Lemony Snicket – „Gift zum Frühstück“

Freitag, 29. Dezember 2023

(Nagel und Kimche, 160 S., HC) 
Der Name Lemony Snicket klingt viel zu skurril, um echt zu sein. Tatsächlich handelt es sich dabei um das Pseudonym des US-amerikanischen Schriftstellers Daniel Handler, der unter seinem Namen, beginnend mit dem 1998 veröffentlichten Debütroman „The Basic Eight“, bislang sieben Romane veröffentlicht hat, während seine Jugendbücher unter dem ungewöhnlichen Pseudonym erscheinen. 1999 startete er die 13-teilige Serie „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“, deren erste drei Teile 2004 unter dem Titel „Lemony Snicket – Rätselhafte Ereignisse“ mit Jim Carrey in der Hauptrolle verfilmt und dann ab 2017 als Netflix-Serie mit drei Staffeln umgesetzt wurde. Nun erscheint mit „Gift zum Frühstück“ ein davon unabhängiger Kurzroman, der sowohl für lesebegeisterte Jugendliche als auch jung gebliebene Erwachsene geeignet scheint. 
Lemony Snicket beteuert, dass die von ihm erzählte Geschichte wahr sei. Sie beginnt mit der fassungslos machenden Notiz, die er unter seiner Tür vorfindet: „Sie hatten Gift zum Frühstück.“ Nachdem der erste Schock verdaut ist, macht sich Lemony Snicket daran, das Rätsel um seinen bevorstehenden Tod zu lösen. Da sein Frühstück wie gewöhnlich aus Tee mit Honig, einer Scheibe Toast mit Käse, einer aufgeschnittenen Birne und einem perfekt zubereiteten Ei bestand, macht sich Lemony Snicket auf den Weg zu den Orten, an denen er die Zutaten für die Mahlzeit erstanden hat, doch bringt ihn das kaum weiter. Einen verdächtig erscheinenden Mann verliert der Detektiv wider Willen schnell aus den Augen. Dafür erweist sich der Besuch in der Bibliothek in vielerlei Hinsicht als erkenntnisreich. 
Sie hatten Gift zum Frühstück. Den ganzen Tag war ich diesem Satz nachgegangen, weil ich, wie ich der Bibliothekarin erklärte, lieber nicht sterben wollte. Aber das zu sagen war lächerlich. Ich wusste, dass ich sterben würde. Erst am Morgen hatte ich darüber nachgedacht, dass wir alle sterben werden. Das Ende unseres Lebens ist wie ein offener Kanalschacht, in dem man eines Tages beim Herumlaufen hineinfällt, dieser eine entsetzliche Schritt, mit dem man von der Bildfläche verschwindet, und dann kommt das Dunkel und dann das Nichts.“ (S. 145) 
Bereits mit der Eröffnung seines neuen Romans „Gift zum Frühstück“ entführt Lemony Snicket seine Leserschaft in eine Welt, die der aus „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“ sehr ähnlich ist, vor allem in sprachlicher Hinsicht. Die Notiz – „Sie hatten Gift zum Frühstück.“ - die die folgenden Ereignisse in Gang setzt, würde im Normalfall der Auftakt für einen Kriminalroman bilden, doch davon ist „Gift zum Frühstück“ weit entfernt. 
Tatsächlich verläuft die Suche nach dem Urheber der Nachricht schnell im Sand, regt den wachen Verstand des Ich-Erzählers aber immer wieder zu Vergleichen, Fabeln, Paradoxons, Geschichten und Gedichten an, die er auf verschlungenen Wegen mit seinem eigenen Schicksal assoziiert. Dabei gerät Lemony Snicket immer wieder ins Philosophieren, natürlich in erster Linie über den Tod und das Sterben, über die Rolle eines Übersetzers bei der Kommunikation zwischen dem Autor und des Lesers, über das Leben und die Literatur. 
Dabei wirkt der schmale Band eher wie eine wilde Ansammlung unterschiedlichster Gedanken, in die sich immer wieder Beschreibungen gerade verwendeter Begriffe einschleichen - und eben der typische Lemony-Snicket-Humor. Wer sich darauf einlassen mag, wird mit einer von Margaux Kent hübsch illustrierten Geschichte belohnt, die einen ganz eigenen Weg geht und sich erfolgreich gegen bewährte Genre-Strukturen behauptet. 

 

Walter Tevis – „Die Partie seines Lebens“

Mittwoch, 27. Dezember 2023

(Diogenes, 256 S., HC) 
Manchmal braucht es schon eine Netflix-Serie, dass ein hierzulande kaum beachteter Autor endlich die wohlverdiente Anerkennung erfährt. So geschehen bei dem leider schon 1984 verstorbenen US-amerikanischen Schriftsteller Walter Tevis. Der 1928 geborene Zweiter-Weltkriegs-Veteran und ehemaliger Universitätsdozent für Englische Literatur schaffte bereits mit seinem 1959 veröffentlichten Debütroman „The Hustler“ den Durchbruch, wurde das Werk zwei Jahre später von Robert Rossen mit Paul Newman, Jackie Gleason und Piper Laurie erfolgreich verfilmt. Doch erst mit dem Erfolg der preisgekrönten Netflix-Serie „Das Damengambit“ wurde Tevis‘ Schaffen auch im deutschsprachigen Raum entdeckt. Nachdem Diogenes bereits die Romanvorlagen zu der Erfolgsserie und zu Nicolas Roegs „Der Mann, der vom Himmel fiel“ (1976) mit David Bowie veröffentlicht hatte, erscheint nun mit „Die Partie seines Lebens“ eine Neuübersetzung von „The Hustler“. Die Verfilmung ist wie die erste Übersetzung bislang unter dem Titel „Haie der Großstadt“ bekannt geworden. 
Als die Chicagoer Billardlegende Minnesota Fats geflüstert bekommt, dass ein junges Talent namens „Fast Eddie“ Felson unterwegs wäre, um mit ihm zu spielen, nimmt er die Ankündigung mehr als entspannt zur Kenntnis. Schließlich ist er in seiner Heimatstadt seit zwanzig Jahren unangefochtener Meister in dieser Disziplin und unzählige Möchtegern-Emporkömmlinge in die Schranken verwiesen. Auf dem Weg von Hot Springs nach Chicago machen Eddie und sein Manager Charlie Halt in Watkins, Illinois, wo Eddie einen unbekümmerten Spieler und einen Barkeeper um einige Hunderter erleichtert. Es ist nicht mehr als ein leichtes Aufwärmen für Eddies großen Auftritt in Bennington’s Billard Hall am nächsten Morgen in Chicago, wo sich Minnesota Fats nicht lange bitten lässt, mit dem Talent der Stunde zu spielen.
Nachdem der routinierte Platzhirsch erwartungsgemäß die ersten Runden für sich entscheiden konnte, zeigt Eddie endlich, was in ihm steckt, und nimmt Minnesota Fats zunächst einen Tausender nach dem anderen ab, doch dann wendet sich das Blatt und Eddie verlässt das Bennington’s nach vierzig Stunden ebenso enttäuscht wie entkräftet. Er gibt Charlie den Laufpass und lernt in einer Bahnhofskneipe die alleinlebende Sarah kennen, die Eddie zunächst etwas Halt gibt. Doch dann packt Eddie wieder das Spielfieber. In Bert findet er einen neuen Manager, der Eddie vor allem etwas über Charakterbildung beibringt. 
„… nach diesem spannenden, knappen Spiel begann er, die leise Stimme der Vernunft zu hören, die ihm sagte, du kannst dich jetzt zurücklehnen, es ist nicht mehr so wichtig, doch er brachte diese Stimme zum Schweigen. Und indem er seinen Gegner damit immer stärker unter Druck setzte, sich immer mehr konzentrierte, wurde ihm allmählich klar, dass das, was Bert über den Charakter gesagt hatte, nur die halbe Wahrheit war. Es gab noch etwas, das Bert nur teilweise begriffen und ihm vermittelt hatte, und das war das feste, unveränderliche Wissen um den Zweck des Spiels – nämlich zu gewinnen.“ (S. 219) 
Mit der deutschen Übersetzung des Originaltitels („The Hustler“) als „Der Schwindler“ oder „Der Betrüger“ ist der Kern von Walter Tevis‘ Debütroman bereits definiert, denn der Protagonist, das junge Billard-Talent Eddie Felson, verdient seinen Lebensunterhalt damit, seinen Gegnern im Billard-Salon zunächst vorzugaukeln, nur ein mittelmäßiger Spieler zu sein, sie ein paar Partien gewinnen zu lassen, bevor er sie am Ende mit leeren Taschen dastehen lässt und weiterzieht. 
Tevis erweist sich als Meister darin, die Atmosphäre in verrauchten, schweiß- und alkoholgeschwängerten Billard-Hallen so zu beschreiben, als sei man mittendrin im Geschehen und würde die überlegten Stöße mit den Queues, das Klacken und Einlochen der Kugeln beobachten und hören. Aber „Die Partie seines Lebens“ ist weit mehr als nur ein Billard-Roman. Mit Eddie Felson hat der Autor eine Figur geschaffen, die zwar talentiert, aber nicht über alle Maße ehrgeizig zu sein scheint, weil sie im entscheidenden Moment versagt. Er sei der geborene Verlierer, muss sich Fast Eddie in einer langen Ansprache von seinem Manager sagen lassen, und diese Konfrontation mit der eigenen Charakterschwäche hallt lange in Eddie nach. Er lässt sich auf eine Beziehung mit einer Frau ein, die sich für eine Alkoholikerin hält und eine leichte Beute für den charmanten Eddie zu sein scheint. 
Aus dieser Konstellation heraus beginnt Eddie an sich zu arbeiten. Wer den eindrucksvollen Film mit Paul Newman in der Hauptrolle einmal gesehen hat, wird bei einzelnen Szenen im Buch auch immer die entsprechenden Bilder auf der Leinwand im Kopf haben, und wie im Film überwiegt auch im Roman eher die Entwicklung, die Eddie durchmacht, als seine Spiele gerade gegen gute bis sehr gute Spieler, die mit Pool ihren Lebensunterhalt verdienen. Die schlichte, aber bildhafte Sprache macht „Die Partie seines Lebens“ zu einem leicht fließenden Lesevergnügen, und man kann nur hoffen, dass Diogenes auch die kurz vor Tevis‘ Tod erschienene Fortsetzung, „The Colour of Money“ (wiederum erfolgreich verfilmt, diesmal mit Paul Newman und Tom Cruise in den Hauptrollen), ebenfalls in einer Neuübersetzung von Diogenes wiederveröffentlicht wird.  

Bernhard Schlink – „Das späte Leben“

Montag, 25. Dezember 2023

(Diogenes, 240 S., HC) 
Mit seiner Krimi-Trilogie um den alternden Privatdetektiv Gerhard Selb, vor allem aber mit dem international erfolgreich verfilmten Bestseller „Der Vorleser“ ist Bernhard Schlink zu einem der bedeutendsten deutschen Schriftsteller avanciert, dessen letzte Werke wie „Die Frau auf der Treppe“ (2014), „Olga“ (2018) und „Abschiedsfarben“ (2020) jeweils wochenlang Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste belegten. Nun legt der in Berlin und New York lebende Autor mit „Das späte Leben“ einen neuen Roman mit einem unbequemen Thema vor. 
Nach seiner jährlichen Routineuntersuchung erfährt der 76-jährige emeritierte Professor Martin Brehm, dass er Bauchspeichelkrebs und nur noch wenige Monate, längstens ein halbes Jahr zu leben hat. Eine Behandlung durch eine Chemo oder experimentelle Therapien kommen für Martin nicht in Frage. Stattdessen will er die ihm verbleibende Zeit möglichst intensiv mit seiner noch sehr jungen Frau Ulla, die als Malerin und in einer Galerie arbeitet, und mit ihrem gemeinsamen, sechsjährigen Sohn David verbringen. 
Zunächst geht es dem Krebskranken noch so gut, dass er die Diagnose des Arztes anzweifelt und eine Zweitmeinung durch einen früheren Universitätskollegen einholt, doch dann kehrt die Müdigkeit zurück und auch das Bewusstsein über die Notwendigkeit, seine Angelegenheiten zu regeln. Dabei beschäftigt ihn vor allem die Frage, was er seiner geliebten Frau und vor allem seinem Sohn noch mit auf den Weg geben kann. Die Idee, eine Videobotschaft für David aufzunehmen, wie es Ulla ihm nahegelegt hat, entspricht nicht Martins Vorstellungen, aber schreibt ihm einen Brief über die wichtigen Themen, die ihn bewegen und die seinem Sohn vielleicht als moralischen Kompass dienen könnten. 
Er schreibt über Liebe und Gerechtigkeit, über den Anteil der Arbeit in einem Leben und natürlich über den Tod, aber auch über die Erbstücke, wie den Schreibtisch und die Taschenuhr, die von Generation zu Generation weitervererbt werden. 
„Ja, man konnte im Hier und Jetzt leben, nicht nur im Augenblick, der so voll und satt war, dass es nichts sonst gab, sondern tagein, tagaus. Er kannte Menschen, die so lebten. So oft er sie beneidete, öfter noch bedauerte er sie. Aber David würde seine Vergangenheit haben und mit ihr leben, ob Martin ein Teil von ihr wäre oder nicht. Martin begriff, dass es nicht um den Reichtum des Lebens mit der Vergangenheit ging, sondern um etwas ganz anderes. Die Jahre mit ihm und die Erinnerung an die Jahre mit ihm sollten David ein Grundstock an Gewissheit werden, dass er geliebt war.“ (S. 93) 
Bernhard Schlink ist mit „Das späte Leben“ ein großer Wurf gelungen. Einfühlsam beschreibt er aus der Perspektive eines 76-jährigen Mannes, der auf ein erfülltes Leben mit einer sehenswerten Karriere, einer jungen Frau und einem liebenswerten Sohn zurückblicken kann, wie er seinen Abschied vom Leben vorbereitet. Dabei spielen zwar auch praktische Überlegungen wie die Unterbringung in einem Hospiz eine Rolle, aber den Kern der letztlich schlichten, schnörkellos geschriebenen Erzählung bilden die Gedanken und Gefühle eines Sterbenden. 
Wie Martin mit einem langen Brief, den sein Sohn erhalten soll, wenn er sein 16. Lebensjahr vollendet, seine eigenen Überlegungen zu den Bausteinen des Lebens und moralischen Einstellungen niederschreibt, wird sehr deutlich, dass es für Martins Hinterbliebenen ein Leben nach seinem Tod gibt, dass sie ohne ihn zurechtkommen werden, so oder so. Obwohl der nahende Tod, das schmerzvolle Sterben im Mittelpunkt von „Das späte Leben“ stehen, ist die Stimmung des kurzen Romans jedoch recht unbeschwert, denn Schlink lässt seinen Protagonisten nicht in Selbstmitleid versinken. 
Stattdessen sorgt gerade der große Altersunterschied zwischen Martin, seiner Frau und seinem Sohn dafür, dass es eher darum geht, wie man sein eigenes Leben möglichst sinnvoll und erfüllt gestaltet. Dass Martin in den letzten Wochen seines Lebens auch zur Übergriffigkeit neigt, macht ihn nur menschlicher und zeigt, dass man sich nicht sicher sein kann, ob Gutgemeintes auch Gutes bewirkt.  
„Das späte Leben“ ist berührender, wichtiger Roman über die Bedeutung des Lebens, über Freiheit und Grenzen, über Liebe und Verantwortung, aber auch über die Schwierigkeit, loslassen zu können. 

Henning Mankell – „Der Verrückte“

Sonntag, 24. Dezember 2023

(Zsolnay, 506 S., HC) 
Als 1993 mit „Mörder ohne Gesicht“ und „Hunde von Riga“ hierzulande die ersten beiden Krimis um den schwedischen Kriminalkommissar Kurt Wallander von Henning Mankell veröffentlicht wurden, brach schnell ein regelrechtes Skandinavien-Krimi-Fieber aus, in dessen Sog Autoren die Karrieren von Autoren wie Håkan Nesser, Stieg Larsson, Jussi Adler-Olsen, Arne Dahl und Jo Nesbø beflügelt wurden. Neben den vielfach verfilmten Romanen um den sympathischen Kurt Wallander machte Mankell auch mit seinen Afrika-Romanen („Das Auge des Leoparden“, „Der Chronist der Winde“) Furore, doch nach Mankells Tod im Jahr 2015 ebbten die Veröffentlichungen des schwedischen Bestseller-Autors naturgemäß ab. Umso erstaunlicher wirken Mankells Frühwerke aus den 1970er Jahren, die erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurden. Nach den Kurzromanen „Der Sprengmeister“ und „Der Sandmaler“ widmet sich Mankell in dem 1977 im Original veröffentlichten Roman „Der Verrückte“ einem äußerst dunklen Kapitel der schwedischen Geschichte. 
Der Mittdreißiger Bertil Kras hat kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs genug von Stockholm, wo er bei einem Botendienst beschäftigt war, und landet im September 1947 in der kleinen Ortschaft in Norrland, wo er sich in der Pension des Witwers Helmer Gustafson für „eine Zeit lang“ ein Zimmer nimmt und als überzeugter Kommunist bald von Gleichgesinnten erfährt, dass es im Wald ein Lager, eine „Arbeitskompanie“ gegeben habe, in der in den letzten Kriegsjahren Kommunisten und andere politische Oppositionelle interniert waren. Nachdem das Lager abgefackelt worden war, haben sich zwar Fichten auf der Brandstelle ausgebreitet, doch in den Felsspalten sind immer noch Müllreste von kaputten Spaten, Ölfässern, Stiefeln und Konservendosen zu sehen. 
Zu den im Oktober 1940 von Polizeikommissar Lönngren und seinen Kollegen festgenommenen und internierten Kommunisten zählten Svante Eriksson, der nach seiner Freilassung mit seinen Genossen auf Wiedergutmachung drängt. Kras, der schnell Arbeit in dem örtlichen Sägewerk findet und sich in die alleinerziehende Kellnerin Margot verliebt, unterstützt das Anliegen seiner Genossen, in einem offenen Brief an das Lokalblatt auf das Vorgehen der Nazi-Sympathisanten hinzuweisen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Brief sorgt schließlich für Unruhe in dem Dorf. Als das Sägewerk abbrennt und Direktor Rader tot aufgefunden wird, gerät Kras unter Verdacht. Auch wenn es dafür keine Beweise gibt, geraten Kras und Margot zunehmend unter Druck… 
„Sie erlauben es ihrer Beziehung nicht zu wachsen, sich nach innen zu öffnen. Sie essen zusammen, kümmern sich zusammen um Rubinchen, schlafen zusammen, unternehmen zusammen Sonntagsausflüge. Nur ganz selten sprechen sie über Gedanken und Gefühle. Ich weiß ja nicht einmal, wovon sie träumt, denkt er. Mit einem Mal merkt er, dass ihm Margot fremd ist, dass er sich kaum an ihr Gesicht erinnern kann, obwohl er erst vor einer Viertelstunde bei ihr war. Und er fragt sich, ob das für sie genauso ist.“ (S. 263) 
Nicht mal dreißig Jahre war Henning Mankell alt, als er seinen ersten großen Spannungsroman veröffentlichte. Mit „Der Verrückte“ erweist sich der spätere Bestseller-Autor als analytischer Beobachter der schwedischen Nachkriegs-Gesellschaft, dessen öffentliches Leben von etlichen Nazi-Sympathisanten bestimmt worden ist. Auch hier versuchen die einflussreichen Geschäftsleute, die mit den Nazis kooperiert haben, den Schaden, den der veröffentlichte Brief der Kommunisten in der Gemeinde verursacht hat, auf ein Minimum zu reduzieren. 
Wer am Ende das Sägewerk in Brand gesteckt und den Direktor umgebracht hat, wird nicht aufgelöst, ist für den Roman aber auch nicht wichtig. Viel wichtiger sind die minutiösen Milieubeschreibungen von einfachen Menschen, die ihre Arbeit verrichten und ein wenig Glück in der Familie finden wollen. Der Brand und seine Folgen dienen letztlich dazu, die verdächtigen, unerwünschten Personen auszugrenzen, bis sie aufgeben und abziehen oder – wie hier – Amok laufen. 
„Der Verrückte“ ist so mehr ein Gesellschafts- als ein Spannungsroman, der Licht in ein dunkles, hierzulande kaum bekanntes Kapitel der schwedischen Nachkriegsgeschichte beleuchtet und so Bezüge zu den bedenklichen Entwicklungen zunehmend autoritär regierter Länder in Europa in der heutigen Zeit herstellt.  

Quentin Tarantino – „Es war einmal in Hollywood“

Sonntag, 17. Dezember 2023

(Kiepenheuer & Witsch, 416 S., HC) 
Mit Filmen wie „Pulp Fiction“, „Kill Bill“, „Django Unchained“ und „The Hateful 8“ avancierte Quentin Tarantino zu einem der beliebtesten und versiertesten Filmemacher der heutigen Zeit. Nun ist der passionierte Filmliebhaber auch unter die Schriftsteller gegangen. Im Jahr 2021 legte der US-Amerikaner mit der Vorliebe für Italo-Western, Blaxploitation- und Martial-Arts-Filme sein Romandebüt vor, eine Adaption seines letzten Spielfilms „Once Upon a Time in Hollywood“
Hollywood im Jahr 1969. Als der 42-jährige Schauspieler Rick Dalton den Agenten Marvin Schwartz‘ aufsucht, geht es mit ihm nicht nur die Höhepunkte seiner Karriere durch, sondern Schwartz‘ legt am Ende dieser Rekapitulation auch die Finger in die Wunde, als er darauf anspielt, dass Dalton in den Augen des Publikums als Prügelknabe für jeden Platzhirschen herhalten muss, der neu im Geschäft ist. Außerdem muss der ehemalige Star der Westernserie „Bounty Law“ dem Agenten auch die oft kolportierte Geschichte wiedergeben, wie er „um ein Haar“ Steve McQueens Rolle in „Gesprengte Ketten“ gespielt hätte. Nachdem Dalton die „Deine Karriere ist am Ende“-Grabrede des Agenten über sich ergehen lassen musste, erhält er das Angebot, die Hauptrolle in einem italienischen Film zu übernehmen. 
Die Erkenntnis, dass er mit 42 Jahren bereits am Ende seiner Karriere angelangt sein könnte, die nur mit Engagements im Ausland zu retten sei, erschüttert Dalton so sehr, dass er noch im Büro des erfahrenen Agenten zu weinen beginnt und später seinen Kummer in Whiskey Sours ertränkt. Der 46-jährige Kriegsveteran und Daltons langjähriges Stunt-Double Cliff Booth lebt mit seinem Pitbull Brandy in einem Trailer, fährt Dalton durch die Stadt und assistiert ihm bei allen möglichen Arbeiten. Da er seine Frau umgebracht haben soll und Bruce Lee am Rande von Dreharbeiten bei einer nicht ganz freundschaftlichen Kräftemesse am Set von „The Green Hornet“ schlecht aussehen ließ, findet Booth sich damit ab, keine anderen Jobs in der Filmbranche zu finden. 
Als der gefeierte Regisseur Roman Polański und seine Frau, die in Hollywood durchstartende Schauspielerin Sharon Tate, in Daltons Nachbarhaus einziehen, sieht Dalton die einmalige Chance, durch die Bekanntschaft mit dem berühmten Paar seine eigene Karriere wieder in Schwung bringen zu können. Währenddessen sieht er, wie ein unbekannter Mann, Charles Manson, bei den Nachbarn klingelt und nach dem Musikproduzenten Terry Melcher fragt, von dem er sich erhofft, dass er durch ihn einen Plattenvertrag bekommt. Und während Cliff so durch die Gegend fährt, nimmt er das verdreckt aussehende Hippie-Mädchen Pussycat mit und fährt sie zur Spahn-Ranch, die Cliff noch als Westernkulisse für „Bounty Law“ kennt und nun von Charles Manson und seinen Anhängern bewohnt wird… 
„Nachdem er Pussycats wilde Geschichte gehört hat, kann Cliff nicht anders, als einen gewissen Respekt vor diesem Charlie zu empfinden. Ein paar durchgeknallte Hippie-Girls zu manipulieren, das ist eine Sache. Das könnte Cliff wahrscheinlich auch. Aber über wütende Väter mit Schrotgewehren hat Cliff nie viel Macht besessen.“ (S. 317) 
Wie umfassend Tarantinos Wissen über die Filmgeschichte ist, hat er nicht nur in seinen gefeierten Filmen bewiesen, die voller Zitate und Anspielungen sind, sondern auch in Interviews und zuletzt in seinem ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen Buch „Cinema Speculation“. Sein erster Roman stellt weit mehr als eine Nacherzählung seines zweifach Oscar-prämierten Meisterwerks „Once Upon a Time in Hollywood“ dar. Stattdessen nutzt Tarantino die Möglichkeit, die Geschichte, die sich rund um den Übergang des klassischen Hollywood-Kinos zur New-Hollywood-Bewegung und die Morde der Manson-Familie dreht, aus unterschiedlichen Perspektiven zu erzählen und neue Schwerpunkte zu setzen. 
Als besonderen Kniff implementiert der Autor rund um Rick Daltons Biografie eine (fiktive) Filmografie, die mit bekannten Hollywood-Darstellern und -Regisseuren gespickt ist und vor allem dazu dient, Hintergründe von Filmproduktionen zu erläutern. Das kommt vor allem im ersten Kapitel zum Tragen, als der Agent Marvin Schwartz und der auf dem absteigenden Ast befindlichen Schauspieler Rick Dalton dessen Werksbiografie durchgeht und Beispiele aufführt, wie Schauspieler durch geschickt geflochtene Beziehungen oder Verträgen zu ihren Rollen gekommen sind. 
Indem Tarantino später auch die Filmhandlung von Daltons Gastrolle als Bösewicht in der Westernserie „Lancer“ ausführlich wiedergibt, führt Tarantino eine Meta-Ebene in seine Erzählung ein, die ohnehin immer wieder zwischen Dalton, Booth, Sharon Tate und den Mitgliedern der Manson-Family wechselt. Dabei fließt weit weniger Blut, ist viel weniger Action am Start als in dem dazugehörigen Film mit Leonardo DiCaprio und Brad Pitt in den Hauptrollen. Dafür fesselt Tarantinos Romandebüt mit saftigen erotischen Episoden, einer flüssigen, sehr bildhaften Sprache und faszinierenden Hintergründen zu Hollywoods Filmproduktionen in der Hippie-Zeit. 
Das mag zwar keine große Literatur sein, macht aber einfach Spaß und ist als Pflichtlektüre für Filmfans nur zu empfehlen. 

John Banville – „Singularitäten“

Sonntag, 10. Dezember 2023

(Kiepenhauer & Witsch, 432 S., HC) 
Bereits mit seinem dritten, 1976 veröffentlichten Roman „Doctor Copernicus“ setzte sich der mittlerweile 78-jährige irische Schriftsteller und Literaturkritiker John Banville mit dem Leben und der Arbeit von Wissenschaftlern auseinander, was er in folgenden Werken wie „Kepler“, „Newtons Brief“, „Das Buch der Beweise“ oder „Athena“ fortsetzte. Mit seinem neuen Roman erweist sich der Ire einmal mehr als eigensinnige Stimme, der das Erbe seiner berühmten Landsmänner Samuel Beckett und James Joyce selbstbewusst auf seinen Schultern trägt und mit seiner verschachtelten Erzählung geschickt zwischen Schein und Sein, Traum und Wirklichkeit laviert. 
An einem windigen Aprilmorgen wird der wegen Mordes lebenslänglich verurteilte Freddie Montgomery aus dem Gefängnis entlassen und mietet sich einen Wagen, um an die Stätte seines Verbrechens zurückzukehren, doch hat sich einiges verändert. 
Freddie Montgomery behält zwar seine Initialen, benennt sich aber in Felix Mordaunt um, und was ihm einst als Coolgrange House bekannt war, heißt jetzt Arden House und wird von der Familie des bereits verstorbenen Wissenschaftlers Adam Godley bewohnt, der nicht nur mit Montgomerys Frau schlief, sondern durch seine von ihm entwickelte sogenannte Brahma-Theorie zu einer Größe unter den Metamathematikern avancierte. Als er sich der fast vierzigjährigen ehemaligen Schauspielerin Helen Godley vorstellt, verrät er ihr, dass er vor langer Zeit in diesem Haus geboren worden sei, doch bringt sie seinen Namen nicht mit den Blounts in Verbindung, die Arden House gebaut haben. 
Irgendwie gelingt Mordaunt es, hier sein Lager aufzuschlagen, im Haus von Adam Godley Jr., seiner Frau Helen und der alternden Haushälterin Ivy Blount. Als Godley Jr. den etwas abgehalfterten Wissenschaftler William Jaybey, Autor von „Die Macht der Schwerkraft: Isaac Newton und seine Zeit“ und Professor am Arcady College, engagiert, um die Biografie seines berühmten Vaters zu schreiben, geraten die Dinge in Schieflage. 
Jaybey glaubt nicht nur, sich in Helen verliebt zu haben, sondern entwickelt bei der Durchsicht von Godleys Briefen und Unterlagen ein Bild des Mathematikers, das so gar nicht mit dem übereinstimmt, das Godley von sich selbst der Welt präsentierte. 
„Wenn er nicht an seinem Schreibtisch saß, sondern irgendwo in der Welt unterwegs war, bekannten die Leute, sie hätten das unheimliche Gefühl, dass er da sei und gleichzeitig nicht da, hier anwesend und gleichzeitig irgendwo anders. Er genoss diese Legendenbildung sehr, förderte sie aktiv und trug häufig heimlich selbst dazu bei. In späteren Jahren machte es ihm Freude, sich als Magus zu sehen, als einen, der eingeweiht ist in Geheimnisse, als Hohepriester des Arkanums, als Zelebrant uralter Rituale in einer Bruderschaft des Einen …“ 
John Banville erweist sich bereits in den ersten Kapiteln als geübter Fabulierkünstler. Wenn er beschreibt, wie Montgomery (den Banville-Kenner bereits aus den Romanen „Das Buch der Beweise“, „Athena“ und „Geister“ kennen) das Gefängnis hinter sich lässt, um mit neuer Identität an den Ort zurückzukehren, an dem er das Dienstmädchen ermordete, wird schnell deutlich, mit welch großem Spaß er sein neues Leben zu formen versteht. 
Wer mit Banvilles sprachlicher Virtuosität noch nicht so vertraut ist, wird einige Kapitel benötigen, um von diesem komplexen Strom der Wörter mitgerissen zu werden. Doch dann entfesselt sich eine faszinierende Geschichte, in der die Persönlichkeiten, die die Handlung vorantreiben oder von ihr vorangetrieben werden, sich allesamt einer Überprüfung ihrer Existenz unterziehen müssen. Während Montgomery/Mordaunt genüsslich seine eigene Biografie erfindet, Godleys Schwiegertochter ihrer Schauspielkarriere hinterhertrauert und ihren Mann ausgerechnet mit dem Mörder betrügt, scheint nur der allwissende, gottgleiche Erzähler mehr zu wissen, was er mit großer Genugtuung seinem Publikum kundtut. Auf der anderen Seite ist Godleys Biograf sichtlich verstört von den ihn umringenden Personen und Ereignissen ebenso wie von dem Bild, das sich von seinem Studienobjekt abzeichnet. 
 Banville präsentiert sich als versierter Meister der Sprache und des Spiels mit Identitäten, die sich aus verschiedensten Quellen speisen, nicht zuletzt aus dem Erfindungsreichtum und den Sehnsüchten der Protagonisten. Je mehr man sich diesem Spiel mit realen wie fiktionalen Persönlichkeiten und ihren vielschichtigen Geschichten hingibt, desto prächtiger gestaltet sich das Lesevergnügen. 

Robert R. McCammon – „Tauchstation“

Montag, 4. Dezember 2023

(Knaur, 400 S., Tb.) 
Als Robert R. McCammon Ende der 1970er Jahre seine Schriftsteller-Karriere begann, arbeitete er sich zunächst an den Archetypen des Horror-Sujets ab. Nach seinem Debüt mit „Baal“, der auf der Welle von Blockbustern wie „Der Exorzist“ und „Das Omen“ schwamm, beschwor „Höllenritt“ alte Dämonen herauf, und so durfte man gespannt sein, was dem amerikanischen Genre-Schreiber für sein nächstes Werk einfallen würde. „Tauchstation“, 1980 unter dem passenderen Titel „The Night Boat“ im Original veröffentlicht, vermischt das von den Nazis erzeugte Grauen mit Voodoo-Flüchen, kommt aber über das Mittelmaß nie hinaus. 
Nachdem er vor ein paar Jahren seine Frau und seine Tochter bei einem tragischen Unglück verlor, zog sich der ehemalige Finanzier David Moore auf die kleine Karibik-Insel Coquino zurück, wo er nicht nur das Hotel „Indigo Inn“ führt – in das sich selten genug Touristen verirren -, sondern auch ausführliche Tauchfahrten unternimmt, um versunkene Schiffswracks aufzuspüren. Bei einem dieser Tauchgänge stößt Moore unter einem Berg von Sand auf ein sehr gut erhaltenes U-Boot, das sich nach der Detonation einer ebenfalls freigelegten Wasserbombe an die Oberfläche bewegt und als das nazideutsche U-Boot 198 entpuppt. 
Durch die Strömung bewegt sich das Boot zielstrebig auf den Hafen der Insel zu und sorgt dort für extreme Unruhe. Constable Steve Kip lässt das Boot erst einmal in einem Schuppen von Langstrees Bootswerft einschließen, bis geklärt worden ist, was mit dem Wrack geschehen soll, denn darüber herrscht auf der Insel Uneinigkeit. Während die einen es gar nicht erwarten können, den vermeintlichen „Schatz“ zu erforschen, sind es vor allem die Ureinwohner, die das unheilvolle Wrack schnellstmöglich wieder in den Meerestiefen versinken lassen wollen. 
Doch ein übereifriger Inselbewohner kommt diesen Überlegungen zuvor und verschafft sich Zugang zu dem U-Boot, doch statt des erhofften Goldes findet der Mann den Tod und befreit die mumifizierten Leichen der Besatzung aus ihrem Grab. Nachdem sie vor gut vierzig Jahren auf dem Meeresgrund ihre Lebenssäfte eingebüßt haben, dürsten sie nun nach Rache und versetzen die Bewohner auf Coquino in Angst und Schrecken. Dass mit Schiller der letzte Überlebende der U-198 und mit Dr. Jana Thornton eine für das Britische Museum arbeitende Meeresarchäologin die Insel besuchen, trägt nicht gerade zur Beschwichtigung der um sich greifenden Hysterie bei, während sich die verfluchten U-Boot-Soldaten in einem unerbittlichen Blutrausch an den noch wirklich Lebenden zu laben beginnen … 
„Als er in diese Augenhöhlen starrte, begriff Moore, worin das Erbe des U-Boots bestand. Seine Insassen waren zu einem Leben im Tode verdammt, einem Schwebezustand von seelischer Qual und fleischlicher Verwesung. Irgendeine gottlose Macht hatte sie am Leben erhalten, als lebende Leichname in einem eisernen Sarg … und er selbst hatte sie aus dieser Gruft befreien helfen.“ (S. 277f.) 
Mit „Tauchstation“ verbindet Robert McCammon gleich mehrere Topoi des Horror-Genres, vermischt Nazi-Greuel mit monsterähnlichen Schrecken aus der Tiefe und Voodoo-Flüchen. Da ist erst einmal die paradiesische Idylle einer nicht allzu bekannten Insel in der Karibik, doch der Schein trügt, denn die Karaiben und die meist weißen Fischer trauen sich kaum über den Weg. McCammon gelingt es zwar, die Atmosphäre des Insellebens einzufangen, doch gewinnen seine Figuren dabei kaum Kontur. Es wird zwar kurz erwähnt, welche Traumata sowohl David Moore als auch Steve Kip in ihrer Vergangenheit erlebt haben, doch in die Tiefe geht der Autor bei der Charakterisierung seiner Protagonisten leider nicht, weshalb der Leser kaum Nähe zu den Figuren und ihren Schicksalen aufbaut. Ohnehin scheint das geheimnisvolle Auftauchen des über viele Jahre verschütteten U-Boots nur ein Prolog zu dem blutigen Massaker zu sein, das die zombifizierte, mit einem Voodoo-Fluch belegte U-Boot-Besatzung nach ihrer Befreiung auf der Insel anrichtet. 
Hier läuft McCammon schließlich zur Hochform auf, wenn er das Gemetzel in farbenfroher Detailverliebtheit schildert. Dank der sprachlichen Gewandtheit des Autors lässt sich der vorhersehbare Plot auch schnell konsumieren, aber besonders subtil und tiefgründig ist das nicht. 
„Tauchstation“ ist unterhaltsamer Horror-Trash, eine wenig originelle Fingerübung eines damals noch jungen Autors.


Jeffery Deaver – (Lincoln Rhyme: 15) „Der Eindringling“

Dienstag, 28. November 2023

(Blanvalet, 496 S., HC) 
Zwar hat Jeffery Deaver bereits 1988 seine ersten Romane veröffentlicht, doch erst mit dem ersten, später von Philip Noyce mit Denzel Washington und Angelina Jolie in den Hauptrollen verfilmten ersten Band um den Kriminalist Lincoln Rhyme, „Der Knochenjäger“, gelang ihm der internationale Durchbruch. Zwischenzeitlich hat Deaver auch weitere Thriller-Reihen um die Protagonisten Kathryn Dance und Colter Shaw ins Leben gerufen, doch sein Fokus liegt nach wie vor auf der Lincoln-Rhyme-Reihe, in der nun mit „Der Eindringling“ bereits der 15. Band erscheint. 
Der in New York lebende und arbeitende und nach einem Unfall querschnittsgelähmte Kriminalist Lincoln Rhyme sagt am New York Supreme Court als Sachverständiger in der Mordanklage gegen Viktor Buryak aus, doch lässt seine Aussage seine Tätigkeit als forensischer Berater das NYPD so schlecht aussehen, dass ihm untersagt wird, weiter als Berater für die New Yorker Polizei tätig zu werden. Schließlich ist das NYPD in letzter Zeit immer öfter wegen verpfuschter Ermittlungen oder unfähiger Staatsanwälte in die Kritik geraten, was ein Verschwörungstheoretiker namens Verum in seinen Posts immer wieder betont und auf eine verschwörerische Gemeinschaft der Verborgenen verweist. 
Doch dann wird er mit dem Fall eines ungewöhnlichen Einbruchs konfrontiert. In der Wohnung der 27-jährigen Influencerin Annabelle Talese hat der Täter nicht nur einige Sachen umgeräumt, sondern auch eine Botschaft auf einer Seite aus dem Revolverblatt Daily Herald hinterlassen und sie mit „Der Schlosser“ unterzeichnet. Bei seinen Einbrüchen geht der Schlosser immer skrupelloser vor, so dass den Ermittlern die Zeit davonrinnt, denn womöglich wird der Eindringling auch vor Mord nicht mehr zurückschrecken. Währenddessen sinnt Buryak, der durch den Handel mit Informationen schwerreich geworden ist, auf Rache. Dass Rhyme ihm einen Mord anhängen wollte, will er der skrupellose Geschäftsmann nicht ungesühnt lassen. 
Durch die Mithilfe des Kriegsveteranen und Ex-Cops Lyle P. Spencer, der mittlerweile als Sicherheitschef der Whittaker Media Group, des Verlags des Daily Herald, arbeitet, kommen Rhyme und sein Team, darunter Rhymes beim NYPD arbeitende Frau Amelia Sachs, der Operationsbasis des Schlossers immer näher. Doch der scheint den Ermittlern immer noch so weit voraus zu sein, dass Rhyme sich an einen früheren Widersacher erinnert fühlt… 
„Die Vorgehensweise des Schlossers und seine Versessenheit auf komplexe Mechanismen erinnerten stark ab den Uhrmacher. War der Mann in die Stadt zurückgekehrt, um sich Rhyme vorzuknöpfen? Doch bei Licht betrachtet schien das unwahrscheinlich zu sein. Die Vorliebe von Rhymes persönlichem Gegner waren Uhren und es war kaum vorstellbar, dass jemand sich so spät in seiner Laufbahn plötzlich mit ähnlicher Intensität dem Thema Schlösser widmete. Rhyme fragte sich, ob das auch für den Schlosser galt. Was ging hier in Wahrheit vor sich?“ (S. 69) 
Jeffery Deaver hat bereits in seinen früheren Lincoln-Rhyme-Romanen interessante Verbrecher-Typen auftreten lassen, die alle Fertigkeiten des prominenten Kriminalisten herausforderten, um die hochintelligenten Täter dingfest machen zu können. In dieser Hinsicht reiht sich der Schlosser souverän ein, ohne besonders hervorzustechen. Nicht umsonst wird der Vergleich zum Uhrmacher herangezogen. So interessant die Suche nach dem Täter und seiner Identität auch ist, folgt Deaver eher konventionellen Mustern und bricht diese durch immer neue, am Ende etwas unglaubwürdige Wendungen auf, die ihre Wirkung aber zunehmend verfehlen. Dafür hätte sich der Autor anderen Themen intensiver widmen können, die ebenfalls Thema von „Der Eindringling“ sind, die Korruption innerhalb der Polizei, politische Ränkespiele, die negativen Begleiterscheinungen der Meinungs- und Pressefreiheit in Form gefährlicher Verschwörungstheorien. 
Während der Schlosser immer wieder als Ich-Erzähler auftritt und so ein wenig Kontur gewinnt, bleiben die übrigen Protagonisten übrigens enttäuschend flach. Dafür setzt „Der Eindringling“ einfach zu sehr auf Action und knallharte Wendungen. Nach einer starken ersten Hälfte flacht der Thriller deshalb im zweiten Durchgang signifikant ab, bietet aber alles in allem noch überdurchschnittliche Spannung.

Jordan Harper – „Alles schweigt“

Samstag, 25. November 2023

(Ullstein, 384 S., HC) 
Als Drehbuchautor und Produzent von Serien wie „The Mentalist“, „Gotham“ und „Hightown“ hat Jordan Harper genügend Erfahrungen in Hollywood gesammelt, um als Insider authentisch wirkende Geschichten rund um die Reichen und Schönen, Stars und Sternchen erzählen zu können. Für seinen 2017 erschienenen Roman „She Rides Shotgun“, der ein Jahr später von Ullstein unter dem Titel „Die Rache der Polly McClusky“ veröffentlicht wurde, erhielt Harper den renommierten Edgar Allan Poe Award. Nun legt er mit „Alles schweigt“ sein neues Werk vor. 
Die mit allen Wassern gewaschene PR-Agentin Mae Pruett ist mal wieder in einer heiklen Mission unterwegs. In der hippen Absteige Chateau Marmont muss sie sich eine Geschichte einfallen lassen, wie die Schauspielerin Hannah Heard zu ihrem blauen Auge gekommen ist, ohne dass sie ihre Rolle in der Produktion verliert, deren erster Drehtag ansteht. Ein selbst gedrehtes Video mit Hannahs Hund, der für diese Verletzung verantwortlich gemacht wird, macht aus der Krise einen beliebten Instagram-Feed. Weitaus beunruhigender für Mae ist die geheimnisvolle Einladung ihres Chefs bei Mitnick & Associates, Dan Hennigan, zu einem Drink im Beverly Hills Hotel. 
Viel bekommt sie bei dem Gespräch nicht heraus, nur dass Dan etwas auf eigene Rechnung durchziehen will und dabei auf Maes Hilfe hofft. Offensichtlich ist er auf ein Geheimnis gestoßen, das ihn reich machen könnte. Doch so weit kommt es nicht. Dan wird bei einem fingierten Raubüberfall erschossen, und Mae wird damit beauftragt, sich um seinen wichtigsten Klienten zu kümmern: Der schwerreiche Ward Parker sammelt nicht nur Wahlkampfspenden für den Bürgermeister, den Gouverneur und Kongressabgeordnete, sondern ist auch dafür bekannt, auf ungeschützten Sex unter Drogeneinfluss zu stehen. Dabei ist es auch schon zu Todesfällen gekommen. 
Ob Maes Chef das Wissen um Parkers düsteres Geheimnis zum Verhängnis wurde, weil er es zu Geld machen wollte? Als sie die merkwürdigen Umstände von Hennigans Ermordung untersucht, trifft sie auf ihren Ex-Lover Chris Tamburro, der als ehemaliger Cop als Krisenmanager ebenfalls dafür sorgt, dass die reichen Klienten möglichst unbehelligt ihren Lastern frönen können. Dass der Latino John Montez als Hennigans Mörder identifiziert und wenig später von alarmierten Cops getötet wird, soll Chris im Auftrag des Finanzmoguls Leonardo DePaulo parallel zur Polizei Ermittlungen über Hennigans Tod anstellen und dafür seine Kontakte zu seinen ehemaligen Kollegen ausnutzen. Bei ihren gemeinsamen Ermittlungen stoßen Mae und Chris auf den Produzenten und Autoren Eric Algar, der einst durch seine Teenieshows berühmt geworden ist, mittlerweile aber eher wegen seiner Vorliebe für minderjährige Mädchen, die in seinen Shows unterkommen wollen, bekannt ist – zumindest unter Insidern, doch die Spurensuche entwickelt sich zu einem gefährlichen Unterfangen… 
„Maes Theorie zufolge würde sich niemand für Eric einsetzen, weil er nicht mehr viel wert ist. Er ist das perfekte Erpressungsopfer, die Ermittlungen werden auf Eis gelegt. Und wenn diese Theorie falsch ist? Wenn Eric mehr wert ist, als sie dachten?“ 
Seit den Vorwürfen zu sexuellen Übergriffen gegen Hollywood-Produzent Harvey Weinstein und der dadurch ausgelösten #MeToo-Bewegung ist einer breiten Öffentlichkeit bewusst geworden, worüber zuvor eher gemunkelt wurde. Dass Verfehlungen einflussreicher Hollywood-Produzenten, -Agenten und anderer Schlüsselfiguren meist nicht an die Öffentlichkeit gelangen, ist einer Image-Industrie zu verdanken, die so geschickt mit den Medien umzugehen versteht, dass die üblen Geschichten im Leben der Stars und Sternchen eben nicht an die Öffentlichkeiten gelangen. 
Jordan Harper hat mit seinen beiden Protagonisten, aus dessen Perspektive er meist abwechselnd die Geschichte erzählt, zwei sehr authentisch wirkende Figuren geschaffen, die einem zwar nicht gleich ans Herz wachsen, die aber sympathisch genug sind, um ihre Arbeit und das Ringen um ihre Beziehung mit Spannung zu verfolgen. Der Autor taucht dabei tief in die Strukturen der Unterhaltungs-Industrie ein, macht deutlich, wie Geld, Einfluss, Politik und Medien zusammenwirken, um den Betrieb am Laufen zu halten. 
Der ursprüngliche Kriminalfall, nämlich die Aufklärung des Mordes an Dan Hennigan, rückt dabei fast in den Hintergrund, weil immer neue abscheuliche Verbrechen ans Licht gelangen, mit denen Mae und Chris – und letztlich auch die Leserschaft – konfrontiert werden. Das erinnert in dem düsteren Grundton immer wieder an James Ellroy („L.A. Confidential“, „The Black Dahlia“), der in seinen Romanen ebenfalls die dunklen Seiten der amerikanischen Gesellschaft thematisiert. Allerdings ist Harpers „Alles schweigt“ weitaus leichter zu konsumieren. 

Philippe Djian – „Ein heißes Jahr“

Mittwoch, 22. November 2023

(Diogenes, 228 S., HC) 
Von Beginn seiner schriftstellerischen Karriere an hat sich Philippe Djian vor allem mit amourösen Verstrickungen und der poetischen Beschreibung ihrer seelischen wie körperlichen Vorgänge einen Namen gemacht. In den letzten Jahren ist dem französischen Bestseller-Autor diese Fähigkeit allerdings weitgehend abhandengekommen. Dass sein neuer Roman „Ein heißes Jahr“ mit kaum mehr als 200 Seiten wieder sehr kurz ausgefallen ist, spricht zunächst wenig dafür, dass Djian wieder die Kurve gekriegt hat. Dafür setzt er mit der Klimakatastrophe in einer nahen Zukunft – der Originaltitel des Romans lautet „2030“ - zumindest auf ein hochaktuelles Thema. 
Vor zehn Jahren hat die schwedische Schülerin Greta Thunberg zu Schulstreiks für das Klima aufgerufen und den Weg für die globale Bewegung „Fridays For Future“ freigemacht. Als Greg eines Morgens eine Reportage über das „Mädchen mit den Zöpfen“ sieht, wird er mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, dass er zusammen mit seinem Schwager Anton für die Vertuschung von Forschungsergebnissen zur Schädlichkeit eines Pestizids verantwortlich ist. Und das in einer Zeit, in der die Temperaturen so stark steigen, dass man es ohne Klimaanlage kaum noch aushält. Dafür gibt es aber ein Heilmittel gegen Krebs, so dass wieder unbeschwert geraucht werden darf. Während Anton und Greg sich mit ihrem Labor der Gesundheitsaufsicht stellen müssen, die bei einigen der Untersuchungsergebnisse Verdacht geschöpft haben, unterstützt Greg seine vierzehnjährige Nichte Lucie bei ihrem Engagement für das Klima. Dadurch lernt er die Klimaaktivistin Véra kennen, mit der Greg eine ungewöhnliche Freundschaft eingeht, bei der die Grenzen nicht immer so klar definiert erscheinen wie ursprünglich abgesprochen… 
„Sie spielten dieses Spielchen schon eine ganze Weile, am Ende war es schon tiefe Nacht, und sie hatten sich so heißgemacht und gereizt, dass er ihr sogar einen Finger hineingeschoben hatte, aber in weniger als einer Minute hatten sie sich wieder im Griff und gingen in beiderseitigem Einvernehmen auseinander. Sie zog den Slip wieder an und rollte sich auf die Seite. Er stand auf. Sie konnte schlecht behaupten, dass das seine Idee gewesen wäre. Sie selbst hatte die Grenzen festgesetzt, sich darüber zu beklagen, ging jetzt nicht. Genau das musste es wohl bedeuten, sich ins eigene Fleisch zu schneiden.“ (S. 158) 
Was anfänglich wie eine Auseinandersetzung mit der Klimakatastrophe wirkt, auf die wir wissentlich zusteuern, entpuppt sich bei Djian schnell nur als Aufhänger für eine weitere komplizierte Liebesgeschichte. Die familiären und beruflichen Bindungen zwischen Anton und Greg sind dabei komplex. Während für Anton als Chef des Labors, das mit seinen gefälschten Forschungsergebnissen dafür verantwortlich ist, dass das nach wie vor für den Handel zugelassene Pestizid in Zusammenhang mit einigen Todesfällen gebracht wird, vor allem das Image seiner Firma am Herzen liegt und mit den Töchtern seiner Frau arge Probleme hat, ist sein Schwager Greg hin- und hergerissen zwischen seiner Loyalität zu seiner Firma, die ihm ein luxuriöses Leben mit einem Porsche ermöglicht, und seiner gesellschaftlichen Verantwortung, auf die ihn seine Nichte und ihre Mentorin Véra aufmerksam machen. 
Djian interessiert sich jedoch mehr für das komplizierte Verhältnis zwischen Greg und Véra als für die Begleitumstände der bedrohlichen Klimakatastrophe, die Djian nur kurz skizziert. Im Gegensatz zu seinen früheren Romanen sind die Charakterisierungen der Figuren in „Ein heißes Jahr“ sehr oberflächlich ausgefallen. Eine wirkliche Nähe zu den Figuren oder gar Sympathie für sie lässt der kurze Roman leider nicht zu. So bleibt „Ein heißes Jahr“ nur eine weitere, eher unbedeutende, wenn auch stilsichere Fingerübung des einst so leidenschaftlich wirkenden Schriftstellers.


Dan Simmons – „Olympos“

Sonntag, 19. November 2023

(Heyne, 958 S., Tb.) 
Obwohl Dan Simmons auch sehr erfolgreich in den Genres Horror und historischem Abenteuer-Roman unterwegs gewesen ist, bleibt sein Name nach wie vor mit seiner vielfach preisgekrönten „Hyperion“-Tetralogie verbunden, die 1989 mit „Hyperion“ ihren Anfang nahm und über die Romane „Das Ende von Hyperion“, „Endymion. Pforten der Zeit“ und „Endymion. Die Auferstehung“ in den 1990er Jahren fortgeführt wurde. Nach seinem Ausflug in konventionellere Gefilde mit Thrillern wie „Fiesta in Havanna“, „Das Schlangenhaupt“ und „Eiskalt erwischt“ legte Simmons 2003 mit „Ilium“ sein nächstes Sci-Fi-Epos vor. Schon ein Jahr später präsentierte er mit „Olympos“ die Fortsetzung/den Abschluss seiner fantastischen Geschichte über den Kampf zwischen antiken Göttern auf einer alternativen Erde. 
Der aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammende Altphilologe Thomas Hockenberry wurde nach seinem Tod im Jahr 2006 von den Göttern aus alten Knochen, DNA und Erinnerungsfragmenten wiederbelebt, um für die Musen am Olymp Bericht vom Kampf um Troja zu erstatten. Mit der ihm zur Verfügung stehenden High-Tech-Ausrüstung war es Hockenberry und seinen Kollegen nicht nur möglich, mitten im Kampfgetümmel zu erscheinen (und zu verschwinden), ohne von den Beteiligten wahrgenommen zu werden, sondern er konnte die Ereignisse auch verändern. 
Dabei stellte der „Ilias“-Kenner fest, dass sich der Olymp der Götter nicht auf der Erde, sondern auf einem bewohnbaren Mars befindet, während der Trojanische Krieg auf der historischen Erde stattfand. Nach zehn Jahren sorgte allerdings ein Bündnis zwischen Achilles und Hektor, mit dem Ziel, Krieg gegen die Götter zu führen, für Verwirrung, und auf einem fernen Mars der Zukunft begann der trojanische Krieg von neuem. Während Zeus verschwand, kamen die Götter und Göttinnen herunter, um an der Seite ihrer jeweiligen Favoriten zu kämpfen. 
Im Zuge der Kampfhandlungen sorgt das Abreißen der Verbindung zwischen dem Mars mit dem Olymp und der Erde dafür, dass die Moravecs genannten biologische Maschinenwesen und die Griechen fliehen müssen, während Achilles auf dem Mars zurückbleibt und sich mit Hephaistos’ Hilfe auf eine aberwitzige Reise durch die Unterwelt begibt. Auf der zukünftigen Erde wiederum sehen sich die wenigen „Altmenschen“ einem Krieg ausgesetzt, den sie nicht gewinnen können, weil die unzähligen Voynixe, jene halbmechanischen Helfer, die ihnen zuvor ein bequemes und sorgenfreies Leben gewährleistet haben, plötzlich zur unbezwingbaren, tödlichen Bedrohung geworden sind. Und wieder muss sich Hockenberry an einen Ort teleportieren, an dem man ihn nicht sieht… 
„Wo genau will ich eigentlich hin? Wie kann ich diejenigen, zu denen ich will, dazu bewegen, den Griechen bei der Flucht zu helfen? Wohin könnten die Griechen fliehen? Ihre Familien, Bediensteten, Freunde und Sklaven sind alle in den blauen Strahl gesaugt worden, der von Delphi emporsteigt.“ (S. 751) 
Wer von „Ilium“ und „Olympos“ erwartet, ein ähnlich packendes Science-Fiction-Epos wie die „Hyperion“-Tetralogie genießen zu dürfen, wird sicher enttäuscht. Zwar ist Simmons‘ Grundidee, Homers berühmte „Ilias“ auf verschiedenen Raum- und Zeitebenen zwischen Mars und Erde zu verlegen, höchst interessant, aber auf den am Ende fast zweitausend Seiten des zweibändigen Epos treibt es der Autor dann doch etwas weit mit unzähligen Figuren, die am Trojanischen Krieg teilgenommen haben, und diversen technologischen Erfindungen, die oft nicht näher erläutert werden. Dass Simmons immer wieder zwischen den Zeiten, Orten und handelnden Personen/Göttern und literarisch bewanderten Moravecs hin- und herspringt, ist dem Lesegenuss ebenfalls wenig zuträglich. Dabei gewinnen die unzähligen Figuren kaum Kontur. Hockenberry, der als Ich-Erzähler, noch das alles verbindende Glied in „Ilium“ gewesen ist, taucht in der Fortsetzung erstmals ab Seite 650 auf, worauf seine Rolle fast darauf beschränkt bleibt, die bisherigen Ereignisse seit seiner Reaktivierung zusammenzufassen. 
Shakespeare- und „Ilias“-Kenner sind sicher im Vorteil, wenn es um die Einordnung literarischer Referenzen geht, die vor allem durch die beiden sympathischen Moravecs Mahnmuth und Orphu ins Spiel gebracht werden, aber hilft das kaum weiter, um die technologischen Finessen, quantenphysikalischen Phänomene und interpersonelle Verstrickungen zwischen den Alt-, und Nachmenschen, Göttern und Halbgöttern, Maschinenwesen und Monstern mit gehirnähnlichem Aussehen so einzuordnen, dass man als Leser mit Spannung das Finale erwartet. Das fällt nämlich mit einem Ausblick nach der Zerstörung Iliums eher metaphysisch aus. Simmons‘ Ideenreichtum, umfängliches Wissen und sprachliche Gewandtheit machen sich auch in „Olympos“ bemerkbar, aber weniger wäre gerade im vorliegenden Werk mehr gewesen.


Paul Auster – „Baumgartner“

Mittwoch, 8. November 2023

(Rowohlt, 208 S., HC) 
Seit seinen ersten beiden Büchern, die im Original 1987 erschienen und zwei Jahre später in deutscher Übersetzung unter den Titeln „Die New-York-Trilogie“ und „Im Land der letzten Dinge“ veröffentlicht worden sind, hat sich der aus Newark, New Jersey, stammende Schriftsteller Paul Auster zu einem der produktivsten, vielseitigsten und wichtigsten Künstler der Gegenwart entwickelt, zu dessen Oeuvre neben den bekannten Romanen – zuletzt das über 1000-seitige Epos „4 3 2 1“ – auch Essays, Lyrik, Übersetzungen und sogar Filme zählen. Nun präsentiert der mittlerweile 76-jährige Auster mit „Baumgartner“ eine ungewohnt kurze, aber sehr berührende Geschichte, die sich mit der Frage beschäftigt, wie man mit der Trauer nach dem Tod eines über alles geliebten Menschen umgeht. 
Seymour Tecumseh „Sy“ Baumgartner, 71-jähriger Professor für Phänomenologie in Princeton, sitzt in seinem Arbeitszimmer gerade an seiner Monografie über Kierkegaards Synonyme, als ihm einfällt, dass er nicht nur aus dem Wohnzimmer ein Buch holen muss, aus dem er zitieren will, sondern auch seine Schwester noch nicht wie abgesprochen angerufen hat. Der Weg nach unten setzt eine Kette verschiedener unglücklicher Ereignisse in Gang, die über Verbrennungen an der Hand nach der ungeschickten Handhabung eines kochend heißen Aluminiumtopfes auf dem Herd bis zu einem schmerzhaften Sturz die Kellertreppe hinunterführen. 
Als Lichtblick dazwischen klingelte die UPS-Botin Molly, in die Baumgartner ein wenig verliebt ist, seit seine große Liebe Anna Blume vor fast zehn Jahren gestorben war, weshalb er Bücher bestellt, die er eigentlich gar nicht braucht und sich schon in einer Ecke neben dem Küchentisch bis zur Umsturzgefahr stapeln. All diese Ereignisse setzen Erinnerungen an Anna in Gang, der er nach wie vor gewohnheitsmäßig eine Tasse Kaffee einschenkt und pornographische Liebesbriefe schreibt, wobei er sich vorstellt, wie Anna diese Briefe in Empfang nehmen und lesen würde… 
Immerhin, S. T. Baumgartner hat noch einen weiteren Versuch unternommen, eine Frau zu lieben. Auf die unverfälschte, direkte, übersprudelnde und spontane, aber weltabgewandte Anna folgte die ausgeglichene, beeindruckende, selbstsichere und kultivierte Judith, die so ganz anders war als seine große Liebe. 
Während Baumgartner erst nach Annas Tod einen schmalen Band mit ihren besten Gedichten veröffentlichen ließ, war Judith bereits eine Autorität in der Welt des Films, mit vier veröffentlichten Büchern, doch heiraten wollte sie Baumgartner nicht, und so ging es mit der Beziehung auch zu Ende. Der Philosophieprofessor grämt sich allerdings nicht zu sehr, sondern stürzt sich mit immer großer Begeisterung in neue Projekte, so die Betreuung der siebenundzwanzigjährigen Studentin Beatrix Coen, die ihre Dissertation über das Gesamtwerk von Anna Blume schreiben will und plant, die unveröffentlichten Manuskripte, Briefe und Romanfragmente in Baumgartners Nähe zu studieren. Schließlich bringt Baumgartner auch sein eigenes Buch zu Ende, in denen er seine Ideen über das Wort Automobil zum Besten gibt. 
„Das Auto als Mensch, der Mensch als Auto, eins mit dem anderen austauschbar in einer hakenschlagenden, pseudophilosophischen Abhandlung im Geiste von Swift, Kierkegaard und anderen intellektuellen Spaßvögeln, die die Welt auf den Kopf stellen, damit ihre Leser sich in den Kopfstand begeben und versuchen, sich aus dieser Perspektive eine Welt vorzustellen, die richtig herum steht.“
Auch wenn der titelgebende Baumgartner die Hauptfigur von Paul Austers neuen Roman darstellt, rückt Anna Blume durch die lebendig geschilderten Erinnerungen ihres Mannes ebenso in den Vordergrund einer berührenden Erzählung über die Liebe, die über den Tod hinauswirkt, aber wie in Austers Werk üblich, wird der Plot natürlich auch von Zufällen und selbstreferentiellen Passagen geprägt. Baumgartner ist es intellektuell gewohnt, die Dinge auf ihre Natur und Bedeutung zu untersuchen, und auf analytische Weise betrachtet er auch die Beziehung zu Anna und anderen Frauen in seinem Leben. Es scheint ihm die Einsamkeit erträglicher zu machen, auf diese Weise noch mit den Menschen, die ihm einst viel bedeutet haben und nun nicht mehr an seinem Leben teilhaben, verbunden zu bleiben. 
Mit seinen verschlungenen Sätzen, die auch in Werner Schmitz‘ Übersetzung einen wunderbaren Sog erzeugen, führt Auster seiner Leserschaft eindringlich vor Augen, wie sehr das Leben eines Menschen von Erinnerungen, Träumen und Wünschen geprägt wird, wie Gefühle von Einsamkeit und Trauer - zumindest teilweise - überwunden werden können. 

Daniel Speck – „Yoga Town“

Sonntag, 5. November 2023

(S. Fischer, 480 S., HC) 
Dass Daniel Speck sowohl Germanistik als auch Filmgeschichte studierte, schlägt sich nicht nur in seiner Werksbiografie nieder, die zunächst Drehbücher für Produktionen wie „Meine verrückte türkische Hochzeit“, „Maria, ihm schmeckt’s nicht!“, „Zimtstern und Halbmond“ und „Fischer fischt Frau“ und dann Romane wie „Bella Germania“ und „Jaffa Road“ aufweist, sondern auch in seiner sehr bildhaften, lebendigen Sprache, mit denen seine Romane wie Filme im Kopf seiner Leser inszeniert werden. Das trifft insbesondere für seinen neuen Roman „Yoga Town“ zu, die eine komplizierte Familiengeschichte auf zwei Zeitebenen erzählt und die dabei auch noch die Hintergründe zur Entstehung des letzten Beatles-Albums mit einfließen lässt. 
Berlin im Jahr 2019. Als die Yoga-Lehrerin Lucy von ihrem aufgeregten Vater Lou erfährt, dass ihre von ihrem Vater längst trennt lebende, ihm aber noch freundschaftlich verbundene Mutter Corinna Faerber, verschwunden sei, führt sie die Spurensuche über Corinnas Therapeutin nach Indien. Dorthin unternahmen im Jahr 1968 Lou, seine Freundin Marie und sein jüngerer Bruder Marc eine abenteuerliche Reise, um – ebenso wie die Beatles – ihren peace of mind zu finden. Statt Marie, die Indien blieb, kehrte Corinna, in die sich Lou schon auf dem Weg dorthin in der Türkei verliebt hatte, mit nach Deutschland zurück, doch was genau in Rishikesh geschah, wo sich Hippies aus aller Welt und Prominente wie die Beatles, Donovan und Mia Farrow im Ashram von Guru Maharishi erleuchten lassen wollten, weiß Lucy bis heute nicht. 
Die Suche nach Corinna wird für Lucy, die nach dem Beatles-Song „Lucy In The Sky With Diamonds“ benannt worden und als Yoga-Lehrerin noch nie in Indien gewesen ist, zu einer Reise zu ihren Wurzeln, zu sich selbst. Schließlich versucht sie zu begreifen, warum sie so überstürzt die Beziehung zu ihrem Freund Adnan und seinen beiden bezaubernden Kindern beenden musste, warum Lou sich über die Zeit in Indien stets bedeckt gehalten hat. 
„Wovor lief ich weg? Ich hatte es doch gut. Wovor war meine Mutter weggelaufen? Und was musste Lou verheimlichen? Es war, als gäbe es ein schwarzes Loch in der Mitte unserer Familie, ein implodierter Stern, und wer ihm zu nahekam, würde von seiner Schwerkraft verschluckt werden. Alle kämpften dagegen an, jeder auf seine Weise, und so entfernten wir uns voneinander.“ 
Daniel Speck, der bereits in seinen früheren Romanen für eine Brücke zwischen verschiedenen Kulturen zu bauen versuchte und als Jahrgang 1968 zu jung ist, selbst die Flower-Power-Ära miterlebt zu haben, beginnt seinen Roman als familiäres Drama. Schon nach wenigen Absätzen wird deutlich, dass die Beziehungen zwischen Lou, Corinna und ihrer Tochter Lucy von bislang gut verborgenen Geheimnissen geprägt sind. Die gemeinsame Reise von Vater und Tochter nach Indien nutzt Lucy vor allem dazu, ihrem Vater die wahre Geschichte ihrer Herkunft zu entlocken. 
Der Autor entwirrt die komplexen Beziehungen zwischen Lou, Marc, Marie und Corinna geschickt nach und nach und baut immer wieder dramatische Höhepunkte ein, die den Lesefluss vorantreiben. Dafür sorgen auch die Sprünge zwischen den beiden Erzählsträngen im Jahr 1968 und 2019 sowie die natürlich wirkende Einflechtung von zwei weiteren thematischen Schwerpunkten, die das Familiendrama bedeutungsschwer unterfüttern. 
Auf der einen Seite gelingt es Speck, der vor elf Jahren selbst Rishikesh besucht hat, die Atmosphäre der Spiritualität einzufangen, die den Ort damals geprägt haben muss. Auf der anderen Seite wird der Aufenthalt der Beatles in dem berühmten Ashram besonders ausgeschmückt, wobei deutlich wird, unter welchen Einflüssen die 48 Songs entstanden sind, die das Liverpooler Quartett dort geschrieben hat und von denen nur ein Teil Eingang auf das berühmte „White Album“ der Band fand. 
Wie Speck die sehr persönliche Familiengeschichte in den größeren Zusammenhang der Yoga-Spiritualität und den Entstehungsprozess des letzten Beatles-Albums stellt, macht „Yoga Town“ zu einem sehr kurzweiligen Lesevergnügen, das durch eine gleichnamige Playlist auch den passenden Soundtrack mitliefert. Bei so vielen gewichtigen Themen kommen einige Figuren in ihrer Charakterisierung leider etwas kurz, doch davon abgesehen bietet „Yoga Town“ letztlich eine erquickliche Erklärung dafür, warum einige Reisende sind, andere aber nur Touristen. 

Jo Nesbø – „Das Nachthaus“

Mittwoch, 1. November 2023

(Ullstein, 288 S., HC) 
Mit seiner 1997 gestarteten Reihe um den alkoholkranken Hauptkommissar Harry Hole hat sich der norwegische Schriftsteller Jo Nesbø schnell in die Herzen der Freunde skandinavischer Krimis geschrieben. „Headhunter“ stellte 2008 Nesbøs erster Versuch dar, neben seiner erfolgreichen Krimireihe, aus der der Roman „Schneemann“ im Jahr 2017 sogar verfilmt worden ist, auch andere Geschichten zu erzählen. Eine Sonderstellung nimmt dabei zum Beispiel der Roman „Macbeth“ ein, der im Rahmen des Hogarth Shakespeare Projekts entstanden ist und Nesbø die Möglichkeit bot, sich des ebenso kurzen wie blutigen Dramas „Macbeth“ anzunehmen, das den Aufstieg des Heerführers Macbeth zum schottischen König schildert. Aber auch seine letzten eigenständigen Romane „Ihr Königreich“ und „Eifersucht“ sind hier zu nennen. 
Mit „Das Nachthaus“ betritt Nesbø einmal mehr neues Terrain. 
Nachdem seine Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen sind, wächst der 14-jährige Richard Elauved bei seiner Tante Jenny und seinem Onkel Frank in der Kleinstadt Ballantyne auf, wo sich der Junge schwertut, Freunde zu finden. Einzig der stotternde Tom mag mit dem unbeliebten Zugezogenen seine Freizeit verbringen. Als Richard seinen einzigen Freund zu einem Telefonstreich anstiftet, sucht er aus dem Telefonbuch einen besonders seltsamen Namen heraus – Imu Jonasson – und lässt Tom dort anrufen und ausrichten, dass der Teufel persönlich am Telefon sei. Doch der Streich geht nach hinten los: Mit einem reißenden, nassen Schmatzen wird erst Toms Ohr von dem Telefonhörer aufgesogen, dann verschwindet Toms ganzer Körper in der Telefonzelle. Natürlich kauft niemand Richards Geschichte ab. 
Polizeichef McClelland vermutet eher, dass Tom beim Spielen in den Fluss gestürzt ist, doch bei der Suchaktion findet man nur Toms Luke-Skywalker-Figur. Dass der Name Jonasson bei der Überprüfung von Richards Geschichte nicht mehr im Telefonbuch steht, macht diese nicht glaubwürdiger. Als sich ein weiterer Schulkamerad in Richards Nähe in ein Insekt verwandelt und verschwindet, findet Richard einzig in Karen eine Verbündete, die ihn nicht für verrückt oder einen Lügner hält, sondern mit ihm in der Bibliothek versucht, den merkwürdigen Ereignissen in Ballantyne auf den Grund zu gehen. 
Dabei stellt sich heraus, dass Imu Jonasson im sogenannten „Nachthaus“ gelebt hat, einer herrschaftlichen Villa im Spiegelwald, und wegen seines tyrannischen Verhaltens in die Jugendbesserungsanstalt Lief eingeliefert worden ist. Mit der macht dann auch Richard Bekanntschaft, nachdem er auch FBI-Agent Dale gegenüber partout nicht von seinen unglaubwürdigen Geschichten abweichen will… 
Bereits nach wenigen Seiten glaubt man sich nicht in einem Roman von Jo Nesbø, sondern von Stephen King. Allerdings hat King es in seinen Coming-of-Age-Romanen wie „Es“ stets verstanden, sein Publikum erst mit dem normal wirkenden Kleinstadtleben vertraut zu machen, damit das Unheimliche auf einem glaubwürdigen Boden gedeihen konnte. Von dieser Raffinesse ist bei „Das Nachthaus“ nichts zu spüren. Während Nesbøs Harry-Hole-Romane durch gelungene Personen- und Milieubeschreibungen punkten, ist dem Autor in seinem neuen Werk offenbar nur an billigen Effekten gelegen. Nesbø gelingt es einfach nicht, seine Figuren, nicht mal seinen Ich-Erzähler, glaubwürdig zu charakterisieren. Die Handlung wirkt hastig wie aus trashigen Horrorfilm-Elementen zusammengeschustert. Wenn mit dem zweiten und dritten Teil des Romans die vorherigen Teile in einem neuen Licht präsentiert werden und Edgar Allan Poes berühmte Zeile „A dream within a dream“ auftaucht, ist die Geschichte schon nicht mehr zu retten. So lobenswert Nesbøs Bemühen auch ist, sich einmal in anderen Genres auszuprobieren, ging sein Versuch, mit „Das Nachthaus“ klassischen Spukhaus-Horror mit Psycho-Thriller-Elementen zu verknüpfen, fürchterlich daneben. 

Tamar Halpern – „California Girl“

Dienstag, 31. Oktober 2023

(Diogenes, 304 S., HC) 
Die in Los Angeles lebende Tamar Halpern hat ihren akademischen Abschluss an der University of Southern California's School of Cinematic Arts gemacht und seit 2001 bislang hier weithin unbekannte Filme wie „Shelf Life“, „Your Name Here“, „Jeremy Fink and the Meaning of Life“ und „Llyn Foulkes One Man Band“ inszeniert. Nun legt sie mit „California Girl“ ihr literarisches Debüt vor, das sich ähnlich wie Vendela Vidas „Die Gezeiten gehören uns“ mit den Erfahrungen eines pubertierenden Mädchens im Kalifornien der 1980er Jahren auseinandersetzt. 
Anfang der 1980er Jahre pendelt die vierzehnjährige Timey zwischen ihrem in Berkeley lebenden Vater, der als Physikprofessor an der Universität lehrt, und ihrer in Los Angeles lebenden Hippie-Mutter, die dort gerade ihr Kunststudium beendet hat, hin und her und lernt so zwei ganz unterschiedliche Welten kennen. Während sie im San Fernando Valley die beiden Zwillinge B und N als beste Freundinnen hat, die ihr den California Lifestyle nahebringen, helfen ihr in San Francisco die Joints über die tristen Zeiten in ihrem Leben hinweg. 
Timey ist es gewohnt, sich ständig an neue Umgebungen anpassen zu müssen, denn mit ihren Eltern, die eine offene Beziehung zu leben versuchten und daran scheiterten, zog sie jedes Jahr um, musste sich immer wieder als Außenseiterin mit anderen Außenseiterinnen anfreunden. Mittlerweile ist Timeys Mutter zum dritten Mal verheiratet, ihr Dad hat seine neue Freundin Minnie im Schauspielkurs kennengelernt und mit seinen merkwürdigen Regeln immer neue Konflikte verursacht. Im prädigitalen Zeitalter verabredet man sich noch per Telefon und vereinbart geheime Codes, um sicherzustellen, auch den einzigen Telefonanschluss im Haus zu sichern, wenn der Anruf einer Freundin erwartet wird. 
Es werden verschiedene Moden und Drogen ausprobiert, das Desegregation-Busing, mit dem die Milieus an den Schulen vermischt werden sollen, entwickelt sich zu einem Flop. Timey lernt Bands wie D.O.A., R.E.O. Speedwagon und Journey kennen, hält aber Led Zeppelin und Pink Floyd für die größten Bands der Welt. 
„Heute Abend ist die Musik laut und wütend und besitzergreifend. Da ist keine Schönheit, kein langes Gitarrensolo, das dir klarmacht, wie viel in der Welt noch darauf wartet, die das Herz zu brechen. Ich sehe zu, wie Jeni ihre rote Lockentolle über die Waschbäraugen schüttelt. Dabei wird mir klar, dass sie und ich nicht dieselbe Person sind, und das tut mir weh.“ (S. 133) 
Timey macht die üblichen Teenager-Erfahrungen, wird beim Ladendiebstahl erwischt, schwänzt den Theaterkurs, um Gras zu rauchen, und lernt auf nicht ganz freiwillige Weise, was es mit dem großen Ding namens Sex auf sich hat… 
Tamar Halpern erzählt in ihrem Romandebüt zwar die Coming-of-Age-Geschichte eines Teenager-Mädchens, das durch die Scheidung ihrer Eltern die unterschiedlichen Lebenskulturen im San Francisco Valley und Los Angeles aus nächster Nähe kennenlernt, aber wirklich Kontur gewinnt weder die 14-jährige Icherzählerin noch die vielen Menschen, denen sie in der kurzen Zeit sowohl hier als auch dort begegnet. Durch den episodenhaften, fragmentarischen Charakter kommt man zwar mit einer Vielzahl von Phänomenen der 1980er Jahre in Verbindung, doch das lässt eher eigene Erinnerungen aufploppen, sofern man in jener Zeit seine Teenagerjahre verbracht hat, als eine Nähe zu den Figuren aufzubauen. Die bleiben leider bis zur Karikatur nur skizzenhaft. Dafür überzeugt Halpern mit einem flüssigen Schreibstil, der sowohl humorvolle als auch ernste Töne miteinander zu verbinden vermag. 
Das Interessanteste an Tamar Halperns Romandebüt ist vielleicht nicht die Erzählung selbst, sondern die immerhin fünfzig Seiten umfassenden Fußnoten, die „wegen ihrer Bedeutsamkeit in der gleichen Größe wie der Text gesetzt“ sind. Hier gibt die Autorin versierte Exkurse zur Valley-Architektur, Fotografie, Teenager-Telefonanrufe, Föhnwellen und Kartonwein zum Besten, was den zeitgeschichtlichen Rahmen, in dem „California Girl“ angesiedelt ist, noch mehr Profil gewinnen lässt.  

Lina Nordquist – „Mein Herz ist eine Krähe“

Samstag, 28. Oktober 2023

(Diogenes, 454 S., HC) 
Als hätte die 1977 im schwedischen Norrala geborene Lina Nordquist als außerordentliche Professorin für Physiologie, Diabetesforscherin und Politikerin nicht schon genug zu tun, legte sie im Jahr 2021 mit dem nun auch in deutscher Übersetzung erhältlichen Buch „Mein Herz ist eine Krähe“ ihr Romandebüt vor, das in ihrer Heimat gleich als Buch des Jahres ausgezeichnet worden ist. Erzählt wird die Geschichte zweier durch eine im Wald gelegene Kate und Familie verbundene Frauen, die schwer mit ihrem Los zu kämpfen haben. 
Im Jahr 1897 sieht sich Unni gezwungen, mit ihrem Sohn Roar ihre norwegische Heimatstadt Trondheim zu verlassen, nachdem der Pfarrer, der sie zuvor missbraucht hat, sie als Kindsmörderin anklagt und in die Irrenanstalt abtransportieren lassen will. Mit den zwei gestohlenen Goldringen der Prälatur Trondheim und ihrem Geliebten Armod gelingt ihr die Flucht über die Grenze. Nach der entbehrungsreichen Reise über die Grenze gelangen sie in das schwedische Hälsingland, wo sie von Bauer Nilsson eine Waldhütte pachten können. „Frieden“ nennen sie ihr neues Zuhause, doch die ersten Jahre sind von einem mehr als harten Überlebenskampf geprägt. 
Die Nahrung, die sie im Wald finden und selbst anbauen, reicht ebenso wenig, den ewigen Hunger zu stillen wie die Früchte, die Armods Arbeit einbringt. Schließlich muss er erst die Pachtraten bei Bauer Nilsson abarbeiten, ehe er für seine Familie sorgen kann. Der allgegenwärtige Hunger belastet auch die Beziehung zwischen Unni und Armod, doch am Ende hält ihre Liebe sie zusammen – bis Armod bei einem Arbeitsunfall tödlich verunglückt und Unni sich und die mittlerweile zwei Kinder allein durchbringen muss. Das nutzt Bauer Nilsson gnadenlos aus, sucht Unni zu jedem beliebigen Zeitpunkt heim, bis sie nur noch einen Ausweg sieht, nie verliert sie ihren Mut. 
„Der Schmerz sprach in unzähligen Zungen. Und dennoch gingen mir die alltäglichsten Dinge durch den Kopf, dass meine Blase drückte oder dass etwas an meiner Schulter scheuerte. Vielleicht konzentriert sich der Körper auf Belanglosigkeiten, wenn seine Bewohnerin nur noch daliegen und aufgeben will. Aber dann versetzte es mir einen Stich, als ich dich neben mir atmen hörte, du warst wach, obwohl wir hätten schlafen sollen, und da wusste ich, ich war noch am Leben. Die Glut in mir erlosch nicht.“ (S. 335) 
1973 sitzen sich die dreiundfünfzigjährige Kåra und ihre Schwiegermutter Bricken gegenüber, um die Beerdigung von Brickens Mann Roar zu planen. Auch Kåra hat eine Geschichte von Entbehrungen zu erzählen, war ihre Ehe mit Brickens und Roars Sohn Dag kaum von Erfüllung geprägt. 
Der Tod dient als Aufhänger von Lina Nordquists in vielerlei Hinsicht erstaunlichen Romandebüt. Er zieht sich ebenso wie der Hunger, der Schmerz und die Gewalt wie ein roter Faden durch „Mein Herz ist eine Krähe“, verbindet die Ich-Erzählungen zweier Frauen, die nur mit Mühe zu einem in Ansätzen selbstbestimmten Leben gelangen. 
Vor allem Unni wächst dem Leser schnell ans Herz. Ihr Leben wirkt wie eine Tour de Force, die die Autorin mit ungebändigter Sprachgewalt ihrer Leserschaft bildreich vor Augen führt. Wie Unni, die über fundierte Heilkräuter-Kenntnisse (samt ihrer giftigen Verwandten) verfügt, erst der Tortur durch den heimischen Pfarrer, dann der Wanderung durch die Wälder bis nach Hälsingland und schließlich durch die von Hunger und Not geprägten Winter in der gepachteten Waldkate zu entkommen versucht, ist erschütternd eindringlich beschrieben und nichts für schwache Nerven. 
Kåras Nöte sind von anderer Qualität, muss sie sich doch in einem Konstrukt von Lügen bewegen, um das fragile Zusammenleben mit Bricken und Roar auf der einen Seite und mit ihrem Mann Dag auf der anderen Seite nicht zu gefährden. 
Mit ihrer poetischen Sprache fesselt Nordquist ihr Publikum allerdings von Beginn an, wobei die beiden Frauencharaktere so eindringlich charakterisiert werden, dass man ihren bewegenden Schicksalen bis zum nicht ganz hoffnungslosen Ende unbedingt folgen möchte. Dieses sprachlich außergewöhnliche Debüt sollte mühelos auch das deutsche Publikum begeistern!