Terry Burrows, Daniel Miller - „Mute – Die Geschichte eines Labels“

Sonntag, 26. November 2017

(Blumenbar, 320 S., HC)
Das 1978 von Daniel Miller gegründete Label Mute Records ist nicht nur die Heimat kommerziell erfolgreicher Acts wie vor allem Depeche Mode, Yazoo, Erasure, Goldfrapp und Moby, sondern neben Some Bizarre, 4AD und Factory auch eines der bis heute interessantesten und erfolgreichsten Indie-Labels überhaupt. In der von Terry Burrows und Daniel Miller selbst verfassten Label-Chronik „Mute – Die Geschichte eines Labels“ wird der Fokus vor allem auf die visuelle Seite des Labels gerichtet, das im Gegensatz zu anderen Labels kein in sich geschlossenes Konzept verfolgt, sondern eher künstlergesteuert ist.
Bevor erst auf Seite 24 Daniel Miller in der Einleitung erläutert, wie er von der DIY-Philosophie der Punk-Bewegung, deutschen Elektronik-Acts wie Neu!, Can, Amon Düül II und Kraftwerk und vor dem Hintergrund seiner eigenen Ausbildung an der Art School dazu inspiriert wurde, unter dem Namen The Normal eine Doppel-Single („T.V.O.D.“/“Warm Leatherette“) zu veröffentlichen und nach dem unerwarteten Erfolg ein Label mit Künstlern wie Frank Tovey aka Fad Gadget, D.A.F. und Depeche Mode aufzubauen, gleitet der Blick des Lesers/Betrachters nämlich zunächst über eine Reihe von Künstlerfotos, Videostills und Plattenartworks sowie einen imponierenden Label-Stammbaum, der vor allem die Beziehungen zwischen den einzelnen Acts kartografiert.
„Als die Idee für dieses Buch laut wurde, war sofort klar, dass das nicht die übliche Biografie werden sollte; vielmehr sollte es die Geschichte des Labels visuell erzählen – sei es durch Artwork, Fotos, Verpackung oder Design. Was nur logisch ist, denn obwohl Mute sich in erster Linie um die Musik kümmert, war die Präsentation unserer Künstler und deren Releases immer ein wichtiger Teil der Labelarbeit.“ (S. 25) 
Während es mittlerweile ausführliche Biografien über Depeche Mode, Nick Cave und D.A.F. gibt, beschränkt sich Terry Burrows in seiner Geschichte über Mute eher darauf, wie wegweisende Begegnungen zustande gekommen sind, mit denen Miller sein Label nach und nach aufgebaut hat, dessen Name er seiner Tätigkeit als Cutter bei Associates Television entlieh, in dessen Studios die „Mute“-Warnschilder omnipräsent gewesen sind.
Es sind schöne, interessante Geschichten, wie Daniel Miller mit seinem eigenen, kurzweiligen Projekt The Normal und der ersten Fad-Gadget-Single „Back To Nature“ erste Erfolge feiern konnte und so das Geld hatte, drei Studiotage bei Conny Plank in Köln zu finanzieren, wo der Produzent das erste D.A.F.-Album vollenden sollte.
Größeren Raum in dem Buch nimmt natürlich die Erfolgsgeschichte von Depeche Mode ein, der frühe Weggang von Vince Clarke, der daraufhin mit Yazoo, The Assembly und Erasure andere mehr oder weniger langlebige und erfolgreiche Projekte initiierte. Natürlich wird im Zusammenhang mit der visuellen Präsentation des Mute-Label-Outputs auch die Bedeutung und Arbeit von Designern wie Adrian Shaughnessy und den Fotografen Brian Griffin und Anton Corbijn gewürdigt, die verschiedenen Sublabels, unter denen vor allem The Grey Area mit der Wiederveröffentlichung von Alben der Industrial-Ära, von Acts wie Throbbing Gristle, Cabaret Voltaire, SPK, Thomas Leer und Robert Rental, eine Schlüsselstellung einnehmen sollte.
Zum Schluss werden auch die Turbulenzen thematisiert, in den Mute geraten sollte, als Miller das Label 2002 an EMI verkaufte, aber weiterhin künstlerischer Leiter blieb, bis auch EMI verkauft wurde und Miller einen Neuanfang mit Mute Artists wagte. Bislang hat Miller noch keine Pläne, in Rente zu gehen.
Das ist angesichts der zunehmend anonymisierten Fließbandproduktionen im Musikgeschäft ein Zeichen der Hoffnung, und der vorliegende Bildband unterstreicht die Ambitionen des einzigartigen Labels auf eindrucksvolle Weise. 
Leseprobe "Mute - Die Geschichte eines Labels"

John Williams – „Stoner“

Mittwoch, 22. November 2017

(dtv, 349 S., Tb.)
Der 1891 auf einer Farm nahe des Dorfes Booneville im tiefsten Missouri geborene William Stoner hat es im Alter von neunzehn Jahren geschafft, dem einfachen Leben auf dem Lande zu entkommen und an der Universität von Missouri zu studieren, zunächst Agrarwirtschaft – in der Hoffnung, dass seine dabei gewonnenen Erkenntnisse bei der Arbeit auf der elterlichen Farm hilfreich sein könnten -, dann ermutigt ihn sein Dozent Archer Sloane, zur Literaturwissenschaft zu wechseln.
Stoner lebt in einem kleinen Zimmer bei Verwandten, findet zunächst keine Freunde, wird sich seiner Einsamkeit bewusst. Da er keine konkreten Zukunftspläne hat, aber auch nicht auf die Farm zurückkehren will, bleibt er dem akademischen Betrieb erhalten, beendet 1915 den Magisterstudiengang mit einer Arbeit über Chaucers „Canterbury Tales“ und beginnt, Einführungskurse Englisch für Erstsemester zu geben.
Endlich findet er mit den Dozenten David Masters und Gordon Finch erste Freunde, später mit der ebenfalls sehr schüchternen und zerbrechlich wirkenden Edith eine Frau. Ihre wohlhabenden Eltern aus St. Louis geben dem jungen Ehepaar ein Darlehen für ein größeres, aber auch etwas verwittertes Haus. Im Ersten Weltkrieg stirbt Masters, Stoner und Finch haben währenddessen die Universität nicht verlassen. Die Ehe zwischen der lustfeindlichen Edith und Stoner gerät zur Farce, daran ändert auch die Geburt ihrer Tochter Grace nichts.
Erst im Alter von über Vierzig lernt Stoner die wahre, leidenschaftliche Liebe kennen, doch die Beziehung mit der Studentin Katherine hat natürlich keine Zukunft …
„Er hatte die Einzigartigkeit, die stille, verbindende Leidenschaft der Ehe gewollt; auch die hatte er gehabt und nicht gewusst, was er damit anfangen sollte, also war sie gestorben. Er hatte Liebe gewollt, und er hatte Liebe erfahren, sie aber aufgegeben, hatte sie ins Chaos des bloß Möglichen ziehen lassen.“ (S. 344f.) 
Es ist irgendwie ein trostloses Leben, das der zu seinen Lebzeiten kaum bekannte amerikanische Journalist, Dozent und Autor John Williams (1922-1994) in seinem bereits 1965 veröffentlichten, aber spät wiederentdeckten Roman „Stoner“ präsentiert. Zwar hat es sein Protagonist geschafft, der körperlich schweren und eintönigen Arbeit auf der Farm seiner Eltern zu entkommen und eine akademische Karriere zu absolvieren, doch kann dieses Leben kaum als glücklich und erfüllend bezeichnend werden. Da er durch sein Elternhaus nicht den Umgang in der Gesellschaft gelernt hat, wirkt er im Umfeld der Universität eher unbeholfen, seine sozialen Kontakte unbestimmt.
Das nimmt beim schüchternen Kennenlernen seiner Frau ihren Anfang, zieht sich durch die kaum ernstzunehmenden Freundschaften auf dem Campus, wo er sich schließlich ohne erkennbaren Grund mit seinem Kollegen Lomax überwirft, und wird auch nur kurz durch die leidenschaftliche Affäre mit Katherine gelindert.
Williams hat in seinem dritten von insgesamt nur vier veröffentlichten Romanen (nach „Nichts als die Nacht“ und „Butcher’s Crossing“) auf fast dokumentarische Weise das Leben eines Mannes beschrieben, das zwar die äußeren Umstände detailreich schildert, aber die psychologischen Tiefen, die persönlichen Motivationen nicht ausleuchtet, so dass die Charakterisierung der Figuren nahezu dem Leser überlassen bleibt. Dabei vermag Williams mit seiner sprachlichen Finesse allerdings einen Sog zu erzeugen, dass er den Leser durch die Konfrontation mit Stoners Leben immer wieder zu Selbstreflexion anregt, eine Fähigkeit, die seinem Stoner völlig abhanden geht.
Leseprobe John Williams - "Stoner"

Dan Dalton – „Johnny Ruin“

Dienstag, 21. November 2017

(Tempo, 223 S., HC)
Eigentlich strebte der 1983 geborene Johnny eine Karriere als Schriftsteller an, doch irgendwann blieben seine Ambitionen auf der Strecke, ohne auch nur eine Idee entwickelt zu haben. Stattdessen schrieb er für die Firma JoeSeal Tweets mit pseudophilosophischen Lebensweisheiten aus der Sicht einer Dose Holzbeize. Ähnlich katastrophal verhielt es sich mit seinen Frauengeschichten. Nur Sophia hat er wirklich lieben können. Als sie sich von ihm trennte, schien sein Leben keinen Sinn mehr zu machen. Gegen seine selbstdiagnostizierte Depression fing er an, Ketamin einzunehmen, schließlich in einer so hohen Dosis, bis er leblos (?) auf dem Boden seines Londoners Studio lag und sich selbst von oben betrachten konnte. Derart losgelöst von seiner körperlichen Hülle findet sich Johnny irgendwo in Kalifornien wieder, umgeben von Mammutbäumen, und von irgendwo oben aus den Ästen pinkelt Jon Bon Jovi herunter, der 1994 für Johnny der coolste Typ der Welt gewesen ist.
Gemeinsam machen sich die beiden auf eine Odyssee durch die Vereinigten Staaten bis nach New York, mal mit Johnnys altem Freund Paul, mit dem er eigentlich vorhatte, dreißig Staaten in dreißig Tagen zu durchqueren und dessen zerschmetterten Körperteile er dann nach einem Autounfall vom Asphalt klauben musste, dann auch mit seiner Ex Sophia oder dem Hund Fisher an Bord.
Die Fahrt dient vor allem Johnny dazu, alte Erinnerungen und Wunden aufzuarbeiten: die Demütigung, dass sein ein Jahr älterer Bruder das geschafft hat, was er selbst nicht zustande bringen konnte, nämlich ein Buch zu veröffentlichen – wenn auch nur eine krude Mischung aus „Breakfast Club“ und „Alien“ -; die ersten Küsse und Masturbations-Erfahrungen, endlose One-Night-Stands, Überlegungen zu den Menschen, die beim Basejumping ums Leben gekommen sind.
Besonders ausgiebig wird natürlich die gescheiterte Beziehung mit Sophia aufgearbeitet, wobei sich Johnny sicher sein kann, dass Jon Bon Jovi immer einen passenden Kommentar parat hat.
„Die glücklichsten Momente waren die, wenn wir beide still lasen, uns einander gegenüberlagen wie fallen gelassene Streichhölzer, das Geräusch von Papier, umgeblätterten Seiten, befriedigte Körper, die ihr Gewicht verlagern, leben, atmen. (…) Ich erinnere mich an jedes Detail.
Das einzige Problem ist, dass ich nicht sicher bin, ob es wirklich passiert ist. Jedenfalls nicht so. Erinnerung ist größtenteils Erfindung. Ich kann mich nicht erinnern, woran ich mich erinnere. Vielleicht war unser Schweigen ja gar nicht glücklich. Vielleicht habe ich das erfunden.“ (S. 141) 
Der aus London stammende Journalist und Autor Dan Dalton lässt es in seinem Debütroman offen, in welchem Bewusstseinszustand sich sein Ich-Erzähler Johnny Ruin befindet, ob er sich im medizinindizierten Delirium befindet oder schon im Todestraum. Jedenfalls spielt sich das Geschehen fernab jeder Realität vor allem in den meist melancholischen Erinnerungen des liebeskranken und sonst auch ganz unzufriedenen Anti-Helden ab.
Dabei durchstreift Johnny sprunghaft Kindheitserinnerungen und wahllose Sex-Datings, garniert diese aber immer wieder mit einer erfrischenden Prise Humor, sei es durch die amüsanten Beispieltweets für JoeSeal oder die trockenen Kommentare seines Begleiters und Helden Jon Bon Jovi. Aus nahezu jeder Zeile des Romans spricht die große, aber auch zerstörerische Leidenschaft, mit der Johnny Sophia geliebt hat, aber es wird nur seine Version der Geschichte, der schöngefärbten Erinnerungen präsentiert.
Zwischen all die verzweifelten Rufen nach Liebe drängen sich Szenen der Freundschaft mit Paul, der von Konkurrenz geprägten Beziehung zu seinem Bruder, der unzähligen One-Night-Stands. Wie Dalton dabei die Verzweiflung einer verlorenen Liebe und vertanen Chancen mit einer Mischung aus Melancholie und feinem Humor zum Ausdruck bringt, macht den ungewöhnlichen Road Trip zu einem abenteuerlichen, erfrischenden Leseerlebnis. 
Leseprobe Dan Dalton - "Johnny Ruin"

James Lee Burke – (Dave Robicheaux: 5) „Weißes Leuchten“

Sonntag, 19. November 2017

(Pendragon, 502 S., Pb.)
Als sich eine großkalibrige Kugel ins Wohnzimmer des wohlhabenden Weldon Sonnier verirrt, sucht ihn Detective Dave Robicheaux vom Sheriff’s Department von Iberia Parish auf. Merkwürdigerweise hat seine Frau den Vorfall gemeldet, nicht Weldon selbst, der sich beim Gespräch mit Robicheaux auch äußerst wortkarg gibt und die Sache herunterzuspielen versucht. Weldon Sonnier ist als Ölbohrer zu Geld gekommen, nachdem er für Air America geflogen ist, eine Fluglinie, die die CIA in Vietnam betrieben hatte.
Angeblich hat er für die Renovierung der alten Familienvilla am Rande des Bezirks am Bayou Teche zweihunderttausend Dollar ausgegeben. Sein Bruder Lyle, mit dem Robicheaux in Vietnam gedient hat, macht mittlerweile als Fernsehprediger Karriere, mit seiner Schwester Drew war der Cop eine Zeitlang liiert, und sein Schwager Bobby Earl hat eine Vergangenheit mit dem Ku Klux Klan.
Die Ermittlungen gewinnen an Schärfe, als einer von Robicheaux‘ neuen Kollegen bei einem weiteren Besuch auf Sonniers Grundstück geradezu hingerichtet wird. Robicheaux stößt auf die Namen von Eddie Raintree und Jewel Fluck, die offensichtlich nicht nur eine Verbindung zur Aryan Brotherhood, sondern auch zur Mafia haben.
Zusammen mit seinem alten Kumpel und Ex-Kollegen Cletus Purcel, der sich als Privatdetektiv in New Orleans niedergelassen hat und selbst für einen Mafioso gearbeitet hat, macht sich Robicheaux auf die Suche nach den Männern, die offensichtlich eine Rechnung mit Weldon Sonnier offenhaben. Dabei begegnet er nicht nur Demagogen, offensichtlichen Gangstern und Männern, die so weit oben in der Hierarchie stehen, dass ihnen nichts und niemand etwas anhaben kann, sondern auch Schwarzen, die noch immer unter der Diskriminierung zu leiden haben, aber auch Weißen, die es nicht schaffen, etwas aus ihrem Leben zu machen.
„Warum stimmte mich dieser Haufen von Pennern und Trinkern so morbide? Weil sie meine ständige Gewissheit noch verstärkten, dass mich nur ein Glas von ihrem Schicksal trennte – Verzweiflung, das langsame Absterben der Seele, Wahnsinn, Tod -, und dies vor Augen geführt zu bekommen, versetzte mir einen ziemlichen Stich.“ (S. 375) 
Den Männern auf die Spur zu kommen, die für den Überfall auf Weldon Sonniers Haus verantwortlich gewesen sind und offensichtlich ihr Geld auch mit Blut eintreiben, fällt Robicheaux nicht leicht, denn nicht nur Weldon gibt sich recht mundfaul. Schließlich weiß jeder im Bayou, wie die Mafia mit Verrätern umgeht.
Unterstützung erhält der gewissenhafte Cop wieder einmal von seinem alten Freund Cletus, der selbst eine herbe Abreibung einstecken muss, aber weit weniger als Robicheaux Skrupel hat, bei Befragungen auch mal die harte Gangart einzulegen. Neben diesem verzwickten Fall hat es Robicheaux auch mit Bootsies Krankheit Lupus zu tun, die ihr das Bindegewebe zersetzt und deren Behandlung sich als extrem schwierig erweist.
Im fünften Band von James Lee Burkes zurecht gefeierter Reihe um den Vietnamkriegsveteranen und Ex-Alkoholiker Dave Robicheaux begegnen dem Leser vertraute Themen wie Rassendiskriminierung, die Mafia und Korruption, dazu gesellen sich Inzest und Kindesmisshandlung. All das vereint Burke mit seinen fein beobachteten Beschreibungen der südstaatlichen Architektur und Landschaft, vor allem aber auch der Menschen, die sich oft leider auch von Geldgier, Sex, Drogen, Gewalt und Macht verleiten lassen.
An sich liest sich „Weißes Leuchten“ wie fast jeder andere Roman aus der Robicheaux-Reihe, indem er die vertrauten Missstände von Korruption, Diskriminierung und Bigotterie aufgreift und die darin eingebettete Kriminalhandlung mit äußerst atmosphärischen Beschreibungen von Louisiana abrundet.
Der Roman stellt kein gekröntes Highlight der Reihe dar, bietet aber gewohnt erstklassige Krimiunterhaltung und Milieubeschreibung.
 Leseprobe James Lee Burke - "Weißes Leuchten"

David Baldacci – (Amos Decker: 2) „Last Mile“

(Heyne, 543 S., HC)
Vor zwanzig Jahren soll Melvin Mars seine Eltern ermordet und ihr Haus abgefackelt haben, weshalb er jetzt im Staatsgefängnis von Texas in Huntsville auf seine Hinrichtung wartet. Doch im letzten Moment behauptet ein ebenfalls zum Tode verurteilter Häftling aus Alabama, Charles Montgomery, für die Morde verantwortlich gewesen zu sein. Tatsächlich weiß Montgomery Dinge über die Morde, die nur dem Täter bekannt sein können.
Hier kommt Amos Decker ins Spiel, ein ehemaliger College-Footballspieler mit einem kurzen Auftritt in der NFL, der nach einem fatalen Unfall auf dem Spielfeld nicht nur seine Profi-Karriere abschreiben konnte, sondern auch mit der seltenen Gabe der Synästhesie einerseits (die Kopplung zweier oder mehrerer physisch getrennter Bereiche der Wahrnehmung) und einem nahezu perfekten Gedächtnis. Unter der Leitung von FBI-Special-Agent Ross Bogart arbeitet Decker in einem Team von Agenten und Zivilisten mit besonderen Fähigkeiten, um kalte Fälle hoffentlich noch zum Abschluss zu bringen.
Als Decker im Radio von Melvin Mars‘ aufgeschobener Hinrichtung hört, ist er gleich Feuer und Flamme für den Fall, schließlich war Mars damals nicht nur ein aufstrebender Stern am Football-Himmel und Finalist der Heisman Trophy, sondern hatte auch Deckers Team nahezu im Alleingang niedergerungen. Zusammen mit der Journalistin Alexandra Jamison und der klinischen Psychologin Lisa Davenport versuchen Bogart und Decker herauszufinden, ob Montgomerys Geständnis wasserdicht ist.
Recht schnell wird bei den Ermittlungen klar, dass Montgomery nur ein weiteres Opfer in einem raffinierten Spiel darstellt, das mit einem Attentat auf eine schwarze Kirchengemeinde in den 1960er Jahren begonnen hatte und bei dem heute mächtige Männer involviert waren. Melvin Mars muss feststellen, dass seine Eltern nicht das gewesen sind, wozu er sie all die Jahre gehalten hat, und offensichtlich ist sein quicklebendiger Vater nach wie vor im Besitz von Material, das den Männern zum Verhängnis werden könnte. Decker läuft bei der Spurensuche zu Höchstform auf, stößt dabei aber immer wieder an Grenzen.
„Sein Gedächtnis war perfekt, aber das bedeutete nicht, dass ihm die Antworten sofort ins Auge sprangen. Wenn ihm jemand eine Lüge erzählte, speicherte er sie zwar, doch als Lüge konnte er sie nur entlarven, wenn er genügend Fakten zur Verfügung hatte, an denen er sie messen konnte.
In diesem Fall war das Problem jedoch nicht so sehr, dass bestimmte Details im Widerspruch zueinander standen, sondern vielmehr die Tatsache, dass er einfach nicht genug wusste.“ (S. 300f.) 
Mit Amos Decker hat Bestseller-Autor David Baldacci nach den Reihen um u.a. den Camel Club, Will Robie und John Puller eine weitere faszinierende Figur erschaffen, die durch die Kombination ungewöhnlicher Fähigkeiten den perfekten Ermittler abgibt. In seinem zweiten Fall nach „Memory Man“ hat es Decker mit zwei Hinrichtungskandidaten zu tun, die offensichtlich beide nicht für den Mord an Mars‘ Eltern verantwortlich waren. Allerdings hat der wirkliche Täter so geschickt seine Spuren verwischt, dass Decker und sein Team alle Hände voll zu tun haben, um alle Personen zu befragen, die etwas zur Aufklärung des Falles beitragen können, und schließlich auch ihr eigenes Leben zu beschützen.
Das Tempo ist dabei so rasant, Deckers Gedankensprünge und Erkenntnisse so faszinierend, dass die Spannung über die gesamte Buchlänge hochgehalten wird. Zwar wirken manche Motivationen und Details nicht ganz überzeugend, aber bei der rasanten Art, den Plot voranzutreiben, darf man Baldacci diese Unzulänglichkeiten gern verzeihen. Dem schnellen Erzähltempo sind leider auch die dürftigen Charakterisierungen geschuldet, unter denen vor allem Deckers Team-Kollegen leiden. Einzig Melvin Mars und Decker selbst werden so ausreichend gezeichnet, dass sie dem Leser schnell ans Herz wachsen. 
Leseprobe David Baldacci - "Last Mile"

Joe R. Lansdale – „Straße der Toten“

Freitag, 17. November 2017

(Golkonda, 285 S., Pb.)
Reverend Jebidiah Mercer betrachtet sich als Vollstrecker des Herrn, als Mann, der die Sünde ausmerzt, und zwar nicht nur mit Gottes Wort, sondern auch tatkräftig und zielsicher mit seinem umgebauten 36er Navy-Colt bewaffnet, den er in einem breiten Tuch über seinem Hosenbund trägt. Zu seinem strengen Gesichtsausdruck, der seinem Amt durchaus angemessen scheint, gesellt sich auch etwas sehr Unpriesterliches, das sich in den stahlblauen Augen widerspiegelt.
Als er mit seinem Pferd in die osttexanische Kleinstadt Mud Creek kommt, wo er sich ein Zelt mieten möchte, um einen Abendgottesdienst abhalten zu können, erfährt er vom dem dort praktizierenden Doc, dass vor einiger Zeit ein Indianer und seine farbige Gefährtin durch den Deputy Caleb gelyncht worden sind, weil ihnen vorgeworfen wurde, die Tochter von David Webb umgebracht zu haben.
Dabei hatten die beiden seit ihrer Ankunft in Mud Creek mit ihren Heiltränken vielen Kranken helfen können, bei denen der Doc mit seinem Mediziner-Latein am Ende gewesen war. Doch als sie das schwerkranke Webb-Mädchen nicht retten konnten, machten Caleb und sein Gefolge kurzen Prozess mit den Wunderheilern. Bevor der Indianer aufgeknüpft und die Frau bestialisch ermordet und zerstückelt wurde, sprach der Indianer einen Fluch in einer Sprache aussprach, die der Doc aus Büchern wie dem „Necronomicon“, „De Vermis Mysteriis“ und „Unaussprechliche Kulte“ kannte. Tatsächlich hat der Doc seither einige merkwürdige Todesfälle zu beurkunden, aktuell den Bankdirektor und Säuferkönig Nate Foster.
In kurzer Zeit verwandelt sich Mud Creek in eine Zombie-Stadt, die von dem rachsüchtigen Dämon in der Gestalt des gehängten Indianers angeführt wird. Zusammen mit dem Doc, seiner Tochter Abby und dem unerschrockenen Jungen David nimmt der Reverend den Kampf auf …
„Er war ein Mann des Herrn. Und er hasste Gott. Er hasste diesen Scheißkerl von ganzem Herzen.
Er wusste auch, dass Gott das wusste, und dass es ihm egal war, denn Jebidiah war sein Sendbote. Keiner aus dem Neuen Testament, sondern einer aus dem Alten: gnadenlos und unerbittlich, rachsüchtig und kompromisslos. Ein Mann, der Moses die Beine unterm Hintern weggeschossen und dem Heiligen Geist ins Gesicht gespuckt und ihn skalpiert hätte, nur um die himmlische Haarpracht in alle vier wilden Winde zu schleudern.“ (S. 154) 
„Straße der Toten“ vereint erstmals alle Geschichten, die der texanische, mit Preisen wie dem American Mystery Award, dem Edgar Award und dem Bram Stoker Award ausgezeichnete Autor Joe R. Lansdale („Ein feiner dunkler Riss“, „Kahlschlag“) um den charismatischen Reverend Jeb Mercer in den Jahren zwischen 1984 und 2010 veröffentlicht hatte. Neben dem Roman „Dead In The West“, der zwischen 1984 und 1987 in vier Teilen in „Eldritch Tales“ veröffentlicht wurde, vereint der Sammelband noch die Geschichten „Straße der Toten“, „Das Gentleman’s Hotel“, „Der schleichende Himmel“ und „Tief unter der Erde“, die weitere Abenteuer des außergewöhnlich kampflustigen Priesters erzählen, der sich mit Werwölfen, Zombies und Gespenstern auseinandersetzt.
Wie der Autor selbst im Vorwort ausführt, war er als Kind von Comics und Filmen inspiriert, und was ihn besonders faszinierte, war die Vermischung von Genres wie Science-Fiction, Western, Horror, Fantasy und Liebesgeschichten. Vor allem gefielen ihm die Universal-Horrorfilme, dann die trashigen Produktionen von Roger Corman und Westernserien wie „Gunsmoke“, „Maverick“, „Wanted Dead or Alive“ und „Have Gun“. Aus der Idee, selbst ein Drehbuch für einen Weird Western zu schreiben, entstand Anfang der 1980er „Dead In The West“, mit dem Lansdale sich – nach „Akt der Liebe“ (1981) – allmählich als ernstzunehmender Horror-Autor etablierte. Auf originelle Weise vereinte er hier klassische Western-Motive mit den Topoi des Grauens, wie wir ihn von H.P. Lovecraft, Arthur Machen oder Algernon Blackwood kennen, zu einem wilden Ritt, bei dem viel Blut fließt und Gotteslästereien zu lesen sind, aber auf so humorvolle, temporeiche Weise, dass nicht nur Roger Corman seine helle Freude an dem unterhaltsamen Stoff hätte.
In der Werksbiografie nehmen die Geschichten rund um Reverend Jeb Mercer fraglos eine (trashige) Sonderstellung ein, aber Lansdale-Fans dürften trotzdem ihren Spaß dabei haben, auch wenn sich die Geschichten in Aufbau und Entwicklung ähneln und nur die übernatürlichen Wesen eine andere Form annehmen. Ebenso sind die Charaktere längst nicht so fein gezeichnet, wie wir es von Lansdales Meisterwerken „Die Wälder am Fluss“ oder „Dunkle Gewässer“ gewohnt sind, aber das trifft auf die legendären Pulp-Geschichten auch nicht zu.

John Niven – „Alte Freunde“

Samstag, 11. November 2017

(Heyne, 352 S., HC)
Der renommierte Restaurantkritiker und Buchautor Alan Grainger ist am Nachmittag gerade auf der Suche nach einer ruhigen Ecke im Soho House oder Groucho, wo er die Rezension über den Pop-up-Store, den er gerade besucht hat, zu schreiben plant, als ihm an einer Straßenkreuzung ein Penner mit schottischem Akzent anspricht. Wie sich nach einem kurzen Wortwechsel herausstellt, sitzt da ausgerechnet sein alter Schulfreund Craig Carmichael auf einem Stück Pappkarton. Bei einem Bierchen in einem nicht so noblen Laden tauschen sie Erinnerungen und Lebensgeschichten aus. Zuletzt hatten sich Alan und Craig bei einem Konzert von Craigs Band The Rakes im Jahre 1993 gesehen, nachdem die Band von einer erfolgreichen Tour durch Amerika zurückgekehrt war, und als Headliner im QM in Glasgow den Start ihrer UK-Tour absolvierte.
Alan hatte zu Jugendzeiten immer zu dem teuflisch talentierten Gitarristen Craig aufgesehen, durfte in der Anfangszeit der Band auch mal den Bass zupfen, doch als Craig ein echter Star im Rockzirkus wurde, hatte er ihn aus den Augen verloren. In der Zwischenzeit ist Craig allerdings fürchterlich abgestürzt: schon das zweite Album floppte, Craig ging pleite und verfing sich im Drogensumpf und kehrte nach London zurück.
Währenddessen lernte Alan die aus wohlhabendem Hause stammende Katie kennen, mit der er zwei Töchter und einen Sohn hat und in einem großen Haus außerhalb Londons lebt. Alan quartiert seinen alten Freund zunächst im Gästezimmer ein, will ihm wieder auf die Beine helfen. Tatsächlich erreicht er, dass Craig noch 32.000 Pfund an Tantiemen ausgezahlt bekommt, sich eine eigene Wohnung und neue Zähne leisten kann, ja sogar seine musikalische Karriere wieder in Schwung bringt. Dagegen häufen sich bei Alan die Unglücksfälle. Zunächst erhält Katie ein Handyvideo, auf dem zu sehen ist, wie Alan von einer Unbekannten im eigenen Haus einen Blowjob genießt, so dass er ausziehen muss, dann sitzt ihm das Finanzamt mit einer Untersuchung im Nacken und sperrt ihm die Konten und Kreditkarten. In wenigen Wochen befindet sich Alan genau dort, wo er Craig vor einigen Monaten gefunden hatte …
„Was war passiert? Eben noch hatte er eine wundervolle Frau, eine wundervolle Familie und ein wundervolles Zuhause, und nur eine Minute später war er mittellos und hauste in einem beschissenen Billighotel. Sein Leben war wie eines dieser GIFs auf Hold My Beer. Er war der Typ, der im Lagerhaus einen Gabelstapler wendet. Erst ist alles bestens, aber dann stößt er gegen ein Regal, und zwei Sekunden später sieht es aus, als hätte jemand eine Bombe gezündet. Wie Ground Zero.“ (S. 296) 
Der schottische Bestsellerautor John Niven („Old School“, „Gott bewahre“) erweist sich auch in seinem neuen Werk als feiner Kenner der Materie, über die er schreibt. Als ehemaliger A&R-Manager bei einer Plattenfirma fällt es ihm nicht schwer, den rasanten Auf- und ebenso schnellen Abstieg von Alans Freund Craig authentisch zu skizzieren. Humorvoll ist aber vor allem Alans Alltag und Lebensumfeld beschrieben. Dabei gelingt es ihm, Alan zwar nicht als Supersympathisant zu zeichnen, aber eben als aufrechten Mann, der seine Berufung in dem Schreiben von Kochbüchern mit ausgefallenen Themen und Restaurantkritiken gefunden hat und durch seine wohlhabende Frau keine finanziellen Sorgen kennt, ohne aber auf dicke Hose zu machen.
Niven hat sichtlich Spaß daran, den Hype um neue Restaurants mit überteuerten Gerichten und langen Wartezeiten durch den Kakao zu ziehen, aber auch die Kolumnentätigkeit seiner Frau wird in einer herrlichen Persiflage auf den Wohlfühl- und Gesundheitswahn wunderbar kommentiert. So richtig derben Humor präsentiert Niven seinen Fans in einer seitenlang beschriebenen Episode darüber, wie Alan mit seinem problematischen Stuhlgang der Sanitäranlage in dem uralten Landsitz von Katies Eltern den Rest gibt und damit die feine Gesellschaft im Speisesaal in die Flucht schlägt. Überhaupt zählen die Szenen, in denen die High Society auf das Elend trifft, das zunächst Craig, dann auch Alain verkörpern, zu den gelungensten in „Alte Freunde“, weil Niven auf ebenso humorvolle wie pointiert treffsichere Weise die dem Roman vorangestellten Sprichwort „Keine gute Tat bleibt ungesühnt“ und F. Scott Fitzgeralds Zitat „Nichts ist widerwärtiger als das Glück anderer Leute“ auf literarische Weise zum Leben erweckt. Dabei berührt er auch Fragen nach dem Ursprung und dem Wesen von (Männer-)Freundschaften, nach Glück, Dankbarkeit und Neid sowie der Bedeutung von materiellem Reichtum. Selten wurde eine Achterbahnfahrt durch das Leben so leichtfüßig, gut beobachtet und dabei so unglaublich witzig beschrieben. 
Leseprobe John Niven - "Alte Freunde"

Lawrence Block (Hrsg.) – „Nighthawks – Stories nach Gemälden von Edward Hopper“

Freitag, 10. November 2017

(Droemer, 320 S., HC)
Der amerikanische Maler Edward Hopper (1882-1967) wird gern und sicher zurecht als Chronist der amerikanischen Zivilisation bezeichnet, in der vor allem die Isolation des modernen Menschen thematisiert wird. So sitzen in seinem wohl berühmtesten Gemälde „Nighthawks“, das Titel und Cover der vorliegenden Anthologie ziert, drei Gäste in einer Bar, die scheinbar nicht miteinander kommunizieren und in ihre eigenen Gedanken versunken sind, flankiert von einem beschäftigten Barkeeper. Dieses und 16 weitere Gemälde Hoppers dienten den Schriftstellern, die Lawrence Block für seinen Sammelband begeistern konnte, als Inspiration für die Geschichten, die eigentlich in Hoppers Werken zu finden sind, aber bislang nicht erzählt wurden.
Block, der selbst mit seinen Krimis um den Buchhändler und Einbrecher Bernie Rhodenbarr, den Auftragsmörder Keller und den alkoholkranken Privatdetektiv Matthew Scudder ein gefeierter Autor ist und zu Hoppers „Automat“ (1927) eine Geschichte beigesteuert hat, beschreibt in seinem Vorwort:
Hopper war weder Illustrator noch narrativer Künstler. Seine Bilder erzählen keine Geschichten. Stattdessen vermitteln sie – kraftvoll und unwiderstehlich – den Eindruck, dass sich darin Geschichten verbergen, die nur darauf warten, erzählt zu werden. Er zeigt uns einen Moment, auf die Leinwand gebannt; eindeutig hat dieser Vergangenheit und Zukunft, doch es ist an uns, sie zu entdecken.“ (S. 10) 
Die Auswahl der Bilder für ihre Geschichten blieb den Autoren vorbehalten. Manchmal wird der Bezug zum ausgewählten Gemälde gleich in den ersten Sätzen deutlich, manchmal ist es nur eine Stimmung, die das Gemälde für den Schriftsteller ausstrahlt und eine Geschichte in Bewegung setzt. So erzählt Jill D. Block in „Die Geschichte von Caroline“ die Begegnung zwischen der bei Pflegeeltern aufgewachsenen Hannah und ihrer leiblichen Mutter Grace, die sie als Pflegekraft für ihren im Sterben liegenden Mann Richard engagiert hat, während auf dem dazugehörigen Bild „Summer Evening“ (1947) ein junger Mann und eine junge Frau nachts auf der Veranda an der Mauer lehnen. Robert Olen Butler hat dagegen in seiner Story „Abenddämmerung“ sehr konkret die Figurenkonstellation auf dem Bild „Soir Bleu“ (1914) mit einem Clown auf der Veranda, zwei Männern, die ihm am Tisch gegenübersitzen, und einer dabeistehenden Frau als Ausgangspunkt für eine Geschichte über die Erinnerung des Ich-Erzählers über seine Begegnung mit einem Pierrot in jungen Jahren genommen.
Und Michael Connelly lässt den Helden seiner Romanreihe um Detective Bosch auch in „Nachtfalken“ auftreten, wobei Bosch als Privatermittler den Hintergrund einer jungen Frau erforschen soll, die zur Inspiration für ihre Ambitionen als Schriftstellerin ins Museum geht, um Hoppers Gemälde „Nighthawks“ zu studieren.
Zwar sind in Deutschland nicht alle hier versammelten Autoren bekannt, aber auch die neben den Thriller-/Krimi-/Horror-Autoren Lee Child, Joyce Carol Oates, Jeffery Deaver, Joe R. Lansdale und Stephen King hierzulande nicht bekannten Schriftsteller tragen zur äußerst gelungenen Anthologie bei, die über verschiedene literarische Genres hinweg doch immer eindringlich die melancholisch-lakonische Stimmung in Hoppers Gemälden einfängt. Dazu lädt die wunderschöne Gestaltung des Hardcover-Hochglanz-Buches einfach auch dazu ein, sich selbst von den den einzelnen Geschichten vorangestellten Abbildungen inspirieren zu lassen.
Leseprobe Lawrence Block - "Nighthawks"

Ross Macdonald – (Lew Archer: 11) „Unterwegs im Leichenwagen“

Montag, 6. November 2017

(Diogenes, 418 S., Pb.)
Kurz bevor die 24-jährige Harriert Blackwell Zugriff auf ihr beträchtliches Erbe erhält, lernt sie in Mexiko den attraktiven Maler Burke Damis kennen und will ihn unbedingt heiraten. Ihr strenger Vater, Colonel Blackwell, ist alles andere als begeistert von den Plänen seiner rebellischen Tochter und setzt Privatdetektiv Lew Archer darauf an, der den Hintergrund von Harriets großen Liebe erkunden und schließlich das geflüchtete Paar auffinden soll.
Recht schnell findet Archer heraus, dass Damis sich bei der Überquerung der mexikanischen Grenze einen neuen Namen zugelegt hat: Quincy Ralph Simpson. Der ursprüngliche Träger dieses Namens wurde kurz zuvor mit einem Eispickel erstochen. Und Damis heißt eigentlich Bruce Campion, der wegen Mordes an seiner Frau gesucht wird. Als Harriets blutbefleckter Hut an einem See gefunden wird, befürchten Archer und Blackwell das Schlimmste. Derweil macht sich Archer auf die Reise durch ganz Kalifornien bis nach Mexiko, um Harriets und Campions Spur zu folgen. Dabei spielt vor allem ein abgerissener Knopf vom Mantel des ermordeten Simpson eine Schlüsselrolle bei der Aufklärung des Falls – sowie ein in der Gegend herumfahrender Leichenwagen, in dem junge Leute die Strände nach der nächsten großen Welle abfahren.
„Eine der Vermutungen war zur Gewissheit geworden, seit ich erfahren hatte, dass der Tweedmantel nahe beim Strandhaus der Blackwells gefunden worden war: Der Fall Blackwell, der Fall Dolly Campion und der Fall Ralph Simpson hingen miteinander zusammen. Dolly und Ralph und wahrscheinlich auch Harriet waren von ein und derselben Hand getötet worden, und der Mantel konnte mich zu dieser Hand führen.“ (S. 307f.) 
Natürlich ist auch bei diesem Fall nichts so, wie es zunächst scheint. Aus der anfangs sicher berechtigten Sorge eines Vaters, dass seine einzige Tochter das naive Opfer eines Erbschleichers werden könnte, entwickelt sich ein vertracktes Geflecht aus einem raffinierten Spiel mit Identitäten, ungeklärten Schwangerschaften und komplizierten Verwandtschaftsbeziehungen, Freund- und Liebschaften, das Archer mit viel Geduld, intensiver Reisetätigkeit und Hartnäckigkeit allmählich zu entschlüsseln versteht. Mit nahezu jeder Begegnung und Befragung erhält Archer ein neues Puzzleteil, bis sich zum Schluss der große, überraschende Zusammenhang ergibt.
Bis dahin erlebt der Leser eine faszinierende Schnitzeljagd, bei der ihm die unterschiedlichsten Figuren mit durchaus eigenwilligem Charakter begegnen, die Archer mit seiner einfühlsamen Art aber zu durchdringen vermag. Wie Donna Leon im Nachwort zur überaus gelungenen Neuübersetzung des 1962 im Original veröffentlichten Krimis feststellt, sind die beschriebenen Beziehungen in dem Roman sehr unausgewogen, Hass und weniger erwiderte Liebe prägen die Atmosphäre. Ross Macdonald erweist sich hier einmal mehr als vollendeter Stilist mit einem ausgeprägten Sinn für lebendige Dialoge und fein gezeichnete Charaktere.
Leseprobe Ross Macdonald - "Unterwegs im Leichenwagen"

Richard Laymon – „Das Auge“

Donnerstag, 2. November 2017

(Heyne, 336 S., Tb.)
Mitten in einem Konzert des Streichquartetts, in dem seine Freundin Melanie mitwirkt, muss Bodie mitansehen, wie Melanie keuchend mit einem krampfartigen Zittern zu Boden sackt. Als sie wieder zu sich kommt, erzählt sie Bodie von einer Vision, in der sie ihren Vater tot sah. So eine starke Vision hatte sie bislang nur einmal, als ihre Mom getötet wurde. Um festzustellen, ob es ihrem Vater Whit gut geht, machen sich Bodie und Melanie auf die lange Fahrt von Phoenix nach Brentwood in Kalifornien. Tatsächlich finden sie Melanies Vater im Krankenhaus vor, nachdem er auf dem Parkplatz seines Lieblingsrestaurants angefahren worden war.
Die beiden Reisenden könnten bei Melanies Schwester Pen unterkommen, die zudem von obszönen Anrufen belästigt wird, doch stattdessen richten sie sich im Haus ihres Vaters und seiner neuen Frau Joyce ein. Melanie wird das Gefühl nicht los, dass Joyce zusammen mit Harrison, dem Partner ihres Mannes, dafür verantwortlich gewesen ist, dass dieser nun im Krankenhaus mit dem Tod ringt. Doch während vor allem Melanie darauf erpicht ist, in Harrisons Haus nach Spuren des Verbrechens zu suchen, kommen sich Bodie und Pen näher …
„Die haben dich echt beschissen, Whit. Aber so richtig. Dein Kanzleipartner und deine liebe Frau. Solltest du je wieder zu dir kommen, warten ein paar böse Überraschungen auf dich.
Aber haben sie dich überfahren? Das ist die große Frage. Eine hübsche Vorstellung, sie dafür büßen zu lassen, falls sie verantwortlich sind.“ (S. 211) 
Nachdem allein der Heyne Verlag in den letzten Jahren über 25 Titel des 2001 verstorbenen Horror-Schriftstellers Richard Laymon veröffentlicht hat, schließt „Das Auge“ eine der letzten Lücken in der Werksbiografie des populären, aber auch polarisierenden Amerikaners. Der im Original 1992 veröffentlichte Roman gehört zu Laymons mittlerer, sehr produktiver Schaffensperiode, aber fraglos nicht zu seinen besten Werken. Zwar hält Melanies Vision zu Anfang ein übernatürliches Element parat, doch davon abgesehen bietet „Das Auge“ einen eher konventionellen Thriller-Plot, in dem ein Pärchen einer familiären Verschwörung auf den Grund zu kommen versucht.
Die Dramaturgie ist bei dem sehr überschaubaren Figurenensemble allerdings überraschend zähflüssig ausgefallen, und auch der bei Laymon sonst ausgeprägte Splatter- und Sex-Faktor hält sich stark in Grenzen. Obwohl sich der Plot eigentlich wie ein Kammerspiel nur innerhalb der Familie abspielt, sind die Charakterisierungen der Figuren erschreckend dünn ausgefallen, ihre Motivationen und Handlungen nicht immer schlüssig nachzuvollziehen.
Zum Ende hin nimmt die Story endlich an Fahrt auf, doch die wunderbare Schlusssequenz kann leider nicht über ein sonst eher schwaches Laymon-Werk hinwegtäuschen. 
Leseprobe Richard Laymon - "Das Auge"