerdings belässt es Jensen hier bei unbefriedigenden Ansätzen und konzentriert sich schnell auf die zunehmend komplexer werdenden Ereignisse auf dem verlassenen, aber von Kameras überwachten Hof in Mitteljütland. Hier erweist sich einmal mehr die Stärke des Autors. Während seine Figuren zwar an sich interessant sind, aber kaum tiefergehend charakterisiert werden, versteht er es meisterhaft, verschiedene zunächst unabhängig voneinander beobachtete Ereignisse nach und nach miteinander zu vernetzen. Mossman bleibt dabei so undurchsichtig wie eh und je, wobei seine ständig eingeworfenen Anglizismen auch schon nerven. Am meisten gewinnt noch Margarethe Franck an Profil, wenn die Ereignisse rekapituliert werden, unter denen sie ihr Bein verlor.
Spannung generiert „Lupus“ aber vor allem aus den wieder bis in die höchsten Polizeidienststellen reichenden Verwicklungen, die in professionell ausgeführten Selbstjustiz-Aktionen münden. Jens Henrik Jensen versteht es dabei, gesellschaftspolitisch relevante Themen fundiert aufzuarbeiten – wobei ihm sein journalistischer Hintergrund sicherlich förderlich ist – und diese in packende Thriller-Unterhaltung zu verpacken. An der Konturierung und Entwicklung seiner Figuren sollte Jensen aber noch arbeiten.
Leseprobe Jens Henrik Jensen "Lupus"

John Grisham – „Die Wächter“

Sonntag, 8. März 2020

(Heyne, 448 S., HC)
Cullen Post arbeitet für die gemeinnützige Organisation Guardian Ministries, die vor zwölf Jahren von Vicky Gourley gegründet wurde und es sich zur Aufgabe gemacht hat, unrechtmäßig (oft zum Tode) verurteilte Menschen zu rehabilitieren. Der 38-jährige Duke Russell ist derzeit einer von Posts fünf Mandaten. Er soll vor elf Jahren Emily Broone vergewaltigt und ermordet haben und wurde dafür vor fünf Jahren zum Tode verurteilt. Der ermittelnde Staatsanwalt Chad Falwright hat Posts Meinung nach damals schlampige Ermittlungen geführt und den damals zweiundzwanzigjährigen Mark Carter, der das Opfer als Letzter lebend gesehen hat, gar nicht als Verdächtigen eingestuft, während Post ihn für den Täter hält. Er muss es nur noch beweisen.
Damals wurden Bissspuren und Schamhaare von Pseudo-Sachverständigen zu erdrückenden Beweisen hochstilisiert, obwohl keine DNA-Analysen der Schamhaare durchgeführt wurden. Nachdem das Todesurteil für Russell aufgeschoben worden ist, widmen sich Post und sein schwarzer Kollege Frankie Tatum einem Fall, der bereits seit drei Jahren auf dem Schreibtisch von Guardian Ministries liegt: Quincy Jones wurde wegen Mordes an dem 37-jährigen Anwalt Keith Russo zum Tode verurteilt und wartet seit 22 Jahren im Gefängnis auf die Vollstreckung des Urteils.
Jones war damals Russos Mandant in Seabrook, aber unzufrieden mit dem Ergebnis, wie er die ihm anvertraute Scheidungsangelegenheit geregelt hatte. Verschiedene offensichtlich falsche Aussagen, von einem Gefängnisspitzel ebenso wie von Quincys Ex-Frau Diana, besiegelten das Urteil. Vor allem wurde dem Angeklagten eine Taschenlampe zum Verhängnis, die im Kofferraum von Quincys Wagen gefunden wurde, die ein Sachverständiger als Tatwaffe deklarierte, obwohl er das Objekt nie gesehen, sondern seine Blutspurenanalyse nur aufgrund von Farbfotos durchgeführt hatte. Doch als sich Post und seine Kollegen näher mit dem Fall befassen, stoßen sie auf ein undurchdringliches Geflecht aus Korruption und Intrigen.
Obwohl Guardian Ministries in erster Linie darum bemüht ist, bei ihren ausgesuchten Fällen die für unschuldig gehaltenen Mandanten wieder in Freiheit zu sehen, liegt Post in diesem Fall auch viel daran, den wahren Täter zur Verantwortung zu ziehen. Seiner Meinung nach steckt der korrupter Sheriff Pfitzner hinter dem Verbrechen, weil er verhindern wollte, dass Russo, der sein Geld vor allem als Anwalt für die Drogenmafia machte und schließlich vom FBI als Informant umgedreht wurde, sein Wissen um Pfitzners Beteiligung an dem Komplott kundtun konnte. Doch nicht zuletzt die in den Fokus der Ermittlungen gerückte Mafia versucht mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Wahrheit ans Licht kommt …
„Sie wollen sich uns nicht offen in den Weg stellen, uns Angst einjagen, uns einschüchtern, zumindest jetzt noch nicht, weil das ihre Existenz bestätigen würde und sie wahrscheinlich ein weiteres Verbrechen begehen müssten, was sie gern vermeiden würden. Ein Feuer, eine Bombe oder eine Kugel könnten hohe Wellen schlagen und Spuren hinterlassen.
Quincy aus dem Weg zu räumen ist die einfachste Methode, die Ermittlungen zu torpedieren.“ (S. 274) 
John Grisham, der selbst jahrelang als Anwalt praktiziert hat, lässt sich für seine Romane immer wieder von realen Fällen inspirieren, so auch für „Die Wächter“. Wie der US-amerikanische Bestseller-Autor in seiner Anmerkung am Ende erwähnt, hat er den Fall des immer noch inhaftierten Joe Bryan, der vor dreißig Jahren zu Unrecht verurteilt worden war, seine Frau ermordet zu haben, und dafür noch immer in einem texanischen Gefängnis einsitzt. Grisham macht überhaupt keinen Hehl daraus, was er von der amerikanischen Justiz hält, die sich viel zu sehr auf Möchtegern-Sachverständige verlässt, die für ansehnliche Honorare alles aussagen, was die Ankläger hören wollen. Die Schwarz-Weiß-Malerei wirkt bei John Grisham gerade bei „Die Wächter“ etwas sehr dick aufgetragen, aber da er die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Cullen Post schreibt, der aus eigener Erfahrung gelernt hat, wie fehlerhaft das Justiz-System in den USA funktioniert, fällt dieses Manko im Verlauf der Geschichte immer weniger ins Gewicht.
Dafür entwickelt der Plot – wenn auch auf sehr vorhersehbaren Bahnen – einen unwiderstehlichen Sog, der seine Spannung vor allem durch die Suche nach neuen Beweisen generiert, die Posts Mandanten endgültig entlasten. „Die Wächter“ zählt zwar nicht zu den stärksten Werken von John Grisham, macht aber – wieder einmal - thematisch auf eine erschreckende Ungerechtigkeit im US-amerikanischen Justizsystem aufmerksam.
Leseprobe John Grisham - "Die Wachter"

Hari Kunzru – „Götter ohne Menschen“

Dienstag, 3. März 2020

(Liebeskind, 414 S., HC)
Im Jahre 1947 ließ sich der ehemalige Flugzeugingenieur Schmidt in der kalifornischen Mojave-Wüste an einem Ort in der Nähe der drei Felssäulen der Pinnacles nieder, weil er dort mit Wünschelrute und Bodenmessgerät ein Kraftfeld entdeckt hat, eine natürliche Antenne, mit der er Kontakt zu Außerirdischen aufnehmen könnte. Er pachtete das gewünschte Gelände für zwanzig Jahre, kaufte sich einen gebrauchten Airstream-Trailer, entdeckte schließlich eine alte Goldgräberhöhle in den Felsen, legte eine Landepiste für Flugzeuge an und eröffnete ein kleines Café, in dem er Kaffee und Spiegeleier servierte, um nicht nur seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern vor allem seine Botschaft von Liebe und Brüderlichkeit zwischen allen Wesen im Universum zu verbreiten. Tatsächlich entdeckte er eines Abends ein helles Licht über dem Horizont, beobachtete die Landung eines Fahrzeugs und begrüßte zwei menschliche Gestalten in weißen Gewändern.
Elf Jahre später versuchte er die Botschaft des Weltfriedens durch den dort errichteten Ashtar Galactic Command an möglichst viele Menschen zu verbreiten. Bereits 1778 war dort dem Missionar Fray Francisco Hermenegildo Tomás Garcés ein Engel erschienen. Nun machen sich Jaz und Lisa Matharu mit ihrem autistischen Sohn Raj auf dem Weg in diese Wüste, wo sie hoffen, dem stressigen Alltag in New York zu entkommen und ihre Ehe zu kitten hoffen. Dass Jaz als Trader an der Wall Street für den Familienunterhalt aufkam und Lisa sich allein um die Erziehung ihres problematischen Sohnes kümmern musste, hat der Beziehung ebenso wenig gutgetan wie Jaz‘ familiärer Hintergrund. Obwohl er in Baltimore und nicht in Indien aufgewachsen ist, hängen ihm seine Eltern nach wie vor mit den Traditionen und Vorstellungen ihrer Heimat in den Ohren. Doch der Ausflug zu den Felsen endet in einem Fiasko. Nach einem lauten Knall ist Raj plötzlich spurlos verschwunden.
Die Suche nach Raj nimmt die Polizei und die Aufmerksamkeit der Medien voll in Anspruch. Je mehr Zeit vergeht, ohne dass der Junge wieder auftaucht, umso öfter tauchen im Internet Vermutungen auf, dass Jaz und Lisa für das Verschwinden ihres Sohnes verantwortlich sind …
„Bald würde von Raj nichts mehr übrig sein als ein paar blanke Zettel an den Pinnwänden des Nationalparks. Wenn der letzte Journalist ihn vergessen hatte, würden Lisa und er ebenfalls verschwinden, ausgelöscht aus dem kollektiven Gedächtnis.“ (S. 351)
Seit seinem Debütroman „The Impressionist“, der 2002 in deutscher Übersetzung als „Die Wandlungen des Pran Nath“ erschien, zählt der britische Journalist („The Guardian“, „Daily Telegraph“, „Wired“) und Romanautor Hari Kunzru zu den interessanteren Stimmen der Gegenwartsliteratur und wurde 2003 sogar von der Literaturzeitschrift „Granta“ unter die zwanzig besten jungen britischen Romanautoren gewählt. Nach seinem Einstand bei Liebeskind mit „White Tears“ legt der Sohn einer Engländerin und eines Inders mit „Götter ohne Menschen“ einen Roman vor, der zwar auf unterschiedlichen Zeitebenen angelegt ist, im Grunde genommen aber über ein 230 Jahre auf einen Ort fokussiert ist, nämlich den Pinnacles-Nationalpark in Kalifornien.
Hier kommt es über all die Jahrzehnte zu ganz unterschiedlichen Ereignissen, die aber allesamt einen mystischen Kontext besitzen. Dem jeweiligen Zeitgeist angemessen kommt es hier zunächst zu göttlichen Erscheinungen, Begegnungen mit Außerirdischen und zu einer sektenähnlichen Verbindung, die ihre eigene Art findet, ihre Botschaft der Liebe und des Weltfriedens zu verbreiten. Anno 2008 ist von diesen Motiven wenig übriggeblieben. Das bekommen Kunzrus Protagonisten Jaz und Lisa besonders deutlich zu spüren, als ihr Sohn unter mysteriösen Umständen verschwindet. An ihrem Schicksal zeigt der Autor wunderschön auf, wie ein solch dramatisches Ereignis nicht mehr mit guten oder bösen Mächten in Verbindung gebracht wird, sondern einfach nur noch als Medienereignis zelebriert wird. Die Rolle wie auch immer gearteter göttlicher Wesen und Mächte haben längst die Foren, Blogs und Tweets im Internet übernommen, wo blitzschnell Meinungen gebildet, verbreitet und letztlich für bare Münze gehalten werden, was letztlich den Erfolg von Donald Trumps Regierungskonzept erklärt.
Doch Kunzru zeigt nicht nur den modernen Umgang mit unerklärlichen Ereignissen auf, sondern skizziert in den weitaus kürzeren Episoden, die sich seit 1778 bis in die jüngere Vergangenheit erstrecken, wie sich das Verhältnis des Menschen zu Gott entwickelt hat, wie sich im Zuge dessen die Strukturen von Selbstbetrachtung, Identität, Meinung, Glaube und Macht verschoben haben. Allerdings enthält sich Kunzru dabei einer Wertung, sondern beschränkt sich darauf, die Zeichen der jeweiligen Zeit in episodenhaften Geschichten zu thematisieren. Dabei gewinnen einzig Jaz und Lisa etwas an Persönlichkeits-Struktur mit Identifikations-Potential.
„Götter ohne Menschen“ überzeugt aber ohnehin weniger durch die Hauptgeschichte um das Schicksal einer Familie, die an dem Verschwinden des Kindes zu zerbrechen droht, sondern als akzentuierte Gegenüberstellung der Entwicklungsgeschichte menschlichen Glaubens.
Leseprobe Hari Kunzru - "Götter ohne Menschen"