Håkan Nesser – (Van Veeteren: 11) „Der Verein der Linkshänder“

Mittwoch, 27. November 2019

(btb, 606 S., HC)
Um sich gegen unliebsame Geburtstagsgäste und -glückwünsche zu wappnen, gibt der pensionierte Kriminalkommissar Van Veeteren bekannt, anlässlich seines 75. Geburtstages mit seiner Lebensgefährtin Ulrike Fremdli nach Neuseeland verreisen zu wollen. Ganz so weit weg möchte das Paar zwar nicht, doch dass der geplante Trip kein reines Vergnügen zur Erholung wird, dafür sorgt schon Van Veeterens früherer Kollege Münster, der den Bücherliebhaber mit einem alten Fall konfrontiert. Vor zwanzig Jahren hatten es Münster und Van Veeteren nämlich mit einem verheerenden Brand einer Pension in Oosterby zu tun, bei dem vier Personen ums Leben gekommen sind, die zu Schulzeiten den „Verein der Linkshänder“ gegründet und sich in Mollys Pension zu einem Wiedersehenstreffen verabredet hatten.
Als mutmaßlicher Täter wurde schnell das Vereinsmitglied Qvintus Maasenegger ausgemacht, der das Treffen organisiert hatte, aber nicht unter den Toten identifiziert werden konnte und danach untergetaucht geblieben war. Dass der vermeintliche Täter nun selbst tot in einem nahegelegenen Waldstück entdeckt wurde, stellt die offensichtlich voreilig gezogenen Schlüsse bei den Ermittlungen auf den Kopf, denn Maasenegger wurde wohl in etwa zur gleichen Zeit getötet wie seine vier Vereinskollegen in der Pension.
Da die Pension, in der Van Veeteren mit seiner besseren Hälfte die nächsten zwei Wochen verbringen will, nur wenige Kilometer vom damaligen Tatort entfernt liegt, nimmt der Pensionär Kontakt mit dem damals zuständigen Kommissar vor Ort und dem jetzigen Kommissar Radovic auf und versucht, die Ereignisse von damals neu aufzurollen und weitere Hintergrundrecherchen durchzuführen. Dabei ergeben sich Zusammenhänge mit einem Entführungsfall und einem Brief, mit dem eine ehemalige Nonne ihr Gewissen erleichtern will. Als eine weitere Leiche mit einer Axt im Kopf entdeckt wird, kommen auch Kommissar Barbarotti und seine Kollegin/Freundin Eva Backman ins Spiel …
„Der Fall war wirklich nicht besonders kompliziert gewesen. Der Meinung war damals jeder gewesen. Sie waren sich alle einig und hatten völlig daneben gelegen.
Denn der Abend in Mollys betagter Pension war nicht so abgelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatten. Oder doch, das war er wohl schon, aber die Teilnehmerliste stimmte nicht. Es mussten sechs Personen beteiligt gewesen sein, nicht fünf. Fünf Opfer und ein Täter. Nicht vier Opfer und ein Täter, oder?“ (S. 154) 
2006 erschien mit „Sein letzter Fall“ der eigentlich letzte Roman mit dem charismatischen Kommissar Van Veeteren, der sich damals seines einzigen ungelösten Falls in seiner Karriere noch einmal annehmen musste. Mittlerweile genießt er seinen wohlverdienten Ruhestand und kann sich seiner Leidenschaft für Bücher widmen. Doch sein Ermittlerinstinkt wird durch Münsters Besuch reaktiviert, denn die Entdeckung von Maaseneggers Leiche wirft ein unschönes Licht auf die schlampigen Ermittlungen vor zwanzig Jahren, was auch Van Veeterens Lebensgefährtin nicht müde wird zu betonen, die übrigens als „Vernehmungspsychologin“ sehr stark in den neu aufgerollten Fall involviert ist. Irgendwann in der zweiten Hälfte, als eine weitere Leiche auftaucht, kreuzen sich doch noch die Wege von Van Veeteren und Nessers aktuellen Serien-Protagonisten Gunnar Barbarotti, der jedoch kaum zur Aufklärung beitragen kann. Nesser erweist sich in seinem elften Roman um Van Veeteren einmal mehr als souveräner Erzähler, der einen alten Fall zum Anlass nimmt, den fast 75-jährigen Pensionär eine verpfuschte Ermittlung im neuen Licht zu betrachten, wobei ihm seine pfiffige Lebensgefährtin Ulrike Fremdli mehr als nur eine beiläufige Unterstützung gewährt. Geschickt verwebt der Autor verschiedene Zeitebenen und Handlungsorte, bringt durch das Rekapitulieren vergangener Ereignisse, Briefe, Erinnerungen, Tagebucheintragungen, neue Verhöre und aktuelle Gedanken des Täters auf raffinierte Weise nach und nach die Puzzleteile zur Auflösung zusammen und hält so die Spannung auf einem hohen Niveau.
Die immer wieder eingestreuten philosophischen Betrachtungen des pensionierten Kommissars und der warmherzige Humor machen auch „Der Verein der Linkshänder“ zu einem kurzweiligen Lesevergnügen, das erst zum Ende hin durch einige Längen leicht getrübt wird. Wer weiß, vielleicht kehrt Van Veeteren doch noch für den einen oder anderen kniffligen Fall ins Rampenlicht zurück …
Leseprobe Håkan Nesser - "Der Verein der Linkshänder"

Cormac McCarthy – „All die schönen Pferde“

Donnerstag, 21. November 2019

(Rowohlt, 334 S., Tb.)
Die beiden jungen Männer John Grady Cole und Lacey Rawlins haben genug vom eintönigen Leben als Viehtreiber in New Mexico und träumen von großen Abenteuern. Nachdem Grady bei seinem Großvater auf dessen Ranch im texanischen San Angelo aufgewachsen war, hält den Sechszehnjährigen nichts mehr dort, als der alte Mann 1949 stirbt. Zusammen mit ihren Pferden hoffen sie jenseits der Grenze in Mexiko ihr Glück zu finden und werden unterwegs vom dreizehnjährigen Jimmy Blevins ergänzt, der offensichtlich auf einem Pferd reitet, das ihm nicht gehört, und zudem eine Waffe trägt, die ihm aber während eines Gewitters gestohlen wird. Tatsächlich finden sie in der Nähe von Coahuila Arbeit auf einer mexikanischen Hacienda, wo sich der reiche Pferdezüchter schnell beeindruckt von Gradys Pferdekenntnissen und seiner Fähigkeit zeigt, Wildpferde zuzureiten.
Doch das Glück der angebotenen Festanstellung hält nicht lange an: Grady verliebt sich in die hübsche Tochter des Patrons und beginnt eine heimliche Liebesaffäre mit Alejandra, die allerdings nicht lange geheim bleibt. Vor allem Alejandras dem unspektakulären Leben auf dem Lande nach Mexiko City entflohene Mutter interveniert und untersagt ihrer Tochter jeden weiteren Umgang mit dem unterprivilegierten Jungen, den sie zu bestechen versucht. Als währenddessen Blevins beim Versuch, seine Pistole zurückzubekommen, einen Mann tötet, festgenommen wird und beim Verhör die Namen seiner beiden vermeintlichen Komplizen verrät, dauert es nicht lange, bis auch Rawlins und Grady verhaftet werden und eine harte Zeit in einem mexikanischen Gefängnis verbringen müssen, wo sie gequält und zusammengeschlagen werden.
„Er erinnerte sich an Alejandra und an die Traurigkeit, die er von Anfang an in ihren geneigten Schultern gesehen und zu verstehen gemeint hatte, obwohl er doch gar nichts von ihr wusste, und er empfand eine Einsamkeit wie seit seiner Kindheit nicht mehr. Er fühlte sich gänzlich fremd in dieser Welt, auch wenn er sie immer noch liebte. Er fand, in der Schönheit der Welt lag ein Geheimnis verborgen. Er fand, der Herzschlag der Welt hatte einen furchtbar hohen Preis.“ (S. 312) 
Zwischen 1965 und 1985 veröffentlichte der aus Rhode Island, Providence, stammende Schriftsteller Cormac McCarthy gerade mal fünf Romane (darunter „Ein Kind Gottes“ und „Die Abendröte im Westen“), doch erst mit dem 1992 erschienenen Werk „All the Pretty Horses“ gelang McCarthy der Durchbruch, der mit der Platzierung auf Bestseller-Listen und der Auszeichnung mit dem National Book Award einherging. Dabei ist „All die schönen Pferde“ – im Jahre 2000 auch erfolgreich von Billy Bob Thornton mit Matt Damon und Penelope Cruz in den Hauptrollen verfilmt – alles andere als leichtverdauliches romantisches Western-Abenteuer.
Zwar greift McCarthy verschiedene Mythen und Träume von Freiheit und einem Leben in Abenteuer auf, doch nimmt er sich viel Zeit, die unwirtlichen Umstände zu beschreiben, unter denen die beiden jugendlichen Freunde Richtung Mexiko losziehen. Auf ihrem Roadtrip zu Pferde machen sie die unterschiedlichsten Bekanntschaften, von denen ausgerechnet die mit dem gerade mal 13-jährigen Blevins tragische Konsequenzen nach sich zieht. Zu dem dramatischen Verlauf trägt aber natürlich auch die unmögliche Liebe zwischen dem reichen Mädchen und dem mittellosen Abenteurer bei, die vorhersehbaren Zügen folgt.
Der Mythos vom Reisen durch unentdeckte Landstriche bekommt durch schicksalhafte Begegnungen zunehmend tiefere Risse, findet die romantische Liebe letztlich keine Erfüllung. McCarthy beschreibt diese Odyssee in einer unvergleichlichen Sprache, die die karge Landschaft und die wilden Pferde zum Leben erweckt, wobei die teils wunderschönen Dialoge mitten ins Herz gehen.
„All die schönen Pferde“ ist der Auftakt der sogenannten „Border-Trilogie“, zu der noch „Grenzgänger“ (1994) und „Land der Freien“ (1998) zählen.
Leseprobe Cormac McCarthy "Die Border-Trilogie"

Håkan Nesser – (Van Veeteren: 1) „Das grobmaschige Netz“

Samstag, 16. November 2019

(btb/Weltbild, 256 S., HC)
 Als der Gymnasial-Lehrer Janek Mitter morgens um zwanzig nach acht aufwacht, spürt er nur die unangenehmen Nachwirkungen des Saufgelages vom vorigen Abend. Nicht mal an seinen Namen kann er sich erinnern. Immerhin ist er bei sich zuhause, wie ihm erste Schritte durch die Wohnung verraten. Merkwürdig ist nur, dass die Badezimmertür von innen verriegelt ist. Mit einem Schraubenzieher öffnet er die Tür und sieht sich mit einer furchtbaren Entdeckung konfrontiert: Seine Kollegin Eva Ringmar, mit der er seit drei Monaten verheiratet ist, liegt mit seltsam verrenkten Gliedmaßen tot in der Badewanne. JM, wie er üblicherweise genannt wird, wirft zwei weitere Schmerztabletten ein und informiert die Polizei.
Da er vorgibt, unter einem völligen Gedächtnisverlust über den gestrigen Abend zu leiden, wird Mitter als Tatverdächtiger festgenommen, aber auch seinem Anwalt Rüger kann er keine weiteren Angaben machen. Vor Gericht wirkt Mitter seltsam unbeteiligt, was auch Kriminalkommissar Van Veeteren überrascht, der den Prozess eher aus Langeweile verfolgt und schon ans Aufhören denkt. Er gibt sich eine Woche Zeit, der Sache auf den Grund zu gehen, dann kündigt er oder macht zumindest erst einmal Urlaub in Australien. Sein Gefühl, dass irgendetwas merkwürdig an dem Fall ist, trügt Van Veeteren nicht, denn als der Angeklagte verurteilt und in ein Sanatorium eingeliefert, wo ihm seinem Gedächtnis wieder auf den Sprung geholfen werden soll, wird auch er ermordet. Zusammen mit seinem Kollegen Münster nimmt Van Veeteren die wenigen Freunde und Bekannten, vor allem aber das Kollegium der beiden Ermordeten ins Visier. Schon bald kommen die Ermittler zum Schluss, dass der Täter nicht zum ersten Mal getötet hat und sehr persönliche Motive gehabt haben muss. Dabei scheint sich vor allem Evas Vergangenheit zum Schlüssel für die Auflösung zu erweisen …
„Wenn Eva Ringmar eine Schattengestalt war, dann waren die Konturen ihres Mörders noch um einiges vager. Der Schatten eines Schattens war er. Van Veeteren fluchte und biss seinen Zahnstocher entzwei.
Sprach denn überhaupt irgendetwas dafür, dass er auf der richtigen Fährte war? Tappte er denn nicht in mehr als nur einer Hinsicht im Dunkeln? Und was, zum Henker, mochte der Mörder für ein Motiv haben?“ (S. 177) 
Es ist ein ungewöhnlicher Fall, mit dem sich der ausgebrannte Kriminalkommissar Van Veeteren in dem Romandebüt des schwedischen Schriftstellers Håkan Nesser aus dem Jahre 1993 herumschlägt. Dabei ist weniger der Umstand, dass sich der vermeintliche Täter nicht an die Ereignisse des Vorabends erinnern kann, so außergewöhnlich, sondern die geschilderte Ermittlungsarbeit und vor allem die gebrochene Figur von Van Veeteren, der auch heute noch zu den charismatischsten Ermittlern zählt, die das Krimi-Genre hervorgebracht hat. Als er nach 20 Seiten eingeführt wird, bekommt der Leser gleich einen Eindruck von dessen Persönlichkeit. Seine Frau hatte sich vor acht Monaten – eigentlich unwiderruflich – zum vierten oder fünften Mal von ihm getrennt, beginnt aber, ihn wieder anzurufen. Seine Anfang zwanzigjährige Tochter Jess lebt mit ihrer eigenen Familie weit entfernt in Borges, sein Sohn Erich sitzt im Staatsgefängnis von Linden eine zweijährige Strafe wegen Rauschgiftschmuggels ab. Sein Vater starb im Alter von zweiundfünfzig Jahren an den Folgen einer schweren Lungenentzündung.
Van Veeteren selbst ist seinen Job müde, allerdings zerreißt der Polizeichef regelmäßig seine Kündigungsschreiben. Mit seinem Kollegen Münster spielt er Badminton, geht ab und zu auch mit ihm einen trinken. Davon abgesehen lebt Van Veeteren letztlich doch für seine Arbeit. „Das grobmaschige Netz“ gibt trotz der kurzen Länge von gerade mal 250 Seiten einen guten Eindruck von den Verhörmethoden und dem verlässlichen Instinkt des Hauptkommissars, der so gar kein Identifikationspotenzial für den Leser hergibt, aber deutlich macht, dass Polizisten ebenso wie Opfer, Täter und Zeugen ganz normale Menschen mit ihren persönlichen Eigenschaften, Sorgen, Träumen und Hoffnungen sind, dass nie viel zu fehlen scheint, bis aus einem gesetzestreuen, unauffälligen Bürger ein Mörder wird.
Trotz des melancholischen Grundtons blitzt immer wieder ein leiser Humor in den Dialogen auf, sorgen die etwas zerpflückt aneinandergereihten Absätze für Sprünge im Handlungsverlauf und zwischen den beteiligten Figuren, die manchmal wie aus dem Nichts in die Szenerie zu fallen scheinen. Doch während die übrigen Beteiligten sehr blass bleiben, gewinnt Van Veeteren schon in seinem ersten literarischen Auftritt an interessanter Kontur, die in den nachfolgenden Romanen deutlich an Profil zulegt.

Gerhard Henschel – (Martin Schlosser: 2) „Jugendroman“

Mittwoch, 13. November 2019

(Atlantik, 541 S., Tb.)
Nach dem Umzug von Vallendar bei Koblenz ins emsländische Meppen durfte sich der dreizehnjährige Martin Schlosser zwar darauf freuen, nicht mehr sechs Stunden im vollgefurzten PKW bis zu den Großeltern in Jever verbringen zu müssen, sondern nur noch zwei Stunden zu brauchen, doch davon abgesehen hält das neue Zuhause nicht viele Freuden für den Pubertierenden bereit. Mit seinen Geschwistern Volker, Wiebke und Renate verbindet Martin nicht mehr viel, dafür vermisst er seine Freunde, von denen ihm sein bester Kumpel Michael regelmäßig per Brief Bericht erstattet, wie langweilig ihm ständig sei.
Martin kickt in der C-Jugend vom SV Meppen und träumt schon von einer Karriere als Weltklassespieler, der irgendwann zusammen mit Jupp Heynckes, Sepp Maier und Dieter Müller in der Nationalelf stürmen würde. Doch während seine Lieblingsmannschaft von Borussia Mönchengladbach zum dritten Mal hintereinander Meister wird, kommt seine eigene Mannschaft ziemlich oft heftig unter die Räder, so dass ihm irgendwann die Lust am Training vergeht.
Wenig erbaulich erweisen sich auch die Arbeitseinsätze in Papas Keller, wenn dieser wieder sägt, schraubt und hämmert, oder im Garten beim Unkrautjäten.
„Im Treppenhaus hatte Volker einen ziehengelassen. Wiebke übte Tonleitern, Mama kramte auf dem Dachboden Teppichreste für Renates neue Wohnung zusammen, Papa brachte den fertiggeknüpften Lampenschirm testhalber überm Esstisch an, und in meinem Stern-Horoskop stand der schlaue Ratschlag: Ärgern Sie sich nicht weiter mit dieser Gesellschaft herum. Kehren Sie ihr den Rücken zu, für immer! Nichts lieber als das. Alle Brücken abbrechen und untertauchen, um irgendwo anders ein neues Leben anzufangen.“ (S. 336) 
Sinnlos erscheint dazu der Unterricht in der Schule. Martin ist sich sicher, dass er die mathematischen und physikalischen Lehrsätze, die er pauken muss, nie wieder im Leben benötigen wird. Dafür verdient er sich mit kurzen Aufsätzen zu ausgesuchten Fragestellungen in der Zeit jeweils 25 Mark und verguckt sich in seine Mitschülerin Michaela …
Nach dem ersten Band („Kindheitsroman“) der nach wie vor fortgesetzten Chronik des Lebens von Gerhard Henschels Alter Ego Martin Schlosser sind der Ich-Erzähler und sein Publikum in Martin Schlossers Pubertät angekommen, die nach dem Umzug von Vallendar nach Meppen von den Pflichten bei der Hausarbeit, Fußballtraining, Konfirmandenunterricht und wenig erbaulichem Schulalltag geprägt sind. Der Briefwechsel mit seinem Freund Michael und die Freuden an der politischen und kulturellen Bildung halten Martin zum Glück bei der Stange. Beim Lesen von Mario Puzos „Der Pate“ und der Biografien von Anthony Quinn und Curd Jürgens bleiben vor allem die Schilderung von erotischen Erlebnissen in Erinnerung.
Henschel, der als akribischer Chronist seiner Zeit gilt, verbindet wie in „Kindheitsroman“ und den nachfolgenden Werken die Eckpunkte seines eigenen Lebens mit Anekdoten aus dem zeitgeschichtlichen Geschehen. Hier sind vor allem die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, die Aktivitäten der RAF, die Auseinandersetzungen zwischen der CDU und CSU und Günter Wallraffs Undercover-Einsatz in der BILD-Redaktion zu nennen, dazu fließen Reflexionen über Alben der Beatles, Joan Baez und Insterburg & Co sowie Filme mit John Wayne, Roman Polanski und Alain Delon ein, Kommentare zu den Boxkämpfen von Muhammed Ali und den Spielen sowohl der Gladbacher als auch der Nationalmannschaft.
Die Aneinanderreihung verschiedenster Anekdoten aus dem Leben von Martin Schlosser geriert sich einmal mehr als amüsantes Sammelsurium von Ereignissen, die die Welt, vor allem aber den aufgeweckten wie humorvollen Ich-Erzähler Mitte der 1970er Jahre bewegt haben. Das bietet vor allem für Schlossers Zeitgenossen einen unerschöpflichen Fundus an Erinnerungen an die Zeit, in der sie aufgewachsen sind, und macht neugierig auf die Fortsetzung, in der hoffentlich auch die Frage beantwortet wird, ob Michaela Martins Gefühle erwidert.

Philippe Djian – „Betty Blue – 37,2° am Morgen“

Mittwoch, 6. November 2019

(Diogenes, 396 S., Tb.)
Eigentlich könnte der Ich-Erzähler in Philippe Djians ein erfolgreicher Schriftsteller sein. Stattdessen droht sein handgeschriebenes Manuskript in einem Pappkarton in Vergessenheit zu geraten, während er seinen Lebensunterhalt als Mädchen für alles in einer Bungalow-Anlage verdient und sich nebenbei mit der temperamentvollen Betty vergnügt, die er seit einer Woche kennt. Da der Vermieter mit diesem Arrangement nicht so ganz einverstanden ist, erklärt sich der verhinderte Schriftsteller bereit, alle Bungalows neu zu streichen, damit Betty auch weiterhin bei ihm wohnen kann. Betty platzt dabei so richtig der Kragen und leert einen Farbeimer über dem Wagen des verhassten Vermieters. So bekommt der Protagonist in den Mittdreißigern einen ersten Vorgeschmack auf die Temperamentsausbrüche seiner Freundin.
Doch das ist erst der Anfang. Als Betty das Manuskript findet, ist sie von dem Text so begeistert, dass sie es persönlich abtippt und Kopien an verschiedene Verleger aus dem Telefonbuch schickt. Der Absender eines garstigen Ablehnungsschreibens bekommt es schließlich persönlich mit Betty zu tun. Um weiteren Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, zieht das Paar zunächst bei Eddie und Lisa ein, wo sie in Eddies Pizzeria arbeiten, dann verschafft Eddie den beiden einen Job im Klavierladen, den seine verstorbene Mutter betrieben hat. Hier findet der verkannte Schriftsteller genügend Zeit, um an einem neuen Manuskript zu arbeiten, aber Bettys Anfälle nehmen immer besorgniserregendere Züge an …
„Sie müsste einsehen, dass das Glück nicht existiert, dass das Paradies nicht existiert, dass es nichts zu gewinnen oder zu verlieren gibt und man im wesentlichen nichts ändern kann. Und wenn du glaubst, die Verzweiflung ist alles, was einem dann bleibt, dann irrst du dich noch einmal, denn auch die Verzweiflung ist eine Illusion.“ (S. 282) 
Mit seinem dritten Roman nach „Blau wie die Hölle“ und „Erogene Zone“ ist Philippe Djian Mitte der 1980er Jahre der internationale Durchbruch gelungen, angefeuert durch die erfolgreiche Verfilmung des Roman durch Jean-Jacques Beineix („Diva“) aus dem Jahre 1986. Wie in vielen von Djians Romane hadert auch in „Betty Blue“ der Ich-Erzähler mit seinem Schicksal als verkannter Schriftsteller. Es ist ihm auch egal. Hauptsache, er verdient etwas Geld, hat genügend Zeit, sich in der Sonne zu fläzen, mit Betty zu bumsen und etwas zu trinken. Mehr erwartet er gar nicht vom Leben. Doch an Bettys Seite kann er sich nicht einfach weiter so durch das Leben treiben lassen, denn Betty erwartet mehr von einem so talentierten Schriftsteller.
Während sie alles daransetzt, mit ihrem Liebsten aus dem Alltagstrott auszubrechen, bleibt ihm nicht anderes übrig, als mit ihr mitzuziehen. Djian erzählt diese außergewöhnlich leidenschaftliche Liebesgeschichte in einem rasanten, präzisen Stil, der in jedem Absatz deutlich macht, was vor allem der empathische Ich-Erzähler empfindet, der schließlich meint, auch Betty so gut zu kennen, wie es niemand sonst vermag. Die Beziehung zwischen den beiden und vor allem Bettys dem Borderline-Syndrom geschuldetes überschäumendes Temperament machen Stimmung und Tempo des Romans aus, wobei sich Tragik und Humor überzeugend die Waage halten. So ist Djian mit „Betty Blue – 37,2° am Morgen“ ein ebenso gefühlvoller wie aufrüttelnder Roman über Liebe, Treue, Loyalität und Leidenschaft gelungen, wie es ihm später in dieser Intensität kaum noch gelingen sollte.

Andrea De Carlo – „Die Laune eines Augenblicks“

Samstag, 2. November 2019

(Piper, 266 S., HC)
Seit fünf Jahren unterhält Luca mit seiner Lebensgefährtin Anna einen alternative angehauchten Reiterhof. Doch als er bei einem Ausritt Anfang März vom Pferd stürzt, wird ihm neben den schmerzhaften körperlichen Blessuren bewusst, dass sein Leben ganz und gar nicht so verläuft, wie er es sich vorgestellt hat. Als er sein Leben vor- und rückwärts an sich vorbeiziehen lässt, stellt er sogar fest, dass er noch nie glücklich war. Er lernt Alberta kennen, die ihn auf dem Weg zurück zum Reiterhof in ihrem Pick-up aufgabelt und ins Krankenhaus bringt. Luca ist fasziniert von der temperamentvollen Frau, küsst sie und will sie wiedersehen.
Doch als er sie das nächste Mal in Rom besucht, findet er sie – nach einem missglückten Selbstmordversuch - ohnmächtig, dem Tode nahe, auf dem Fußboden vor. Schnell wird ihm bewusst, dass er Albertas Schwester Maria Chiara noch interessanter findet. Mit ihr zusammen löst er sich von seiner Vergangenheit, von den Erinnerungen an seine früheren Beziehungen (aus der ein Sohn hervorgegangen ist) und seinen vorangegangenen Job als Verleiher internationaler Independent-Filme ebenso wie von seinem Leben mit Anna auf dem Reiterhof.
Langsam kommen sich die beiden näher. In vielen Gesprächen sezieren sie ihr jeweiliges Leben und werden sich bewusst, was sie vom Leben erwarten. Doch es dauert seine Zeit, bis sich Luca und Maria Chiara voll und ganz einander hingeben, aber dann gibt es kein Zurück …
„Wir schienen uns nicht mehr voneinander lösen zu können, wir schienen nicht aufhören zu können, den Druck unserer eng aneinander geschmiegten Körper zu spüren, das Gefühl des Gefundenhabens und der Zuflucht, das Gefühl, heimgekehrt, einer tödlichen Gefahr entronnen zu sein.“ (S. 157) 
Seit seinem 1981 veröffentlichten Debüt „Creamtrain“ hat der aus Mailand stammende Autor Andrea De Carlo das Gefühlsleben der Menschen seiner Generation analysiert. In seinem zehnten Roman, hierzulande 2001 veröffentlichten „Die Laune eines Augenblicks“ hat sein Protagonist bereits ganz unterschiedliche Karrieren und Beziehungen hinter sich. Das traumatische Erlebnis eines Reitunfalls, der in körperlicher Hinsicht zum Glück keine schwerwiegenden Folgen nach sich zieht, geht mit einer zunächst erschreckenden Bewusstseinsänderung einher, doch Luca zieht daraus sofort die Konsequenzen, trennt sich von seiner Existenzgrundlage und Freundin, lässt sich auf eine neue Frau ein, die er auf ganz neue, gemächliche Weise kennenlernt.
De Carlo bleibt seinem Erfolgskonzept treu und reflektiert sehr detailliert das Gefühlsleben seiner Figuren, die sich natürlich in aufregenden Liebesbeziehungen neu entdecken und erfinden. Das ist insofern immer wieder lesenswert, weil diese ausschweifenden Innenansichten jenseits oberflächlicher Personenbeschreibungen aufzeigen, wie empfindlich die Seelen der Menschen gestrickt sein können, und wie schwierig es ist, einen Partner zu finden, der sich auf all diese komplex ineinander verwobenen Eigenschaften einlassen mag.
Der Plot bleibt dabei sehr minimalistisch. Abgesehen von dem einleitenden Reitunfall und der Begegnung mit Alberta und Maria Chiara passiert eigentlich nicht viel. Stattdessen konzentriert sich De Carlo ganz auf die Gedanken und Gefühle, die Luca und Maria Chiara miteinander teilen und über wegweisende Ereignisse wie das Spielen einer Klaviermelodie, die beide so lieben, zu einem Liebespaar werden.
In dieser sukzessiv voranschreitenden Annäherung des Ich-Erzählers an die Frau, die ihm endlich die ersten Glücksmomente seines Lebens verschafft, erweist sich De Carlo wirklich als Meister der bildhaften Sprache und der feinsinnigen Psychologisierung seiner Figuren, die irgendwie auch immer Abbilder seines eigenen Lebens zu sein scheinen.