Anthony McCarten – „Jack“

Montag, 26. Februar 2018

(Diogenes, 255 S., HC)
Die Berkeley-Literaturstudentin Jan Weintraub hat sich im Frühjahr 1968 vorgenommen, die offizielle Biographie über ihr Idol Jack Kerouac zu schreiben, doch ihn aufzufinden erweist sich als gar nicht so leicht. Nach zehn veröffentlichten Romanen hat Kerouac zwei Jahre zuvor beschlossen, sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Als sie ihn schließlich in Florida bei seiner Mutter aufspürt, bleibt ihr nicht viel Zeit, die Erlaubnis von dem Kultautor einzuholen, dessen Roman „Unterwegs“ in den 1950er Jahren zur Bibel der Beatniks geworden war, denn der 47-Jährige hat sich vorgenommen, sich totzusaufen. Doch mit einer dreisten Lüge gelingt es Jan, nicht nur eine Einladung in Jacks Haus zu bekommen, sondern mit ihrem Idol auch über seine Vergangenheit zu sprechen, über die Reihenfolge in der Entstehung seiner Werke, über seine erste Frau Edie Parker, über die Freundschaft mit Allen Ginsberg, William W. Burroughs und vor allem mit Neal Cassady, der das Vorbild für Jacks berühmteste Figur, Dean Moriarty, werden sollte.
Doch vor allem will die ambitionierte Studentin an die Briefe kommen, die Jack verschiedenen Quellen zufolge sorgsam archiviert hatte, aber nun verbrannt sein sollen. Als sie von Jack dabei erwischt wird, wie sie seine Schubladen nach den Briefen durchsucht, erfährt die Beziehung zwischen Autor und Biographin eine ganz neue Dynamik. Nicht nur Jans Mutter gerät mehr in den Fokus ihrer Ambitionen, sondern auch Jacks einst bester Freund Neal.
„Bei alldem, in dem ganzen Bericht, den ich auf Band aufgenommen hatte, zeigte er nicht einen Hauch von Bedauern über sein Verhalten, wie ich es eigentlich von ihm erwartet hätte. Kein Hinweis, dass etwas daran nicht richtig gewesen sei, kein Gefühl der Mitschuld an Neals Niedergang, (…) nicht ein Fünkchen Mitgefühl. Wer war dieser Mann bloß, fragte ich mich, dieser riesige weiße Wal, der so selten aus der Tiefe auftauchte?“ (S. 92) 
Anthony McCarten hat bereits mit seinen Drehbüchern zu den verfilmten Biographien von Stephen Hawking („Die Entdeckung der Unendlichkeit“) und Winston Churchill („Die dunkelste Stunde“) eindrucksvoll bewiesen, dass er einen ganz besonderen Blick auf die Lebensgeschichten ungewöhnlicher Persönlichkeiten besitzt. Zum Beatnik-Star Jack Kerouac hat der in Neuseeland geborene und in London lebende Bestseller-Autor („Englischer Harem“, „Superhero“) insofern eine ganz besondere Beziehung, weil dieser ihn zum Schreiben gebracht habe und er sich sehr gut mit den Dämonen auskenne, die auch Kerouac verfolgt haben.
Der erste Teil des ebenso kurzen wie kurzweiligen und wendungsreichen Buches liest sich zunächst wie die eher konventionelle Annäherung einer Möchtegern-Biographin an ihr Idol. Von ihrem eingangs geschilderten Besuch seiner Beerdigung richtet die Berkeley-Studentin als Ich-Erzählerin den Blick zurück auf die Suche nach Jack Kerouac und den nicht immer leichten Zugang zu ihrem Idol, der sich aber doch auf Tonbandaufnahmen der Gespräche zwischen ihnen einlässt. Hier werden im Schnelldurchlauf die wichtigsten Stationen in Kerouacs Leben skizziert, etwas ausführlicher wird dabei auf Neal Cassady eingegangen, an dem die Biographin ein besonderes Interesse zeigt.
Warum das so ist, wird im zweiten Teil nach Jans Kompromittierung durch Kerouac deutlich, als einige unbequeme Wahrheiten aufgedeckt werden und ein munteres Spiel um Identitäten seinen Lauf nimmt. Hier verlässt McCarten das vertraute Terrain konventioneller Künstler-Biographien und richtet den Blick nicht nur verstärkt auf die Ich-Erzählerin, sondern widmet sich dabei ganz allgemein auch der Frage, wer wir eigentlich sind und woran die Identität eines Menschen eigentlich festgemacht wird. Der philosophische Diskurs ist dabei aber ganz unterhaltsam in die Verstrickungen eingebunden, in die sich die junge Frau manövriert hat und für die sie sich nicht nur Kerouac gegenüber rechtfertigen muss.
McCarten gelingt dabei das Kunststück, eine literarische Kultfigur wieder lebendig werden zu lassen und dabei den Leser zum Nachdenken über seine eigene Persönlichkeit anzuregen.
Leseprobe Anthony McCarten - "Jack"

James Carlos Blake – „Red Grass River“

Sonntag, 25. Februar 2018

(Liebeskind, 528 S., HC)
Die Everglades werden von den Einheimischen wegen der mörderischen Mischung aus Treibsand, Zypressensümpfen, Zwergpalmetto-Gestrüpp, Alligatoren, Panther, Schlangen und Mücken als Devil’s Garden bezeichnet. Hier hilft im Dezember 1911 der achtzehnjährige John Ashley seinem Vater dabei, Alkohol an die Indianer zu verkaufen. Als er bei einer Auseinandersetzung den Indianer DeSoto Tiger erschießt, kommt er erstmals mit dem Gesetz und Sheriff Bobby Baker in Konflikt, dem er nicht nur das Mädchen wegnimmt, sondern der ihn und seine Familie von Gesetzesvertretern immer wieder herausfordert, zunächst mit Banküberfällen, zur Prohibition mit flächendeckendem Alkoholschmuggel und Morden.
Bei einem der Raubüberfälle schießt ihm der Chicagoer Gangster Kid Lowe versehentlich ein Auge aus. Zusammen mit seiner Geliebten, der blinden Loretta May, die er im Freudenhaus von Miss Lillian kennen- und lieben gelernt hat, lebt John Ashley mit seinen Brüdern und seinem Neffen Hanford Mobley in den Sümpfen, die er wie kein Zweiter in- und auswendig kennt. Kurz bevor Ashley eine Haftstrafe im Staatsgefängnis von Raiford antritt, lernt er die schöne Laura Upthegrove kennen und führt sie in seine Familie ein, die mit ein paar Freunden von John Vater Old Joe Ashley dafür sorgt, dass Ashley aus dem Gefängnis fliehen kann, worüber Bobby Baker alles andere als erfreut ist.
„Es schien, als warte er auf etwas, von dem er nicht genau wusste, was es war. Und viele Menschen teilten dieses Gefühl. Sie sagten, es fühle sich an wie ein schlimmer Sturm, der sich am Horizont zusammenbraute, auch wenn man die Anzeichen noch nicht benennen könne. Als braue er sich ohne Geräusch oder Geruch und ohne Windhauch zusammen, und doch wisse doch jeder, dass er da draußen lauere und unweigerlich heranziehen werde.“ (S. 398) 
Zwischen dem schnell zur Legende gewordenen Outlaw und dem liebevollen Familienvater und Gesetzeshüter Bobby Baker entwickelt sich ein tiefverwurzelter Hass, ein Krieg, der erst am 1. November 1924 beendet wird, als die Ashley-Gang auf dem Weg nach Jacksonville zu einem weiteren Bankraub ist und in eine Straßensperre auf dem Dixie Highway gerät.
Der in Mexiko geborene, in Texas aufgewachsene und heute in Arizona lebende Schriftsteller James Carlos Blake wurde hierzulande durch die mit dem Los Angeles Times Book Prize prämierte deutsche Erstveröffentlichung „Das Böse im Blut“ bekannt und hat schon in seinem Debütroman „Pistolero“ einer amerikanischen Gangster-Legende nachgespürt, dem Revolverhelden John Wesley Hardin (1853-1895).
Mit seinem im Original 1998, nun endlich in deutscher Übersetzung veröffentlichten Roman „Red Grass River“ rekapituliert er das Leben und Wirken des Outlaws John Ashley aus der Sicht des Liars Club, einer Gruppe von alten Männern, die als sogenannte „Cracker“, Viehtreiber, aus dem Süden nach Florida kamen und sich allerlei Geschichten über John Ashleys Gang und die Verbrechen, die sie begingen, erzählten.
Bereits aus dieser Erzählperspektive wird deutlich, wie sehr sich Fakt und Fiktion bei dem vorliegenden Werk vermischen. Blake bedient sich dabei einer ebenso rauen wie farbenprächtigen Sprache, die den harschen Umgangston unter den Männern ebenso pointiert wiedergibt wie die Schrecken der unbarmherzigen Natur, die allerdings zunehmend zurückgedrängt wird. Der Autor nutzt die epische Gangster-Ballade nicht nur für die Darstellung der über ein Jahrzehnt andauernden Fehde zwischen den Ashleys und Bakers, sondern auch zur Beschreibung von gewaltigen Veränderungen, von der Bezähmung der Natur, der Ausbreitung von wirtschaftlichen Interessen und Verbrechen, aber auch von der Leidenschaft, mit der Menschen sich lieben und zerstören.
Ähnlich wie Cormac McCarthy („Die Abendröte im Westen“) - wenn auch nicht ganz so düster - beleuchtet James Carlos Blake die dunklen Kapitel in der amerikanischen Geschichte. Detailliert beschreibt er, welche Wunden Messer, Pistolen, Gewehre und Fußtritte und Faustschläge anrichten, wie Rippen und Kiefer brechen, Haarbüschel von der Kopfhaut geschossen werden und Blut gespuckt wird. Auch bei der Schilderung der vielen Sexszenen fühlt sich der Leser eher an Raufereien als an liebevolle Zusammenkünfte erinnert.
Zwar stehen die Ashleys im Mittelpunkt der Geschichte, aber James Carlos Blake kommt auch immer wieder auf die Baker-Familie zurück, um so einen bürgerlichen Gegenentwurf zu dem Verbrecherdasein der Ashleys zu zeichnen, auch wenn dieser weitaus weniger interessant erscheint. Nachdem jetzt erst drei Romane des vielfach ausgezeichneten Autors auf Deutsch erhältlich sind, bleibt zu hoffen, dass auch die nach „Red Grass River“ veröffentlichten Romane und dabei vor allem die bereits vier Bände umfassende Wolfe-Reihe bald nachfolgen werden. 
Leseprobe James Carlos Blake - "Red Grass River"

Nils Daniel Peiler – „201 x 2001 – Fragen und Antworten mit allem Wissenswerten zu Stanley Kubricks Odyssee im Weltraum“

Montag, 19. Februar 2018

(Schüren, 108 S., Tb.)
Nach seinem Meisterwerk „Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben“ (1964) war der gefeierte Filmemacher Stanley Kubrick so sehr von der Idee außerirdischen Lebens fasziniert, dass er einen wirklich guten Science-Fiction-Film realisieren wollte, was ihm 1968 in Zusammenarbeit mit dem Science-Fiction-Darsteller Arthur C. Clarke mit „2001: Odyssee im Weltraum“ auch gelang. Immerhin kürte das American Film Institute Kubricks Film 2008 zum besten Science-Fiction-Film aller Zeiten. Seither ist auch viel Literatur zum 1999 verstorbenen Regisseur und natürlich auch zu „2001: Odyssee im Weltraum“ veröffentlicht worden.
Der Filmwissenschaftler Nils Daniel Peiler hat sich bereits als Promotionsstipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung am Institut für Europäische Kunstgeschichte der Universität Heidelberg zur künstlerischen Rezeption des Films geforscht, dazu sowohl den Nachlass des Regisseurs an der University of the Arts in London ausgewertet als auch Kontakt zur Familie gehalten. Schließlich ist er Kokurator der „2001“-Jubiläumsausstellung im Deutschen Filmmuseum Frankfurt, die bis September 2018 Originalrequisiten, Zeichnungen und Dokumente präsentiert.
Peilers gerade mal gut 100-seitiges Büchlein nähert sich dem vieldiskutierten Meisterwerk auf ungewohnte Weise, nämlich in Form von 201 Fragen, die alphabetisch zu Themen wie „Arbeitstitel“ und „Auszeichnung“ bis zu „Zeilen“ des Filmdialogs und zum „Zeitgeist“ abhandeln. Einige Antworten wie zur Affengrube und den dort eingesetzten Special Effects sind sicher interessanter als beispielsweise Fragen, wessen Atem bei den Astronauten zu hören ist, in welchen Ländern der Film in die Kinos kam oder wer die deutschen Synchronsprecher waren. Und manche Fragen wiederholen sich, wenn es beispielsweise um die Zusammenarbeit zwischen Kubrick und Clarke oder die Fortsetzungen und ihre dazugehörigen Marketing-Slogans geht. Aber für den interessierten Leser ergibt sich so wirklich häppchenweise ein informatives Gesamtbild aus faszinierenden Facetten, die Verschwörungstheorien genauso umfassen wie Erklärungen zu den damals bahnbrechenden Special Effects, für die Kubrick übrigens seinen einzigen Oscar zu Lebzeiten erhielt.
Wer tiefer in die Materie zu Stanley Kubricks außergewöhnlichen Werk eintauchen möchte, sollte aber beispielsweise auf das von Alison Castle herausgegebene „Stanley Kubrick Archiv“ (Taschen), „Stanley Kubrick und seine Filme“ von Fernand Jung und Georg Seesslen (Schüren) oder „Stanley Kubrick“ von Andreas Kilb und Rainer Rother (Beltz) zurückgreifen.

John Grisham – „Die Firma“

Sonntag, 18. Februar 2018

(Heyne, 558 S., Tb.)
Kurz vor seinem Anwaltsexamen verfügt der ehrgeizige Harvard-Student Mitchell McDeere bereits über äußerst lukrative Angebote von der Wall Street und aus Chicago, doch so richtig begeistert ist er nach einem Bewerbungsgespräch bei der kleinen, aber in jeder Hinsicht äußerst großzügigen Anwaltskanzlei Bendini, Lambert & Locke, die ihm nicht nur ein besseres Gehalt zahlen würde als die bisherigen Interessenten, sondern auch eine zinsgünstige Hypothek auf ein schickes Eigenheim und einen BMW bereitstellen. Zwar würde er sich in den ersten Jahren fast totschuften müssen, aber die Partnerschaft wäre ihm in ein paar Jahren sicher.
Auch seine wunderschöne Frau Abby, die als Lehrerin arbeitet, ist von dem Angebot begeistert und zieht mit ihrem aus ärmlichen Verhältnissen stammenden Mann bereitwillig nach Tennessee, wo sie mit einer Innenarchitektin das neue Heim einrichtet und mit den Frauen der anderen Anwälte shoppen geht. Mitch gibt derweil sein Bestes und trumpft in der Firma mit einer für einen Frischling erstaunlichen Summe an anrechenbaren Stunden auf. Doch schon bald zeigen sich Risse in der luxuriösen Fassade, denn Mitch stellt fest, dass abgesehen von den Ruheständlern kein Anwalt die Firma lebendig verlassen hat.
Gleich zu Beginn wohnt Mitch der Beerdigung zweier vielversprechender Kollegen bei, die unter mysteriösen Umständen bei den Cayman-Inseln ums Leben gekommen sind – offensichtlich nicht der erste merkwürdige Todesfall in der Firma. Wenig später tritt auch noch FBI-Agent Wayne Tarrance an Mitch heran, um ihn als Informanten zu ködern, denn die Firma soll ein gut funktionierender Geldwäschebetrieb der berüchtigten Morolto-Familie aus Chicago sein.
Mitch lässt sich auf einen Deal mit dem FBI ein, bei dem auch Mitchs Bruder Ray aus dem Gefängnis entlassen werden soll, doch dann entdeckt das FBI ein Leck in den eigenen Reihen, so dass Mitch, Abby und Ray gezwungen sind, einen eigenen Fluchtplan zu entwickeln.
„Er musterte sie, einen nach dem anderen, rings um die Tische herum. Ihre Gesichter waren gerötet. Ihre Augen funkelten. Sie waren seine Freunde – Familienväter mit Frauen und Kindern -, und alle steckten in dieser furchtbaren Verschwörung. (…)
Vor einem Jahr war er ein toller Harvard-Mann mit Stellenangeboten in jeder Tasche gewesen.
Jetzt war er Millionär, und bald würde auf seinen Kopf ein Preis ausgesetzt sein.“ (S. 415) 
Nach seinem erfolgreichen Jura-Studium an der University of Mississippi praktizierte John Grisham zehn Jahre lang in seiner eigenen Anwaltskanzlei und wurde dort zu dem Thema inspiriert, das 1990 die Grundlage für seinen ersten Thriller bilden sollte. Der später mit Tom Cruise in der Hauptrolle verfilmte internationale Bestseller ließ Grisham seinen Anwaltsjob aufgeben und zu einem der weltweit erfolgreichsten Schriftsteller werden.
Mit „Die Firma“ hat er einen packenden Plot konstruiert, der von den sympathischen Aufsteigern Mitch und Abby McDeere getragen wird, deren Ehe nicht nur durch Mitchs enorme Arbeitsleistung in der Firma belastet wird. Grisham ist sicher kein Autor, der sich durch besonders komplexe Charakterisierungen seiner Figuren auszeichnet. Sowohl die McDeeres als auch die Anwälte bei Bendini, Lambert & Locke sowie die FBI-Leute wirken recht eindimensional, aber der Autor ist definitiv ein Meister in der Beschreibung juristischer Arbeitsprozesse und spannender Verwicklungen, die sich zu einem actionreichen Finale verdichten.
Vor allem die Einführung der McDeeres in die neue, luxuriöse Welt gelingt Grisham großartig, die Beschreibung der ersten komplizierten Fälle, an denen der Junganwalt arbeitet, und auch die ersten Begegnungen mit dem FBI. Und auch Grishams eigener ehemaliger Berufszweig bekommt auf der Jagd nach möglichst vielen anrechenbaren Stunden ordentlich sein Fett weg.
Die Flucht der McDeeres sowohl vor dem Mob als auch dem FBI ist dann so temporeich und komprimiert dargestellt, dass der etwas arg konstruierte Plot kaum negativ ins Gewicht fällt, so sehr fiebert der Leser mit den cleveren McDeeres mit. 
Leseprobe John Grisham - "Die Firma"

Stephen King – „Die Augen des Drachen“

Sonntag, 11. Februar 2018

(Heyne, 382 S., Tb.)
Einst herrschte Roland, der Gütige, über das Königreich Delain. Er war weder der schlechteste noch der beste König, der das Land regiert hatte, aber er gab sich große Mühe, keinem Unrecht zu tun. Als sein Ende nahte, war jedem im Königreich klar, dass Rolands erster Sohn Peter das Zepter übernehmen würde, doch der dämonische Hofzauberer Flagg setzte alles daran, Peters jüngeren und weitaus schwächeren Bruder Thomas auf den Thron zu hieven.
Da Peter so sehr seiner ebenso schönen wie gutmütigen Mutter Sasha glich und wenig beeinflussbar schien, schmiedete Flagg einen teuflischen Plan, an dessen Beginn der unauffällige Mord an der Königin stand, die verblutete, als sie Thomas zur Welt brachte. Tatsächlich gelingt es dem teuflischen Flagg, Peter den Mord an seinem Vater anzuhängen, so dass Peter für den Rest seines Lebens in der Spitze der Nadel – so der Name für das Gefängnis im königlichen Schloss – verbringen und Thomas zum neuen König gekrönt werden.
Als dessen Berater könnte Flagg viel leichter seine eigenen Ziele verwirklichen. Als Zeuge von Flaggs Bösartigkeit gab sich Thomas zunehmend dem Alkohol hin und ließ das Königreich vor die Hunde gehen, während Peter seinerseits einen Plan schmiedete, aus dem hundert Meter über dem Erdboden befindlichen Gefängnis zu fliehen. Doch dafür benötigte er die Hilfe seines alten Dieners Dennis und des mittlerweile verbannten Richters Peyna …
„Peter hatte einen Traum gehabt – seit über einer Woche kehrte er immer wieder und wurde zunehmend deutlicher. Darin sah er Flagg über einen hellen, leuchtenden Gegenstand gebeugt – er tauchte das Gesicht des Magiers in ein fahlgrünes Licht. In diesem Traum kam stets der Zeitpunkt, da Flagg zuerst überrascht die Augen aufriss – und sie dann zu tückischen Schlitzen zusammenkniff. Die Brauen sträubten sich; die Stirn runzelte sich; sein Mund zog sich verbittert wie ein Halbmond nach unten. In diesem Augenblick konnte der träumende Peter eines – und nur eines – deutlich lesen: Tod.“ (S. 279) 
Bevor sich Stephen King an sein großes Magnum Opus machte, den achtteiligen Zyklus um den „Dunklen Turm“, veröffentlichte er 1983 eine auf 1250 limitierte und illustrierte Ausgabe des Märchens „Die Augen des Drachen“, das er eigentlich für seine eigene Tochter Naomi und für Ben, den Sohn seines befreundeten Kollegen Peter Straub, geschrieben hatte. Erst vier Jahre später erschien die – gekürzte - deutsche Erstausgabe bei Heyne.
„Die Augen des Drachen“ ist aus der Sicht eines klassischen Geschichtenerzählers geschrieben, der immer wieder geschickt sein Publikum direkt anspricht und es so wunderbar in das Geschehen miteinbezieht. Die Geschichte enthält alles, was ein gutes Märchen ausmacht: einen aufrechten König, der in seiner Jugend Drachen erlegte; eine schöne und schüchterne Königin, die ihrem Erstgeborenen persönlich die beste Erziehung angedeihen lässt; den eifersüchtigen und einfältigen Spätgeborenen und den dämonischen Hofzauberer, der geschickt intrigiert und seine tödlichen Gifte ganz nach seinen teuflischen Plänen einzusetzen versteht.
Mit Roland und Flagg sind zumindest namentlich auch schon Hinweise auf den „Dunklen Turm“ gegeben, doch im Gegensatz zu den komplexen Konstruktionen in Raum und Zeit, die King in diesem monumentalen Fantasy-Epos entworfen hat, ist „Die Augen des Drachen“ ganz geradlinig erzählt und natürlich auch für ein jüngeres Publikum wunderbar geeignet.  
Stephen King, der wenig später sein einflussreiches Horror-Meisterstück „Es“ publizieren sollte, erwies sich bereits hier als fesselnder Storyteller, der sich offenbar in jedem literarischen Genre zu Hause fühlt. 
Leseprobe Stephen King - "Die Augen des Drachen"

Cormac McCarthy – „Die Abendröte im Westen“

Samstag, 10. Februar 2018

(Rowohlt, 444 S., Pb.)
Im Jahr 1849 verlässt ein namenloser, ebenso blasser wie magerer Junge, dessen Mutter bei seiner Geburt vor vierzehn Jahren verstarb und dessen Vater vom ehemaligen Lehrer zum Dichter rezitierenden Trinker heruntergekommen ist, das Elternhaus und kehrt nicht mehr zurück. Mit seinem latenten Hang zu sinnloser Gewalt zieht er westwärts nach Memphis und dann weiter durch die pastorale, flache Landschaft nach Saint Louis und New Orleans. Er arbeitet in einem Sägewerk, in einer Quarantänestation für Diphtheriekranke und auf einer Farm, wo er sich seinen Lohn in Gestalt eines bejahrten Maultiers auszahlen lässt. Zunächst lässt er sich von der amerikanischen Armee anwerben, doch dann schließt er sich einer Gruppe von Freischärlern um den skrupellosen John J. Glanton an, die mit Freuden auf Skalpjagd gehen, die Ohren ihrer Opfer auf eine makabre Halskette aufreihen und dort schwarz verschrumpeln lassen.
Der mexikanisch-amerikanische Krieg fordert aber auch unter der Glanton-Bande zahlreiche Opfer. Am Ende zählen der Junge und der charismatische „Richter“ Holden zu den wenigen Überlebenden des Massakers. Der gebildete, große und komplett haarlose Richter hält sich für unsterblich und macht seinerseits Jagd auf den Jungen …
„Die ganze Nacht über brannten ihre Wachfeuer im finsteren Weltrund; der Junge löste den Revolverlauf, hielt ihn wie ein Fernrohr vors Auge, suchte die warme Sandkimmung vor dem Brunnen ab und forschte nach, ob sich bei den Feuern etwas rührte. Wohl keine Wüste ist so verlassen, dass nicht nachts irgendein Wesen einen Laut von sich gibt, aber hier war es so; umgeben von Dunkel und Kälte lauschten sie ihren Atemzügen, lauschten dem Schlag ihrer rubinfleischernen Herzen.“ (S. 371) 
Dass der ursprünglich 1985 veröffentlichte fünfte Roman von Cormac McCarthy von der US-amerikanischen Kritik sehr gespalten aufgenommen worden war, ist verständlich. Schließlich beschreibt der später mit dem National Book Award (für „All die schönen Pferde“) und Pulitzer Preis (für „Die Straße“) ausgezeichnete Autor in schonungsloser Manier das Ausleben der dunkelsten Triebe des Menschen, das rücksichtslose Foltern und Morden und Abschlachten von Menschen, vornehmlich von Schwarzen, Indianern und Mexikanern, aber auch vermeintliche Konkurrenten aus den eigenen Reihen fallen hier reihenweise dem blutgierigen Treiben der Freischärler zum Opfer. Damit entromantisiert er die Mythen des Wilden Westens und seziert den Siegeszug des weißen Mannes als mörderisches, blutiges Spektakel. McCarthy macht sich nicht die Mühe, um das Skalpieren und Töten herum eine sinnvolle, dramatisch-spannende Geschichte aufzubauen. Er konzentriert sich ganz auf seine ganz und gar unsympathischen triebhaften und bösen Figuren, die ihr räuberisches Tun in keiner Weise moralisch zu rechtfertigen versuchen, sondern aus der puren Lust und Möglichkeit dazu anderen Menschen Leid zufügen.
Nicht mal der vierzehnjährige Junge ohne Namen, mit dem die Geschichte ihren Anfang nimmt, taugt zur Identifikationsfigur, auch wenn er zumindest mehr als eine Ahnung von dem Unterschied zwischen Gut und Böse besitzt. Stattdessen führt der hochgebildete, selbstherrliche, moralisch aber völlig verkommene Richter das Wort, wobei er das Böse und so auch den Krieg als natürlichen Bestandteil der Weltenschöpfung betrachtet.
Als Widerpart zu den unreflektierten Gewaltdarstellungen zeichnet McCarthy allerdings eindringlich schöne Landschaftsbilder, die ein wenig von dem Zauber bewahren, den der Leser durch den Hollywood-Mainstream vom Wilden Westen gewonnen hat.
Es ist beileibe kein kurzweiliges Vergnügen, dem sinnlosen Abschlachten durch das Buch zu folgen, aber in Sachen sprachlicher Eleganz und bildreicher Fabulierkunst gehört „Die Abendröte im Westen“ fraglos zu den ganz großen Werken der amerikanischen Literatur. 
Leseprobe CormacMcCarthy - "Die Abendröte im Westen"

Wallace Stroby – (Crissa Stone: 3) „Fast ein guter Plan“

Montag, 5. Februar 2018

(Pendragon, 316 S., Pb.)
Crissa Stone ist zwar eine professionelle Berufsverbrecherin, aber eine mit dem Herz am rechten Fleck, weshalb sie auch nur die bösen Jungs bestiehlt und keine rechtschaffenden Leute. Nachdem sie bereits eine illegale Pokerrunde erleichtert und die Beute aus einem großen Lufthansaraub an sich genommen hat, wird sie nun für einen an sich simplen Coup engagiert. Zusammen mit ihrem alten Kumpel Charlie Glass, Larry Black und Charlies Cousin Cordell King will Crissa in Detroit in die Übergabe von gut einer halben Million Drogengeld eingreifen, die über den Kofferraum eines unscheinbaren Altwagens abgewickelt wird.
Trotz einiger Bedenken willigt Crissa in den Plan ein, der Coup geht tatsächlich reibungslos über die Bühne, erst bei der Aufteilung der Beute erlebt sie eine böse Überraschung: Cordell taucht plötzlich mit einem Partner auf, nimmt die Crew unter Beschuss. Crissa kann mit Larry gerade noch türmen, aber in einem nahegelegenen Lagerhaus stirbt Larry an seinen Schussverletzungen. Loyal wie Crissa nun mal veranlagt ist, bringt sie ihren eigenen Anteil in Sicherheit und macht sich mit Larrys Anteil auf den Weg in den Süden, wo Larrys Frau Claudette und seine sechsjährige Tochter Haley lebt.
Da sich Larrys Frau jedoch auf einen Drogenhändler eingelassen hat, will Crissa sichergehen, dass Larrys Geld auch in gute Hände gerät, und verbringt Zeit mit Haley. Währenddessen hat der bestohlene Drogenboss Marquis allerdings den Ex-Cop Burke angeheuert, das gestohlene Geld wiederzubeschaffen. Ebenso effektiv wie skrupellos räumt Burke hinter den Geldräubern auf und kommt Crissa immer dichter auf die Fersen …
„Du musst morgen weg, dachte Crissa. Gib das Auto zurück, nimm den Zug nach Norden. Je länger du bleibst, desto schwerer wird es für euch beide, euch voneinander zu verabschieden. Mit der Zeit und mit etwas Glück könnte Haley vergessen, was geschehen war und hier ein neues Leben anfangen. Aber sie fühlte keinen Drang, zurückzugehen. Niemand wartete auf sie, auch keine Pflicht.“ (S. 264) 
Wie Übersetzer Alf Mayer in seinem Nachwort zu dem dritten Crissa-Stone-Abenteuer noch einmal erwähnt, ist dem amerikanischen Schriftsteller Wallace Stroby die Idee zu Crissa Stone gekommen, als er Ali MacGraw in der Verfilmung von Jim Thompsons „The Getaway“ sah, die 1972 allerdings neben Steve McQueen eine sehr passive Rolle gespielt hatte.
Mit Crissa Stone hat er nicht nur eine aktivere, sondern auch eine ebenso taffe wie gutherzige Protagonistin geschaffen, die sich durch ihren gut funktionierenden moralischen Kompass immer wieder in Bedrängnis bringt. Stroby erweist sich auch in „Fast ein guter Plan“ als äußerst ökonomischer Erzähler, der Crissa gleich in ihrem neuen Abenteuer präsentiert, mitten in ihrem neuen Team bei der Überwachung der Rostlaube, in der die Drogenhändler ihr Geld zwischenparken. Statt die übrigen Figuren eingehend zu charakterisieren, setzt Stroby auch im dritten Crissa-Stone-Band auf effektiv gestraffte Handlungsstränge und lebendige Dialoge, die den Plot wie eine Filmhandlung vor den Augen des Lesers ablaufen lassen.
Einzig Crissas Widersacher Burke erfährt eine detailliertere Beschreibung, wobei auch hier seine gnadenlose Effektivität für sich selbst spricht. Natürlich läuft alles auf einen Showdown zwischen Crissa und Burke hinaus, natürlich behält Crissa am Ende die Überhand, aber bei aller Vorhersehbarkeit bietet der Plot einfach coole Action, unterhaltsame Dialoge und genügend Verweise auf Crissas eigene verkorkste Geschichte, dass der Leser gar nicht abwarten kann, wie es mit ihr und ihrem weiterhin im Gefängnis ausharrenden Geliebten weitergeht. 
Leseprobe Wallace Stroby - "Fast ein guter Plan"

Jason Starr – „Die letzte Wette“

Donnerstag, 1. Februar 2018

(Diogenes, 293 S., Tb.)
Eigentlich träumt Bauarbeiter Joey DePino seit Jahren davon, sich mit seiner Frau Maureen ein kleines Häuschen in einer besseren Gegend leisten zu können, doch bislang war dem wettsüchtigen in dieser Hinsicht kein Glück beschieden. Das Schicksal scheint sich auf der Pferderennbahn Meadowlands zu wenden, als Joey bei einer 65:1-Wette ein Gewinn von 17.600 $ winkt – bis sein Gewinnerpferd nach dem Zieleinlauf disqualifiziert wird.
Statt des saftigen Gewinns, mit dem er den Großteil seiner Wettschulden bezahlen und eine Anzahlung auf ein nettes Häuschen hätte leisten können, kehrt Joey noch deprimierter als ohnehin schon zu seiner Frau zurück, die sich in der schmal geschnittenen Zwei-Zimmer-Wohnung zunehmend beengt fühlt und außerdem noch Kinder haben möchte.
Wie sehr beneidet sie doch ihre alte Schulfreundin Leslie, die mit ihrem bei einer Werbeagentur gutverdienenden Mann David Sussman und der zehnjährige Tochter Jessica das große Los gezogen hat. Was Leslie und Maureen allerdings nicht wissen, ist, dass David im Büro eine Affäre nach der nächsten hat und seine aktuelle Geliebte Amy keine Lust hat, einfach so abserviert zu werden.
Als Joey von der Affäre erfährt, reift in ihm ein teuflischer Plan, nachdem er auch noch seinen Job verloren hat …
„Joey hockte den ganzen Vormittag in Unterwäsche vorm Fernseher. Er war nicht in Stimmung, sich einen Job zu suchen, und wusste auch nicht, wo er hingehen sollte. Außerdem war Freitag, und die Stellenanzeigen erschienen frühestens in den Sonntagszeitungen. Wahrscheinlich war er am Tiefpunkt seines Lebens angelangt, aber ihn deprimierte vor allem, dass er nicht mehr wetten konnte.“ (S. 89f.)
In seinem zweiten Roman nach seinem erfolgreichen Debüt „Top Job“ (1997) beschreibt Jason Starr die sehr unausgewogene Figurenkonstellation eines halbwegs befreundeten Pärchens, wobei die Beziehung des Quartetts schon allein dadurch im Ungleichgewicht ist, weil Joey und David beruflich in ganz anderen Welten unterwegs sind und sich gesellschaftlich in unterschiedlichen Kreisen bewegen. So herrscht auf der Seite von Joey und Maureen vor allem Neid auf die gut situierten Sussmans vor, während Leslie ihre Stärke daraus bezieht, dass es ihrer Freundin viel schlechter geht, sich selbst aber für zu fett hält und sich ständig erbrechen muss.
Ihr Mann leidet unter der fortschreitenden Glatzenbildung und einer zu anhänglichen Geliebten, die zunehmend zu einem Problem für die eigene Familie wird. Auf der anderen Seite ist Joey am absoluten Tiefpunkt angelangt, steckt er doch bei seinen Buchmachern und dem Kredithai tief in den Miesen, der natürlich auch vor Gewalt nicht zurückschreckt, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen.
Die Geschichte wird vor allem aus der Perspektive der beiden männlichen Protagonisten erzählt, die durch ihre ganz unterschiedlich ausgeprägten Lebenskrisen auch an Profil gewinnen, während die Frauenfiguren seltsam konturenlos bleiben und die Motivation von Davids Geliebten Amy schwer nachvollziehbar bleibt. Wie sich David und Joey ihrer massiven Probleme annehmen, erzählt Starr auf sehr lebendige, kurzweilige Weise, auch wenn seine Figuren und ihre Probleme teilweise arg konstruiert wirken.