Henning Mankell – „Der Verrückte“

Sonntag, 24. Dezember 2023

(Zsolnay, 506 S., HC) 
Als 1993 mit „Mörder ohne Gesicht“ und „Hunde von Riga“ hierzulande die ersten beiden Krimis um den schwedischen Kriminalkommissar Kurt Wallander von Henning Mankell veröffentlicht wurden, brach schnell ein regelrechtes Skandinavien-Krimi-Fieber aus, in dessen Sog Autoren die Karrieren von Autoren wie Håkan Nesser, Stieg Larsson, Jussi Adler-Olsen, Arne Dahl und Jo Nesbø beflügelt wurden. Neben den vielfach verfilmten Romanen um den sympathischen Kurt Wallander machte Mankell auch mit seinen Afrika-Romanen („Das Auge des Leoparden“, „Der Chronist der Winde“) Furore, doch nach Mankells Tod im Jahr 2015 ebbten die Veröffentlichungen des schwedischen Bestseller-Autors naturgemäß ab. Umso erstaunlicher wirken Mankells Frühwerke aus den 1970er Jahren, die erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurden. Nach den Kurzromanen „Der Sprengmeister“ und „Der Sandmaler“ widmet sich Mankell in dem 1977 im Original veröffentlichten Roman „Der Verrückte“ einem äußerst dunklen Kapitel der schwedischen Geschichte. 
Der Mittdreißiger Bertil Kras hat kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs genug von Stockholm, wo er bei einem Botendienst beschäftigt war, und landet im September 1947 in der kleinen Ortschaft in Norrland, wo er sich in der Pension des Witwers Helmer Gustafson für „eine Zeit lang“ ein Zimmer nimmt und als überzeugter Kommunist bald von Gleichgesinnten erfährt, dass es im Wald ein Lager, eine „Arbeitskompanie“ gegeben habe, in der in den letzten Kriegsjahren Kommunisten und andere politische Oppositionelle interniert waren. Nachdem das Lager abgefackelt worden war, haben sich zwar Fichten auf der Brandstelle ausgebreitet, doch in den Felsspalten sind immer noch Müllreste von kaputten Spaten, Ölfässern, Stiefeln und Konservendosen zu sehen. 
Zu den im Oktober 1940 von Polizeikommissar Lönngren und seinen Kollegen festgenommenen und internierten Kommunisten zählten Svante Eriksson, der nach seiner Freilassung mit seinen Genossen auf Wiedergutmachung drängt. Kras, der schnell Arbeit in dem örtlichen Sägewerk findet und sich in die alleinerziehende Kellnerin Margot verliebt, unterstützt das Anliegen seiner Genossen, in einem offenen Brief an das Lokalblatt auf das Vorgehen der Nazi-Sympathisanten hinzuweisen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Der Brief sorgt schließlich für Unruhe in dem Dorf. Als das Sägewerk abbrennt und Direktor Rader tot aufgefunden wird, gerät Kras unter Verdacht. Auch wenn es dafür keine Beweise gibt, geraten Kras und Margot zunehmend unter Druck… 
„Sie erlauben es ihrer Beziehung nicht zu wachsen, sich nach innen zu öffnen. Sie essen zusammen, kümmern sich zusammen um Rubinchen, schlafen zusammen, unternehmen zusammen Sonntagsausflüge. Nur ganz selten sprechen sie über Gedanken und Gefühle. Ich weiß ja nicht einmal, wovon sie träumt, denkt er. Mit einem Mal merkt er, dass ihm Margot fremd ist, dass er sich kaum an ihr Gesicht erinnern kann, obwohl er erst vor einer Viertelstunde bei ihr war. Und er fragt sich, ob das für sie genauso ist.“ (S. 263) 
Nicht mal dreißig Jahre war Henning Mankell alt, als er seinen ersten großen Spannungsroman veröffentlichte. Mit „Der Verrückte“ erweist sich der spätere Bestseller-Autor als analytischer Beobachter der schwedischen Nachkriegs-Gesellschaft, dessen öffentliches Leben von etlichen Nazi-Sympathisanten bestimmt worden ist. Auch hier versuchen die einflussreichen Geschäftsleute, die mit den Nazis kooperiert haben, den Schaden, den der veröffentlichte Brief der Kommunisten in der Gemeinde verursacht hat, auf ein Minimum zu reduzieren. 
Wer am Ende das Sägewerk in Brand gesteckt und den Direktor umgebracht hat, wird nicht aufgelöst, ist für den Roman aber auch nicht wichtig. Viel wichtiger sind die minutiösen Milieubeschreibungen von einfachen Menschen, die ihre Arbeit verrichten und ein wenig Glück in der Familie finden wollen. Der Brand und seine Folgen dienen letztlich dazu, die verdächtigen, unerwünschten Personen auszugrenzen, bis sie aufgeben und abziehen oder – wie hier – Amok laufen. 
„Der Verrückte“ ist so mehr ein Gesellschafts- als ein Spannungsroman, der Licht in ein dunkles, hierzulande kaum bekanntes Kapitel der schwedischen Nachkriegsgeschichte beleuchtet und so Bezüge zu den bedenklichen Entwicklungen zunehmend autoritär regierter Länder in Europa in der heutigen Zeit herstellt.  

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