David Nicholls - "Keine weiteren Fragen"

Freitag, 16. Dezember 2011

(Kein & Aber, 439 S., HC)
Ein wenig stolz ist er schon, als er 1985 an der Langley-Street-Gesamtschule ein spitzenmäßiges Abitur hinlegt, doch darüber hinaus hat der zwar volljährige, ansonsten aber in jeder Hinsicht lebensunerfahrene Brian Jackson nicht viel vorzuweisen. Nachdem er in den Ferien bei einem Elektronik-Versandhandel gejobbt hat, freut sich der mit Akne übersäte Jüngling auf den Beginn seines Studiums.
Mit Beginn seiner akademischen Lehre hofft Brian, endlich die Weltgewandtheit, Souveränität und Attraktivität zu gewinnen, die ihm bislang so schmerzhaft abgegangen ist. Doch bereits die Ankunft im Richmond House erweist sich als ernüchternd.
„Meine Bude ist ein Loch. Das Zimmer besitzt den ganzen Reiz und Charme vom Schauplatz eines Verbrechens; Ein-Personen-Matratze auf einem Bettgestell aus Metall, Kleiderschrank und Schreibtisch aus passendem Sperrholz, zwei Holzimitat-Regalbretter aus Resopal. Die Teppiche sind schlammbraun und offenbar aus gepresstem Schamhaar gewebt. Ein schmutziges Fenster vom Schreibtisch geht auf die Mülltonnen hinaus, während ein gerahmtes Schild die Verwendung von Reißzwecken an den Wänden bei Todesstrafe verbietet. Aber ich wollte eine Mansarde, und jetzt hab ich eine Mansarde. Machen wir das Beste draus.“ (S. 35) 
Brian bewirbt sich mit seinem Team für das populäre wie anspruchsvolle Fernsehquiz „University Challenge“, ist aber nur als Ersatzmann eingeplant. Wenn es nach Teamchef Patrick ginge, würde Brian bei den Proben gar nicht anwesend sein müssen, da sich Brian in seine Team-Kollegin Alice verguckt hat. Doch der Weg, ihr Herz zu gewinnen, erweist sich als ebenso steinig, wie es Brians bisherigen Lebensweg angemessen scheint. Und auch seine Präsentation im Team und der Umgang mit KommilitonInnen sparen nicht an unrühmlichen Episoden. Doch irgendwie mogelt sich Brian auf seine unbekümmerte Art durchs universitäre Leben und scheint seinen Zielen immer näher zu kommen …
Mit „Keine weiteren Fragen“ hat der in London lebende Ex-Schauspieler und Drehbuchautor David Nicholls („Cold Feet“, „I Saw You“, „Rescue Me“) ein beeindruckendes, vor allem umwerfend komisches Debüt als Romancier hingelegt. Sein Protagonist ist ein spätpubertierender, überheblicher wie unsicherer Loser, wie er im Buche steht, doch zeichnet Nicholls ihn auf liebenswerte Art, die beim Leser immer wieder Mitleid für den Antihelden hervorruft. Dabei verleiht er dem Geschehen das passende 80er-Jahre-Flair mit vor allem musikalischen Verweisen (Kate Bush, Led Zeppelin etc.) und versteht es, der amüsanten Geschichte immer wieder neue zwerchfellerschütternde Aspekte zu verleihen.

David Baldacci – Camel Club: 1: „Die Wächter“

Sonntag, 27. November 2011

(Lübbe, 589 S., HC)
West-Point-Absolvent Reuben Rhodes war nach drei Dienstzeiten in Vietnam dem militärischen Geheímdienst zugeteilt worden, kehrte aber der militärischen Laufbahn bald den Rücken zu und wandte sich verschiedenen Protestbewegungen gegen den Krieg zu, bis er einen Job in einer Lagerfirma annahm. Caleb Shaw darf sich zweier Doktortitel in Politikwissenschaften und Literatur rühmen, arbeitet nun aber in der Raritätenabteilung der Kongressbibliothek. Milton Farb zeichnet sich durch eine geistige Brillanz aus, die ihm einen Job in der Forschung für die Nationale Gesundheitsbehörde eintrug, aber eine Zwangsstörung mit starken paranoiden Symptomen führte ihn in eine Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, wo er Oliver Stone kennenlernte.
Einst diente Stone seinem Land als John Carr im Geheimdienst, wurde für tot erklärt und verbringt seine Tage nun als Friedhofswärter und campierte in einem Zelt vor dem Regierungskomplex in Washington, um dort mit Gleichgesinnten gegen die Verschleierungspolitik von Präsident Brennan und seinem Kabinett zu protestieren.
„Vor langer Zeit hatte er den Camel Club zu dem Zweck gegründet, den Mächtigen auf die Finger zu schauen und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf deren Treiben zu lenken, sobald die Machtelite krumme Dinger drehte – und das kam öfters vor. Seitdem blieb Stone vor der 1600 Pennsylvania Street auf Posten, schrieb seine Beobachtungen auf, trat für Werte ein, die andere Leute anscheinend nicht mehr als wichtig erachteten – Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit zum Beispiel. Allmählich aber fragte er sich, ob der ganze Aufwand lohnte.“ (S. 69f.) 
Gemeinsam bilden die vier als selbsternannte Wächter über die kleinen und großen Skandale im Regierungsgeschäft den sogenannten „Camel Club“. Getreu dem Motto „Ich will die Wahrheit wissen“ analysieren sie das aktuelle Tagesgeschehen und nehmen sich vor, Geheimdienstzar Carter Gray zu stürzen, der als rechter Hand des Präsidenten in den Augen des Clubs zu viel Macht in seinen Händen hält. Als sie in der Nähe ihres geheimen Versammlungsortes zufällig Zeuge eines Mordes werden, kommen sie einem Komplott auf die Spur, bei dem der Präsident entführt und die Schuld den Syrern in die Schuhe geschoben wird, deren Hauptstadt Damaskus in Schutt und Asche gelegt werden soll. Stone und seinen Gefolgsleuten bleibt mit der Unterstützung von Secret-Service-Agent Alex Ford nicht viel Zeit, die Drahtzieher der Verschwörung zu identifizieren …
„Die Wächter“ bildet den interessanten Auftakt einer neuen Reihe des amerikanischen Thriller-Autors David Baldacchi („Der Präsident“), in der von der Gesellschaft und Regierung ausgesonderte Elite-Köpfe einen ambitionierten Club bilden, der sich nichts weniger auf die Fahnen geschrieben hat, als gegen Verfehlungen der Regierung und ihrer Apparate vorzugehen. Baldacci etabliert zwar sympathische Figuren, verleiht ihnen aber leider wenig Profil. Dieses Manko wird hoffentlich in den Folgebänden behoben. Die Story hat in sich, wirkt aber auch über die Maßen spektakulär und deshalb wenig glaubwürdig. Davon abgesehen, ist ihm der Plot extrem spannend gelungen, so dass man weiteren Bänden in der „Camel Club“-Reihe durchaus gespannt entgegensehen darf.

David Baldacci – „Die Verschwörung“

Dienstag, 15. November 2011

(Bastei Lübbe, 480 S., Tb.)
Ein längst vergessener Atomschutzbunker dient einer Gruppe von hohen Geheimdiensttieren als Besprechungsraum. Unter der Leitung des höchstdekorierten CIA-Veteranen Robert Thornhill steht diesmal die Eliminierung von Faith Lockhart auf der Tagesordnung, der Assistentin des prominenten Washingtoner Lobbyisten Danny Buchanan.
Während Thornhill nämlich versucht, über die Erpressung Buchanans eine Gesetzesvorlage im Kongress durchzubringen, mit der die CIA größtmögliche Macht zurückgewinnt, will Lockhart beim FBI über die Praktiken ihres Chefs auspacken. Doch das geplante Attentat schlägt fehl, als der von Buchanan engagierte Privatdetektiv Lee Adams Lockhart retten kann, während stattdessen der ihr zum Schutz abgestellte FBI-Mann sich die Kugel einfängt. Von nun an befinden sich Lockhart und Adams sowohl vor der CIA als auch dem FBI auf der Flucht …
Schon die Ausgangssituation des bereits 1999 von David Baldacci veröffentlichten Thrillers „Die Verschwörung“ mutet verwirrend an und bleibt es über weite Strecken auch. Baldaccis Stärke liegt hier in der komplexen Inszenierung einer grandiosen Verschwörung innerhalb höchster Geheimdienstkreise, der sich ein zufällig zusammengewürfeltes Paar erwehren muss. Die Handlung ist dabei nicht immer einfach zu verstehen oder logisch nachzuvollziehen, dafür sind Baldacci seine Figuren wie immer sehr lebendig gelungen, die beiden Protagonisten dabei auch so sympathisch, dass man sie von Beginn an ins Herz schließt und hofft, dass sie irgendwie den Schlamassel, in den sie da geraten sind, überstehen. Bis dahin sind allerdings einige Längen zu überbrücken, aber diese kleine Schwäche hat der amerikanische Bestsellerautor in seinen späteren Werken souverän beheben können.

Walter Moers – „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“

Sonntag, 30. Oktober 2011

(Knaus, 432 S., HC)
Nachdem Walter Moers durch seine oft politisch unkorrekten Comics um das „Kleine Arschloch“ und „Adolf“ bereits zur Kultfigur avancierte, überraschte er 1999 mit seinem ersten Roman „Die 13½ Leben des Käpt’n Blaubär“, der nur wenig mit der aus der „Sendung mit der Maus“ bekannten Figur gemeinsam hatte, dafür dem Leser die wunderbare Welt Zamoniens vorstellte. Seither hat er mit Werken wie „Rumo & die Wunder im Dunkeln“ und „Die Stadt der Träumenden Bücher“ gefeierte Meisterwerke der Fantasy-Literatur veröffentlicht, die er selbst liebevoll und reichhaltig illustrierte. An letztgenanntes Werk schließt auch „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“ an.
Hildegunst von Mythenmetz suhlt sich im Licht seines literarischen Ruhms, vernachlässigt aber seine künstlerische Mission. Zweihundert Jahre nach der Feuersbrunst, die der Schattenkönig ausgelöst und damit Buchhaim, die Stadt der Träumenden Bücher, vernichtet hat, führt ein geheimnisvoller Brief mit den vertrauten Worten „Hier fängt die Geschichte an“ zurück nach Buchhaim, wo Mythenmetz eine völlig veränderte Stadt vorfindet. Lebende historische Zeitungen bringen Mythenmetz die Ereignisse der vergangenen Jahre ins Bewusstsein, er begegnet seinem Schriftstellerkollegen Ovidios, der ihm erklärt, warum Buchhaim wieder so ein blühendes Zentrum des Buchhandels geworden ist.
„Der letzte Brand von Buchhaim verursachte keinen Exodus, sondern eine Zuwanderung, wie sie die Stadt noch nie erlebt hatte. Abenteurer, Buchverrückte, Dichter und Möchtegern-Dichter, Verleger ohne Verlag, Lektoren ohne Anstellung, Übersetzer ohne Auftrag, Drucker, Leimsieder, Maurer, Buchbinder, Dachdecker, Buchhändler, kurz: Kopfarbeiter und Handwerker aller Art wurden von der halbzerstörten, frisch erblühenden Stadt magnetisch angezogen. Nirgendwo sonst konnte man so fundamental neu anfangen wie in Buchhaim. Egal, ob mit der Schreibfeder oder mit der Mörtelkelle. Nur in dieser wahnsinnigen Stadt konnte man an einer kollektiven Wiedergeburt teilhaben. Und nirgendwo sonst konnte man, wenn einem das Glück hold war, so verdammt reich werden.“ (S. 106)
Mittlerweile wird die Stadt der Träumenden Bücher von so skurrilen Spezialisten wie den Biblionisten, Bibliodromen, Bibionären, Biblioklasten, Bibliogeten, Bibliodonten, Bibliophanten, Bibliophagen etc. bevölkert, wie Mythenmetz von Ovidios erfährt, doch die eigentliche Attraktion verbirgt sich im Puppetismus. Mythenmetz‘ alte Vertraute, die Schreckse Inazea Anazazi, führt ihn in die mannigfaltigen Spielarten einer Kunst ein, deren höchste Vervollkommnung das „Unsichtbare Theater“ zu sein scheint. Um es zu erleben, wird Mythenmetz allerdings gezwungen, in die gefürchteten Katakomben Buchhaims zurückzukehren …
Es braucht nur wenige Worte, bis der geneigte Leser ganz in die wunderbare Zamonien-Welt eingetaucht ist, die Walter Moers mit seinen bisherigen Romanen so eindrucksvoll geschaffen hat. Mit sichtlicher Fabulierfreude, unzähligen liebevollen Illustrationen und allerlei aufwändigen grafischen Spielereien, die das mit Worten Geschilderte sogleich lebendig werden lassen, ohne die Phantasie des Lesers zu bemühen, lässt Moers seinen erfolgsverwöhnten, doch längst vom Orm verlassenen Helden die Veränderungen erleben, die Buchhaim seit seinem Abschied vor zweihundert Jahren durchgemacht hat. Allerdings wird so viel beschrieben und erklärt, dass die Handlung viel zu kurz kommt und ein spannender Erzählfluss erst entsteht, als sich „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“ dem Ende nähert. Dann, im Nachwort des „Übersetzers“, als der Walter Moers für die Erlebnisse seines Protagonisten fungiert, erfahren wir, dass aus dem einen geplanten Werk nun zwei werden. Wollen wir also hoffen, dass sich in der Fortsetzung die Handlung etwas straffer entwickelt als in diesem sicher lesenswerten, über lange Strecken allerdings etwas ermüdenden Roman.
Lesen Sie im Buch: Walter Moers – „Das Labyrinth der Träumenden Bücher“

Richard Laymon: „Der Wald“

Sonntag, 9. Oktober 2011

(Heyne, 432 S., Tb.)
Karen ist recht aufgeregt, das erste Mal mit ihrem neuen Freund Scott O‘Toole, seinen Kindern Julie und Benny sowie der mit ihm befreundeten Familie Gordon eine Woche in den Bergen zu campen. Flash hat mit Scott in Vietnam gedient und wird immer wieder an die dramatischen Ereignisse dort erinnert. Zusammen mit seiner Frau Merle und den Kindern Nick, Heather und Rose will er in den Bergen ebenso wie die O’Tooles einfach eine unbeschwerte Zeit erleben.
Vor allem Karen und Scott genießen das prickelnde Gefühl, ihren ersten gemeinsamen Urlaub in der unberührt erscheinenden Natur zu verbringen und sich für ihr „erstes Mal“ aus ihren jeweiligen Zelten zu schleichen. Doch auch die beiden Teenager Nick und Julie finden Gefallen aneinander und erfreuen sich an ihren ersten sexuellen Erfahrungen.
„Seine Hüfte lag schwer auf ihrem Geschlecht. Keuchend reib sie sich daran. Eine Brust lag unter seinem Oberkörper, während er die andere massierte und den aufgerichteten Nippel streichelte. Stöhnend wand sie sich vor Verlangen und drückte Nicks Gesicht weg. Sie führte seinen Kopf tiefer. Er küsste die Brustwarzen. Er leckte sie. Er nahm sie in den Mund. Er saugte daran, und Julie wimmerte. Er hob besorgt den Kopf, aber sie drückte ihn hinunter und hielt ihn dort. Er saugte fester. Es tat weh, doch zugleich wurde Julie von Wellen der Lust überspült.“ (S. 343) 
Doch die erotischen Freuden erhalten einen empfindlichen Dämpfer, als die Camping-Gruppe von zwei Wilden überfallen wird. Nachdem Karen vergewaltigt worden ist, erschlägt Nick den Täter mit einem Beil, doch die Leiche verschwindet auf ominöse Weise. Als die meisten Camper mit unerklärlichen Schnittwunden den Urlaub abbrechen, glaubt vor allem Nick an einen Voodoo-Fluch, der von der Mutter des toten Jungen über sie gebracht wurde, und tatsächlich stoßen ihnen daheim seltsame Unfälle zu …
Richard Laymon hat es sich während seiner höchst erfolgreichen, durch seinen plötzlichen Tod im Jahre 2001 leider viel zu früh beendeten Karriere zur Aufgabe gemacht, vertraute Themen der Horror-Literatur mit neuen Aspekten zu versehen, wofür vor allem „Der Ripper“ und „Die Insel“ großartige Beispiele darstellen.
In dem 1987 verfassten „Der Wald“ kombiniert Laymon das beliebte Wilde-fallen-im-Wald-über-ahnungslose-Camper-her-Motiv mit Elementen aus der Voodoo-Kultur und ergötzt sich – wie obiges Zitat verdeutlicht – an lustvollen Beschreibungen sexueller Vergnügungen, die schon etwas pubertäres Voyeuristisches an sich haben. Aber wie für alle Laymon-Romane gilt auch hier, dass die Geschichte von lebendigen Dialogen und authentischen Normalbürgern geprägt wird, die in lebensbedrohliche Ausnahmesituationen geraten. Das ist einfach souverän geschriebene Horror-Literatur mit viel Sex und Action!
Lesen Sie im Buch: Richard Laymon – „Der Wald“

Claudie Gallay – „Die Brandungswelle“

Donnerstag, 29. September 2011

(btb, 558 S., HC)
Eine ehemalige Biologiedozentin an der Universität von Avignon hat sich nach dem Tod ihres Mannes zwei Jahre lang beurlauben lassen und arbeitet nun seit einem halben Jahr für das Ornithologische Zentrum von Caen. In La Hague, im Nordwesten der Normandie, zählt sie Vögel, ihre Nester und Eier, sucht Gründe für den Rückgang der Zugvögel in der Gegend. Sie liebt die Monotonie der Arbeit, die karge Natur am Ende der Welt, die Leere ihres Seelenlebens.
Doch kurz bevor ein mächtiger Sturm das kleine Fischerdorf heimsucht, taucht Lambert auf, ein geheimnisvoller Mann, der vor vierzig Jahren seine Eltern und seinen jüngeren Bruder bei einem Bootsunglück verloren hat. Er ist zurückgekommen, um das Unglück von damals aufzuklären. Eine Schlüsselrolle kommt dabei Théo zu, dem ehemaligen Leuchtturmwärter, der damals offensichtlich das Leuchtfeuer ausschaltete und damit den Tod von Lamberts Familie verschuldet haben könnte. Die Ornithologin ist fasziniert von dem Fremden, der kein wirklich Fremder ist, aber immer wieder gibt sie sich den Erinnerungen an ihren geliebten Mann hin, dessen Tod auch sie in gewisser Weise sterben ließ.
„Diese Gegend war dir ähnlich. Mich davon abzuwenden, hätte bedeutet, dich nochmal zu verlieren. Ich war wie besessen von deinem Körper gewesen. Ich kannte seine Umrisse, seine Unvollkommenheiten. Ich kannte seine ganze Kraft. Jeden Abend ließ ich dein Gesicht, die Bilder, die ganze Geschichte in einer Endlosschleife vor mir ablaufen. Dein Lächeln. Deine Lippen. Deine Augen. Deine Hände. Deine verfluchten Hände, viel größer als meine.“ (S. 111f.) 
Gallay gelingt es, die Verschrobenheiten ihrer Figuren in einer sehr poetischen, klaren Sprache zu schildern und sie so sehr plastisch dem Leser vor Augen zu führen. Es sind eigensinnige, zuweilen exzentrische Leute, mit denen es die Ich-Erzählerin zu tun hat, die alle ihre Bürden zu tragen haben – wie sie selbst, der Künstler, der auf einmal durch einen Fachartikel berühmt zu werden scheint; die Tochter, die ihren verhassten Vater pflegt, und dann taucht ein Foto auf, das all die sicher geglaubten Dinge in ein neues Licht rückt. Die französische Autorin lässt ihre Figuren in Worten sprechen, wie man sie sonst weniger hört. Aber die Skurrilität der Gespräche fügt sich nahtlos in das ohnehin sonderbare Ambiente der Handlung, Orte und verborgenen Geheimnisse ein, dass es eine Freude ist, die Puzzleteile am Ende wieder zusammengefügt zu wissen.
Leseprobe "Die Brandungswelle"

John Grisham – „Das Geständnis“

Montag, 19. September 2011

(Heyne, 527 S., HC)
Reverend Keith Schroeder staunt nicht schlecht, als eines Tages ein Mann namens Travis Boyette in sein Gemeindebüro kommt und ein ungewöhnliches Geständnis ablegt: Mit einem taubengroßen Tumor im Kopf habe er nicht mehr lange zu leben und sehne sich danach, sein Gewissen zu erleichtern. Was sich der Reverend schließlich anhören muss, ist die detaillierte Schilderung der Entführung, Vergewaltigung und Ermordung der siebzehnjährigen Nicole Barber, für die Boyette zu seinem eigenen Erstaunen nie belangt worden ist.
Obwohl die Leiche des Mädchens nie gefunden wurde, muss der schwarze Donté Drumm seit acht Jahren in der Todeszelle auf die Vollstreckung eines Urteils warten, das auf einem offenbar erzwungenen Geständnis und einer ebenso offensichtlichen Falschaussage eines Zeugen beruht. Obwohl er sich schuldig macht, bei dem Verstoß von Boyettes Bewährungsauflagen zu helfen, macht sich Schroeder nach der Überprüfung einiger seiner Angaben mit Boyette auf die Reise von Kansas nach Texas, wo Drumm in vier Tagen hingerichtet werden soll. Außer Drumms Familie und seinem engagierten Anwalt Robbie Flak ist allerdings niemand interessiert daran, Boyettes Geschichte zu überprüfen, schon gar nicht die Justiz, die den Verurteilten wie geplant hingerichtet sehen will. Selbst Dontés Schwester Andrea ist bei der perfiden Aufführung der Strafverfolger zu der Überzeugung gelangt, dass Donté schuldig sei.
„Wir saßen in diesem großen Gerichtssaal und sahen die neun Richter an, alle weiß und alle so furchtbar wichtig in ihren schwarzen Roben, mit ihrer ernsten Miene und ihrem Getue. Auf der anderen Seite Nicoles Familie und ihre großspurige Mutter, die sich viel zu wichtig nahm. Und dann stand Robbie auf und brachte unseren Fall vor. Er war großartig. Er ging den Prozess noch einmal durch und machte darauf aufmerksam, dass das Beweismaterial äußerst dürftig war. Er machte sich über den Staatsanwalt und den Richter lustig. Er hatte vor nichts Angst. Und er war der Erste, der darauf hinwies, dass die Polizei nichts von dem anonymen Anrufer gesagt hatte, der behauptet hatte, Donté sei es gewesen. Das hat mich schockiert. Wie konnten die Polizei und der Staatsanwalt es wagen, Beweise zurückzuhalten? Das Gericht störte sich nicht im Geringsten daran. Ich weiß noch, wie ich Robbie dabei beobachtete, wie er so voller Leidenschaft für Donté eintrat, und irgendwann wurde mir klar, dass er, der Weiße aus dem reichen Teil der Stadt, nicht den geringsten Zweifel daran hatte, dass mein Bruder unschuldig war. Und in diesem Moment glaubte ich ihm. Ich schämte mich so dafür, dass ich an Donté gezweifelt hatte.“ (S. 223)
Was folgt, ist ein packender Wettlauf gegen die Zeit, bei dem Dontés Anwalt einen Antrag nach dem nächsten bei allen möglichen zuständigen Stellen einreicht und Dontés Freund Joey Gamble zur Rücknahme seiner fatalen Falschaussage bewegen will, während der Gouverneur nicht daran denkt, einen Aufschub des Strafvollzugs zu gewähren und die Justiz sich damit begnügt, sich einzureden, alles richtig gemacht zu haben.
Für „Das Geständnis“ hat sich Bestseller-Autor John Grisham ein extrem heikles Thema ausgesucht, das auch die Befürworter der Todesstrafe arg ins Grübeln bringen dürfte. Mit messerscharfer Präzision und in schnörkelloser Sprache schildert Grisham einen Justizskandal von tragischer Reichweite und demontiert das US-amerikanische Justizsystem, entlarvt deren Amtsinhaber als machtbesessen, uneinsichtig und selbstgerecht. Grisham-Freunde und Thriller-Fans kommen dabei voll auf ihre Kosten!
Lesen Sie im Buch: John Grisham – „Das Geständnis“

David Baldacci - "Der Abgrund"

Dienstag, 23. August 2011

(Bastei Lübbe, 639 S., Tb.)
Der Name David Baldacci ist immer noch eng mit seinem ersten Bestseller „Der Präsident“ verknüpft, der von und mit Clint Eastwood erfolgreich als „Absolute Power“ verfilmt worden ist. Seither hat sich der amerikanische Bestseller-Autor als sicherer Garant für spannende, oft actionreiche Thriller erwiesen, die teilweise sogar Teil großartiger Reihen wurden. Mit dem 2001 (in Deutschland 2003) veröffentlichten Thriller „Der Abgrund“ nimmt David Baldacci das grandiose Scheitern einer groß angelegten FBI-Aktion zum Ausgangspunkt für eine komplexe Geschichte, in der der hochdekorierte Agent Web London mit seinem Team die mutmaßliche Finanzverwaltung eines Drogenkonzerns hochgehen lassen will.
Doch das achtköpfige Team gerät in einen Hinterhalt. Dass Web plötzlich in bewegungslose Starre verfällt, rettet ihm zwar als einzigen das Leben, doch dafür wird er von seinen Kollegen als Feigling gebrandmarkt und von den Witwen seiner getöteten Gefährten geächtet. Einzig ein schwarzer Junge, der Web am Tatort ein merkwürdiges „Donnerhall“ entgegenraunte, könnte Licht in das FBI-Desaster bringen, doch scheint er wie vom Erdboden verschluckt. Um der Medienhetze zu entgehen, muss Web untertauchen und auf eigene Faust ermitteln. Dabei stößt er auf eine Reihe von aktuellen Todesfällen, die sowohl mit der jüngsten FBI-Katastrophe in Zusammenhang stehen könnten als auch mit dem Massaker an der Schule in Richmond, bei dem Web fast selbst dran glauben musste.
„‘Zwei Leute, am gleichen Tag. Einmal Louis Leadbetter; er war der Richter in Richmond, der die ‚Freie Gesellschaft‘ verurteilt hat. Er wurde erschossen. Und Fred Watkins war bei diesem Prozess der Vertreter der Anklage. Sein Haus ist explodiert, als er gerade hineingehen wollte. Und dann das Charlie-Team. Wir waren die Einsatztruppe, die auf Anforderung des Richmond Field Office geschickt wurde. Ich habe zwei von Frees Leuten getötet, bevor mein Gesicht getoastet und ich von zwei Kugeln durchlöchert wurde. Und dann wäre da noch Ernest B. Free höchstpersönlich. Aus dem Gefängnis getürmt.‘“ (S. 251 f. in der Weltbild-Lizenzausgabe von 2011) 
Web sucht mit seinem Kollegen Paul Romano die Ranch von Bill Canfield auf, dessen Junge damals in der Schule umkam und mit dem der entflohene Free vielleicht noch eine Rechnung offen haben könnte …
David Baldacci erweist sich einmal mehr als Meister der explosiven Spannung, die viel Action und haufenweise Intrigen bereithält. Obwohl über 600 Seiten stark, hält sich „Der Abgrund“ nicht mit einer langen Einleitung auf, sondern katapultiert den Leser gleich ins dramatische Geschehen, bei dem Web London auf einen Schlag seine ganze Truppe verliert. Doch Web London hat nicht nur die Hintergründe der fürchterlich gescheiterten Mission aufzuklären, sondern mit der Psychiaterin Claire Daniels auch seine eigene dunkle Vergangenheit aufzuarbeiten. In einem furiosen Finale werden so einige knifflige Knoten gelöst und Widersacher von Webs HRT-Team ins Leichenschauhaus befördert.

Stewart O’Nan – „Engel im Schnee“

Sonntag, 7. August 2011

(Rowohlt, 251 S., HC)
An einem verschneiten Winterabend in der Kleinstadt Butler, Pennsylvania, hört der fünfzehnjährige Arthur Parkinson während seiner Posaunenprobe in der Band, Schüsse, die – wie sich später herausstellen wird – das Leben seiner früheren Babysitterin Annie Marchand beenden.
Es bedeutet das Ende eines noch jungen Lebens, das allerdings voller Probleme war. Ihren Mann Glenn hat sie in die Flucht getrieben und sich ausgerechnet mit Brock, dem Mann ihrer besten Freundin, eingelassen. Das treibt vor allem ihre Mutter May in die Verzweiflung:
„Das Leben ihrer Tochter ist so in Unordnung, dass es May umbringt. Eine dreijährige Tochter und nicht mal in der Lage, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. May weiß nicht, wie Annie die Miete zusammenbekommt, bestimmt nicht von dem, was sie im Club verdient. Jedesmal wenn sie danach fragt, endet es mit einem Streit. Sie hat immer das Gefühl gehabt – obwohl sie es nie gesagt hat, oder nur leise zu Charles -, dass Annie nicht sonderlich intelligent ist, dass sie nicht vorausschaut und sich dann wundert, wenn alles schiefläuft. (…) Annie scheint immer noch an der High-School zu sein: Sie hat einen Teilzeitjob und sucht sich aus, welchem Jungen sie sich hingibt. Sie ist ihre Jüngste, und nach allem, was May gelesen hat, müsste sie sich verzweifelt an Annie festklammern. Aber May wünscht sich nur, dass sie zur Ruhe käme oder dass sie, falls daraus nichts wird (und das befürchtet sie, ihr einziges Mädchen), irgendwohin zöge, wo sie es nicht mehr mit ansehen muss.“ (S. 119 f.)
Doch Arthur, der einst für Annie geschwärmt hat, plagen eigene Probleme. Sein Vater ist gerade ausgezogen und hat bereits eine neue Lebensgefährtin, er selbst beginnt sich in eine Schulkameradin zu verlieben …
Mit „Snow Angels“ hat der amerikanische Schriftsteller Stewart O’Nan 1994 ein fulminantes Debüt hingelegt. Er beschreibt die Nöte und Sehnsüchte seiner einfachen Protagonisten mit viel Einfühlungsvermögen und Sympathie, wobei er trotz der oft trostlosen Situationen und Momente immer einen Ausweg aufzuzeigen scheint. Die Eindringlichkeit der schlichten Poesie geht mit einer anrührenden Melancholie einher, die sich nur selten in Hoffnungslosigkeit verliert, beispielsweise dann, wenn am Ende der unausweichliche Mord an Annie beschrieben wird. Doch darüber hinaus stellt „Engel im Schnee“ das vielschichtige Portrait normaler amerikanischer Kleinstädter mit ihren Sorgen und Hoffnungen dar, das man so schnell nicht aus der Hand legt.

Jed Rubenfeld – „Todesinstinkt“

Samstag, 23. Juli 2011

(Heyne, 624 S., HC)
Kurz nachdem Punkt zwölf Uhr die Glocken der Trinity Church läuteten, erschüttert am 16. September 1920 eine Explosion die Wall Street. Erst eine Stunde vorher hatten sich Jimmy Littlemore, ein 35-jähriger Detective der New Yorker Polizei, und der gleichaltrige Stratham Younger, der 1917 seine Arzt-Praxis in Boston und sie wissenschaftliche Forschung in Harvard aufgegeben hatte, um sich für einen Kriegseinsatz in Frankreich zu melden, nach langer Zeit wiedergesehen. Younger stellte seinem Freund die aus Frankreich mitgebrachte Freundin Colette Rousseau vor, die dem Detective einen zerknitterten Zettel mit mysteriöser Botschaft und einen darin eingewickelten Zahn übergab.
Nach dem Chaos, das die Explosion in New York hinterlassen hat, fällt Littlemore eine tags zuvor in Toronto abgestempelte und an George F. Ketledge in New York adressierte Postkarte in die Hände, in der dieser gewarnt wird, am 15. September vor drei Uhr die Wall Street zu verlassen. Hinter dem Anschlag werden sogenannte Terroristen vermutet, die als Sammelbegriff Anarchisten, Sozialisten, Nationalisten, Fanatiker, Extremisten und Kommunisten umfassen. Wenig später wird Colette von einem Trio ausländischer Männer entführt, gelangt aber wohlbehalten zu Younger zurück. Ob es eine Verbindung zwischen all diesen Vorkommnissen gibt, wollen Littlemore und Younger herausfinden, allerdings will ihnen das FBI die Ermittlungen abnehmen, das sich allerdings auch schwer mit der Aufklärung des kapitalen Verbrechens tut.
„Überall, wo sich Menschen versammelten, war das Unbehagen mit Händen zu greifen. Die Welle von Verhaftungen und Deportationen war ungebrochen, aber der terroristische Anschlag blieb ungeklärt. Mächtige Menschen – Reiche, Gouverneure, Senatoren – verlangten die erneute Mobilmachung. Zeitungen forderten Krieg. Die Wolke aus Rauch und flammendem Staub, die am 16. September die Sonne an der Wall Street verhüllt hatte, hatte sich noch nicht gelegt. Im Gegenteil, ihr Schleier hatte sich über die ganze Nation gelegt.“ (S. 325 f.)
Littlemore wird von seiner Polizeiarbeit entbunden und tritt in die Dienste des Schatzamts ein, um den Verbleib des gestohlenen Goldes im Wert von vier Millionen Dollar aufzuklären. Dabei stellt er bald fest, dass die beteiligten Männer in den Schaltzentralen der Macht es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen …
Ähnlich wie bei seinem außergewöhnlichen Debütroman „Morddeutung“ hat sich der amerikanische Professor und Schriftsteller Jed Rubenfeld für sein Zweitwerk einen der spektakulärsten Terrorakte in den USA als Grundlage für die interessante Spekulation über die Auflösung des nie aufgeklärten Anschlags gewählt. Seine beiden Protagonisten lässt er dabei in etliche heikle Situationen stolpern und den stummen Sohn von Youngers Freundin Colette in Wien von Sigmund Freud therapieren, der eine der Hauptrollen in „Morddeutung“ spielte. Parallelen zum Auftreten der USA nach dem berüchtigten 11. September sind dabei unverkennbar, aber über die Aufklärung des Attentats hinaus setzt sich Rubenfeld auch noch mit Marie Curie und der Wirkung von Radium sowie der Theorie des titelgebenden Todestriebs auseinander, die Freud 1920 in seinem Aufsatz „Jenseits des Lustprinzips“ darlegte. Freunde historischer Krimis mit wahrem Hintergrund dürften bei diesem elegant geschriebenen Thriller ihre Freude haben, auch wenn die Handlung etwas stringenter hätte vorangetrieben werden können. Doch Rubenfeld hat mit Littlemore und Younger zwei starke Figuren geschaffen, die wie das Literatur–Pendant zur Holmes & Watson-Inkarnation in Guy Ritchies „Sherlock Holmes“ wirken.
Lesen Sie im Buch „Todesinstinkt“

Jussi Adler-Olsen - (Carl Mørck 3) „Erlösung“

Montag, 11. Juli 2011

(dtv, 591 S., Pb.)
Das Sonderdezernat Q des Polizeipräsidiums in Kopenhagen widmet sich unter der Leitung von Carl Mørck alten ungelösten Fällen. Mørck , seinem muslimischen Assistenten Assad und der eigenwilligen Rose fällt eine Flaschenpost aus dem Jahre 1996 in die Hände, die zunächst an der Küste von Schottland aufgefunden wird, aber viele Jahre unbeachtet im Küstenstädtchen Wick auf der Polizeiwache herumstand.
Nach ersten Analysen durch die schottischen Kollegen versucht die Mannschaft des Sonderdezernats das mit Blut beschriebene, kaum noch leserliche Schriftstück zu entziffern und fügt durch Hilfe von Kollegen die Textfragmente wie ein Puzzle zusammen. Während die Ermittler auf den Namen Poul Holt stoßen, der den Hilferuf unterschrieben hat, gehen Carl Mørck & Co aber auch einer Reihe von Brandstiftungen nach, bei denen offenbar schon vorher verbrannte Leichen aufgefunden werden, deren Einkerbungen am kleinen Finger darauf schließen lassen, dass die Opfer einer religiösen Sekte angehören. In diese Richtung führt auch die Suche nach Poul Holt. Und schon wird Carl Mørck klar, warum sich der Kidnapper ausgerechnet Kinder aus einer der vielen Sekten auswählt, die in der dänischen Gesellschaft integriert sind.
„‘Der Entführer sucht sich eine kinderreiche Familie aus“, fuhr Carl fort, während er nach Gesichtern Ausschau hielt, an die zu wenden es sich lohnte. ‚Eine Familie, die – als Zeugen Jehovas – in vielerlei Hinsicht isoliert in der sie umgebenden Gesellschaft lebt. Eine Familie, die relativ starr in ihren Gewohnheiten verankert ist und ein außerordentlich restriktives Leben führt. Eine Familie, die zuletzt auch noch vermögend ist, nicht wirklich steinreich, aber reich genug. Aus dieser Familie wählt der Mörder zwei Kinder aus, die innerhalb der Kinderschar irgendwie einen besonderen Status haben. Er entführt sie beide, und nachdem das Lösegeld bezahlt ist, ermordet er das eine und lässt das andere frei. Jetzt weiß die Familie, wozu er imstande ist. Der Mörder droht dann, er sei bis in alle Zukunft bereit, ohne Vorwarnung ein weiteres Geschwisterkind umzubringen, sollte er den Verdacht hegen, die Familie habe sich mit der Polizei oder der Gemeinde in Verbindung gesetzt oder versuche auf eigene Faust, ihn zu finden.“ (S. 266)
Carl Mørck und sein Team haben alle Hände voll zu tun, die Identität des gewieften Kidnappers und Killers zu ermitteln. Er bewegt sich nicht nur unter verschiedenen Namen, sondern auch mit raffinierten Verkleidungen durch seine „Fanggebiete“ und schreckt vor keinen Mitteln zurück, seine Spuren hinter sich zu verwischen.
Nachdem der vorangegangene zweite Fall „Schändung“ nicht ganz die Erwartung erfüllen konnte, die der furiose Erstling „Erbarmen“ geschürt hat, nimmt Adler Olsen mit „Erlösung“ von Beginn an so richtig Fahrt auf. Die Reihe von ausgetüftelt organisierten Kindesentführungen und –morden in den Reihen dänischer Glaubensgemeinschaften, die es vorziehen, unter sich zu bleiben, geht dem Leser schnell nahe. Der Autor beschreibt sowohl das perfide Handeln des Kidnappers/Killers als auch die Leiden seiner Mitmenschen, die nur ahnen, dass hinter seiner bürgerlichen Maske etwas Böses lauert. Den Wettlauf gegen die Zeit, die das Sonderdezernat Q beim Auffinden der vermissten Kinder zu absolvieren hat, ist actionreich und extrem spannend geschrieben. So muss ein moderner Thriller sein! Einzig die interessanten Persönlichkeiten des Sonderdezernats könnten noch besser ausgeleuchtet werden. Hier sorgt der erfrischende Humor im Umgang zwischen den Kollegen für wohltuende Ablenkung von dem harten Fall, aber Privates wird wieder nur häppchenweise abgerissen. Das macht zumindest neugierig auf die Folgebände.
Lesen Sie im Buch "Erlösung"

Matt Dunn – „Aus. Ende. Gelände.“

Montag, 27. Juni 2011

(Knaur, 431 S., Pb.)
Am 16. Januar ruft Edward seinen besten Freund Dan, den blendend aussehenden Moderator der „Antiquitäten-Roadshow“ an, um ihm mitzuteilen, dass seine langjährige Lebensgefährtin Jane nach Tibet abgehauen ist. Immerhin hat sie ihm einen Brief hinterlassen, in dem sie ihm vorwirft, sich zu sehr gehen gelassen zu haben. In genau drei Monaten will sie wieder zurückkehren und sich mit Teddy weiterunterhalten. Also hat Edward drei Monate Zeit, sich wieder in Form zu bringen und für Jane wieder attraktiv zu werden.
Er heuert eine Personal Fitness-Trainerin an, verzichtet auf Pizza und Alkohol und muss sich ständig mit Dan auseinandersetzen, der ihm die Frauenwelt näherzubringen versucht. Allerdings ist der ungemein treue Edward gar nicht daran interessiert, Tricks zu lernen, wie man möglichst viele Frauen möglichst schnell ins Bett bekommt, so wie es Dans Lebensphilosophie ist. Edward möchte einfach nur seine Jane zurückhaben. Denn bald schon wird ihm klar, wie sehr er sein Mädchen vermisst.
„Schon beim Aufwachen oder besser gesagt beim Aufstehen spüre ich sofort, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Ich komme erst langsam richtig zu mir, denn ich habe nicht besonders gut geschlafen. Vielleicht hat es etwas damit zu tun, dass ich zum ersten Mal seit vielen Jahren nicht die ganze Nacht um das Federbett kämpfen musste. Was immer die Ursache für meine Unruhe war, bin ich mir der leeren Stelle, wo eigentlich Jane liegen sollte, sehr bewusst.
Während ich meine erste Zigarette des Tages rauche, wird mir mit einem Schaudern bewusst, dass sie zum ersten Mal in all den zehn Jahren nicht wie gewohnt in unmittelbarer Reichweite ist, wenn man einmal von gelegentlichen Geschäftsreisen oder Familientreffen absieht. Auch wenn wir uns mal gestritten hatten, lagen wir doch immer im selben Bett, bisweilen Rücken an Rücken in eisigem Schweigen, bis einer von uns eine Hand oder einen Fuß ausstreckte.“ (S. 37)
Bereits mit den ersten Seiten weckt Matt Dunn das Mitleid seiner Leser für den armen Tropf Edward, der offensichtlich aufgegangen ist wie ein Hefekloß und vor allem in Gegenwart von Dan-Playboy unbemerkt in dessen Schatten verblasst. Es ist schon witzig zu verfolgen, wie die Lebensphilosophien dieser so grundverschiedenen Freunde sich aneinander reiben, und doch lässt sich Edward immer wieder von seinem so Frauen-erfahrenen Freund antreiben und zu den schlechtesten, gelegentlich aber auch solchen Ideen anstiften, die zwar seinen Geldbeutel mächtig erleichtern, dafür aber sein Heim, sein Outfit und sein Äußeres auf Vordermann bringen, bis Edward tatsächlich selbstbewusster mit Frauen umzugehen versteht.
„Aus. Ende. Gelände.“ lässt sich wunderbar leicht und schnell weglesen, ohne den Intellekt, aber auch nicht wirklich das Zwerchfell großartig zu beanspruchen.

Lotte & Søren Hammer – „Schweinehunde“

Samstag, 25. Juni 2011

(Droemer, 504 S., HC)
Seit die schwedischen Bestseller-Autoren Henning Mankell und Hakan Nesser die Lust an skandinavischen Krimis geweckt haben, hat sich auch hierzulande ein reges Interesse an skandinavischer Spannungsliteratur entwickelt, das seinen vorläufigen Höhepunkt durch die gefeierte „Millennium“-Trilogie von Stieg Larsson erreichte. In diesem Zuge erscheinen natürlich auch Krimis, die den hohen Standard bereits bekannter Autoren allerdings nicht halten können – wie das thematisch aufwühlende Debüt des dänischen Geschwisterpaars Liselotte Hammer Jacobsen und Søren Hammer Jacobsen.
In Bagsvaerd, einem Vorort von Kopenhagen, finden zwei Kinder in der Turnhalle ihrer Schule eines Morgens fünf nackte Männer von der Decke hängen, akkurat aufgeknüpft und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Als Kriminalhauptkommissar Konrad Simonsen von seinem abgebrochenen Urlaub mit seiner 16-jährigen Tochter an den Tatort kommt, macht sich schnell der Hausmeister Per Clausen verdächtig, der mit seinen irreführenden Antworten die Polizei an der Nase herumführt.
Doch bevor seine Ermittler Nathalie „Comtesse“ von Rosen, der spielsüchtige Arne Pedersen, die junge Pauline Berg und der pensionierte, aber erfahrene Kaspar Planck den hochdekorierten Statistiker, der nach dem Tod seiner Tochter völlig aus der Bahn geworfen wurde, weiter befragen können, setzt Per Clausen seinem Leben ein Ende. Als die Presse die Identität einiger Opfer enthüllt und verlauten lässt, dass es sich um Pädophile handelt, beginnt in der Öffentlichkeit eine erbarmungslose Hetzjagd gegen alle, die irgendwann einmal wegen Unzucht mit Minderjährigen in Verruf geraten sind. Organisationen werden gegründet, um sich für härtere Strafen gegen die Kinderpornographie einzusetzen, Webseiten werden ins Leben gerufen, Massenmails verschickt.
Five paedophiles executed in Denmark.
Die Überschrift der Mail ging einem direkt unter die Haut, ihr Inhalt war ein manipulierendes Sammelsurium aus Fiktion und Fakten: Um den Kinderpornographie-Export des Landes nicht zu gefährden, verschweige der Staat, dass es sich bei den fünf Hingerichteten um Pädophile handele, was aber gut zur Tatsache passé, dass Dänemark pädophile Vereinigungen und Internetseiten zulasse und sich standhaft weigere, eine bindende polizeiliche Zusammenarbeit mit den übrigen EU-Staaten einzugehen. Das Strafmaß für den sexuellen Missbrauch von Kindern sei lächerlich niedrig und wirke eher wie der Nachweis der offiziellen Akzeptanz dieses Verbrechens.“ (S. 147)
Da sich in der dänischen Bevölkerung immer mehr die Überzeugung durchsetzt, dass die hingerichteten Opfer ihre Strafe verdient haben, stoßen Simonsen und sein Team vielerorts auf taube Ohren und wenig Bereitschaft zur Mithilfe bei der Auflösung des Verbrechens. Aber auch mit der Presse und den Politikern hat die Polizei ihre Probleme …
Das Setting von „Schweinehunde“ hat eigentlich alles, was einen guten Krimi auszeichnet: einen Aufsehen erregendes Verbrechen, ein interessantes Ermittlerteam, dessen einzelne Persönlichkeiten auch Raum für private Seitenwege lassen und ein auch gesellschaftlich brisantes Thema. Doch das über 500 Seiten starke Buch schwächelt gleich auf mehreren Ebenen: Nicht nur die allzu trockene Sprache, die keine Empathie weder für die Handlung noch die Figuren aufkommen lässt, verleidet den Lesegenuss, auch die frühzeitige Erkenntnis über den Täter und seinen Hintergrund nehmen die Spannung weg. Die Handlung konzentriert sich zunehmend darauf, Kinderpornographie und Pädophilie und die zu laschen Strafen in Dänemark zu thematisieren, worauf wenig glaubwürdig ein Szenario beschrieben wird, in dem die Polizei ohnmächtig gegen eine zur Selbstjustiz aufgehetzte Öffentlichkeit ankämpft. Zum Ende hin nimmt das etwas zu langatmige Krimidrama zum Glück wieder etwas Fahrt auf und kommt auch sprachlich geschliffener daher, so dass die Hoffnung genährt wird, dass die Fortsetzungen etwas spannender und interessanter zu lesen sind. Vom „besten dänischen Kriminalroman seit langem“, wie das K. Dagblad meint, ist  so noch weit entfernt.

Olen Steinhauer – „Last Exit“

Donnerstag, 9. Juni 2011

(Heyne, 543 S., HC)
Als der Journalist Henry Gray einen Brief des verstorbenen CIA-Agenten Thomas Grainger erhält, in dem dieser von seiner Abteilung und Operationen berichtet, die sich mit dem Sudan und gegen China beschäftigten, sieht er wieder Schwung in seine abgeflaute Karriere kommen. Doch bevor er sich näher mit der Story beschäftigen und sich wie von Grainger gewünscht an Milo Weaver wenden kann, wird er von Weavers Kollegen James Einner ausgeschaltet. Vier Monate später taucht Weaver in Budapest auf, um Gray im Krankenhaus zu besuchen, kann sich aber noch keinen Reim auf die Geschichte machen.
Ein paar Monate später erhält Weaver, reaktivierter Agent der CIA-Abteilung für die schmutzigsten Geschäfte, Tourismus genannt, seinen achten Auftrag, wenn möglich zwanzig Millionen Dollar zu beschaffen. Weaver beschließt, aus einem schlecht bewachten Museum in Zürich vier Gemälde zu stehlen, doch bevor er diese zu Geld machen kann, bekommt Weaver von seinem neuen Chef Alan Drummond den Auftrag, in Berlin das 15-jährige Mädchen Adriana Stanescu zu töten und die Leiche verschwinden zu lassen. Doch Weaver geht diese Operation völlig gegen sein Gewissen.
„Jeder Tourist hat eine Vergangenheit, und Alan Drummond wusste alles über die zwei Gründe, die Milo bei einem komfortableren Budget den Zugang zum Tourismus verwehrt hätten: seine Frau und seine Tochter. Drummond war natürlich klar, dass diese scheinbar so einfache Aufgabe für ihn schwerer war als das Erstürmen der iranischen Botschaft in Moskau. Offenbar hatte Milo mit seinem Verdacht richtig gelegen: Die Abteilung vertraute ihm noch immer nicht, und die bisherigen Aufträge hatten nur als Vorbereitung gedient, als dreimonatige Inkubationszeit vor seiner Wiedergeburt als Tourist. Ein langer Probelauf, der im neunten Auftrag gipfelte: ein Umschlag, der graue Himmel über Berlin und der Wunsch, lieber sich selbst auszulöschen, als diesen Job durchzuführen.“ (S. 52 f.)
Also gestaltet Weaver den Job nach seinen Vorstellungen um, lässt das Mädchen nach der Entführung durch seinen Vater Jewgeni Primakow, der innerhalb der UN eine eigene Geheimabteilung unterhält, in den Bergen verstecken. Als die Kleine aber tot aufgefunden wird, steckt Weaver mächtig in der Klemme, wird er doch für den Killer gehalten. Auf der Suche nach den Verantwortlichen verdichtet sich sein Verdacht, dass es innerhalb der Tourismus-Abteilung einen Maulwurf gibt, der die ganze Abteilung mit dem Aus bedroht. Und irgendwie wird Weaver das Gefühl nicht los, dass der amerikanische Senator Nathan Irwin etwas damit zu tun hat …
Nach „Der Tourist“ präsentiert der amerikanische, mittlerweile in Budapest lebende Schriftsteller Olen Steinhauer mit „Last Exit“ seinen zweiten Roman um den „Touristen“ Milo Weaver. Der bietet zwar weit weniger Action, als man es von James Bond oder Jason Bourne gewohnt ist, dafür vermittelt Steinhauer das Agenten-Dasein auf höchst authentisch wirkende Weise. Wie er seinen sympathischen, vielschichtigen, gewissenhaften Helden durch die Welt schickt, um Intrigen, Verrat und Verstrickungen aufzudecken, ist nicht nur packend geschrieben, sondern verleiht den Hauptfiguren sehr menschliche Züge. Allerdings bleibt noch die schwierige Beziehung zu Milo Weavers Frau und Tochter näher zu beleuchten. Aber dafür bieten ja die hoffentlich geplanten Fortsetzungen noch reichlich Gelegenheit …
Lesen Sie im Buch: „Last Exit“

David Baldacci – Camel Club 4: – „Die Jäger"

Donnerstag, 26. Mai 2011

(Lübbe, 494 S., HC)
Nachdem Oliver Stone alias John Carr die Villa des früheren Geheimdienstchef Carter Gray in die Luft gesprengt hatte, sprang er von der Klippe in die Chesapeake Bay und befindet sich seitdem auf der Flucht. Er macht sich immer noch Vorwürfe, für den Tod seines Freundes Milton Farb verantwortlich gewesen zu sein. Wie Carr, die Trickbetrügerin Annabelle Conroy, Kongressbibliothekar Caleb Shaw und Hafenarbeiter Reuben Rhodes gehörte das Computer-Genie Farb dem illustren „Camel Club“ an, einer Gruppe von Verschwörungstheoretikern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, der Wahrheit zu dienen und sie ans Licht zu bringen.
CIA-Agent Joe Knox wird von seinem Chef General Macklin Hayes beauftragt, John Carr ausfindig zu machen, nachdem Carter Gray in seinem Auto und Senator Roger Simpson in dessen Haus erschossen wurden. Die Spur führt Knox direkt zur inzwischen aufgelösten Abteilung 666 der CIA, zuständig für „politische Destabilisierung“, und damit zu Oliver Stone.
Dieser muss nach einer Schlägerei im Zug nach New Orleans mit den jugendlichen Beteiligten an der nächsten Station aussteigen und landet so in dem kleinen Bergwerksstädtchen Divine, wo einige seltsame Todesfälle unter Jugendlichen Stone dazu anregen, diese etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch damit bringt er sich einmal selbst in tödliche Gefahr. Währenddessen findet Knox heraus, dass John Carr einst ein gefeierter Kriegsheld gewesen ist, dem ausgerechnet Knox‘ eigener Chef Hayes damals aus unerfindlichen Gründen die Medal of Honor verweigerte und auch noch seine Familie tötete. Je näher er Carr/Stone kommt, desto mehr beschleicht Knox das Gefühl, dass Hayes ein falsches Spiel mit ihm und dem Gejagten spielt.
„Weil Carr aussteigen wollte, hatte man seine Familie ausgelöscht. Knox konnte kaum glauben, dass seine Regierung einen Mann, der ihr so viele Jahre treu gedient hatte, so mies behandelte, doch in der Realität konnte es sich durchaus so abgespielt haben.
Knox schlenderte in sein mit Bücherregalen gesäumtes Arbeitszimmer. Er jagte einen Mann, den die eigene Regierung hintergangen hatte. Gewiss, es gab überzeugende Hinweise darauf, dass Carr sowohl Gray als auch Simpson getötet hatte. Knox blickte auf das Foto seiner Frau, das an einer Wand hing. Was hätte er getan, hätte er erfahren, dass sie von diesen beiden Männern ermordet worden sei? Er setzte sich in einen Sessel, starrte auf den Fußboden und gestand sich ein, dass er vermutlich genauso wie John Carr gehandelt hätte.“ (S. 220 f.)
In Divine kommt nicht nur Oliver Stone einer Serie von bislang ungeklärten Morden auf die Spur, sondern auch einem Drogenkartell, das für den Wohlstand in der kleinen Bergwerkgemeinde verantwortlich ist. Doch auch Knox, Hayes und Stones Freunde vom Camel Club sind auf dem Weg nach Divine, wo Knox und Stone längst ihr Todesurteil erwarten.
Mit dem vierten Band der „Camel Club“-Reihe schlägt David Baldacci von Beginn an ein hohes Tempo an, setzt er doch nahtlos an das furiose Finale von „Die Spieler“ an. Oliver Stone, der seit Jahren den Wechsel vom Jäger zum Gejagten vollzieht und sich überall, wo er incognito auftaucht, für Gerechtigkeit sorgen will, hat es einmal mehr mit Schwerstverbrechen auf höchster Regierungsebene zu tun, darf sich aber wieder auf seine treuen Freunde verlassen, die ihn aus der letztlich lebensbedrohlichen Situation befreien. Bis dahin bietet „Die Jäger“ Spannung und Action satt. Die Figuren sind vielleicht etwas eindimensional gezeichnet, sowohl die Guten als auch die Bösen, doch das tut dem Lesevergnügen absolut keinen Abbruch.
Lesen Sie im Buch: Baldacci, David - Die Jäger

Cormac McCarthy – „Kein Land für alte Männer“

Freitag, 20. Mai 2011

(Rowohlt, 284 S., HC)
Als sich Hobbyjäger Llewelyn Moss im vulkanischen Geröll der texanischen Wüste nach Antilopen Ausschau hält, entdeckt er durch sein Fernglas drei Pick-ups und Broncos auf dem Schwemmland, die darum verstreuten Männer schienen tot zu sein. Moss untersucht die Fahrzeuge, findet zunächst eine Wagenladung mit Drogen, dann neben all den Toten auch einen schwerverletzten Mann, der um Wasser bittet. Doch Moss geht der blutigen Spur eines weiteren Mannes nach, der es allerdings nicht weit geschafft hat. Moss nimmt aber den Koffer mit über zwei Millionen Dollar an sich und macht sich auf den Weg nach Hause, wo seine 19-jährige Frau Carla Jean auf sich wartet und er den Koffer versteckt.
Nachts kommt Moss auf die nicht so clevere Idee, dem Mann doch noch Wasser zu bringen, denn auf nun nehmen die schwer bewaffneten Männer, die um ihr Geld betrogen worden sind, Moss mit einem Kugelhagel in Empfang. Lew kann zwar entkommen, weiß aber, dass er sich von nun sein Leben lang auf der Flucht befinden wird, denn eins ist sicher: Die Gangster werden nicht eher Ruhe geben, bis sie ihr Geld zurück haben. Dabei ahnt Moss nicht einmal, dass ihm mit Chigurh ein stoischer Killer auf der Spur ist, der wahlweise mit seinem Bolzenschussgerät oder anderen schweren Waffen, die er seinen Gegnern abnimmt, alles ausmerzt, was seiner Mission im Wege stehen könnte. Allein der zuständige County-Sheriff Bell weiß, in welcher Gefahr sich Moss befindet, und will ihn finden, bevor Chigurh oder die Behörden Moss in die Zange nehmen.
Als Moss im Krankenhaus seine Wunden nach seiner ersten Begegnung mit Chigurh behandeln lässt, bekommt er Besuch von Wells, einem weiteren Killer, der Chigurh außer Gefecht setzen und das Geld wieder zurückbringen soll. Vergeblich versucht er Moss vor Augen zu führen, was Chigurh für ein Typ ist.
„Sie können keinen Deal mit ihm machen. Ich sage es Ihnen nochmal. Selbst wenn Sie ihm das Geld gäben, er würde sie trotzdem umbringen. Auf diesem Planeten lebt kein Mensch, der jemals auch nur ein unfreundliches Wort zu ihm gesagt hat. Sie sind alle tot. Das sind keine sehr sonnigen Aussichten. Er ist ein eigenartiger Mann. Man könnte sogar sagen, er hat Prinzipien. Prinzipien, die über Geld oder Drogen oder dergleichen hinausgehen.
Warum erzählen Sie mir überhaupt von ihm?
Sie haben nach ihm gefragt.
Und warum geben Sie mir Antwort?
Wahrscheinlich, weil ich glaube, dass es mir meinen Job erleichtern würde, wenn ich Sie dazu bringen könnte zu begreifen, in welcher Lage Sie sind. Ich weiß nichts über Sie. Aber ich weiß, dass Sie ihm nicht gewachsen sind. Sie glauben, Sie sind es. Aber Sie sind es nicht.“ (S. 141)
Tatsächlich sind weder Wells noch Lew dem gnadenlosen Killer gewachsen, der mit stoischer Beharrlichkeit seine Mission zu erfüllen gedenkt. Tatenlos muss der von seinen Vietnam-Erinnerungen noch immer mit schlechtem Gewissen geplagte Sheriff Bell verfolgen, wie Chigurgh seine Blutspur durch Texas zieht. Ihm ist ebenso klar wie jedem anderen Beteiligten, dass es für niemanden Erlösung gibt.
Der für sein apokalyptisches Road Movie in Romanform „Die Straße“ mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Autor Cormac McCarthy („All die schönen Pferde“) beschreibt in den von den Coen-Brüdern meisterhaft verfilmten Werk „Kein Land für alte Männer“, wie selbst die abgeschiedensten Wüstenregionen in Amerikas Süden von hässlicher Gewalt, Geldgier und Mordlust verdorben wird. Vor allem in den immer wieder eingeschobenen, von Selbstvorwürfen und Ratlosigkeit triefenden Gedanken-Monologen des Sheriffs wird deutlich, dass es kein Heilmittel gegen die durch den Menschen vorangetriebene Zerstörung gibt. So muss er als fassungsloser Beobachter hinnehmen, wie Unschuldige entweder per Gerichtsbeschluss oder durch die willkürliche Lust eines Killers dem Tode geweiht sind.
Cormac McCarthy kennt nur Punkt und Komma als Satzzeichen, Gänsefüßchen für wörtliche Rede sind ihm fremd. Insofern bedarf es einer gewissen Gewöhnung, sich mit seiner Sprache anzufreunden, aber die schnörkellosen, doch poetischen Beschreibungen dieser ans Groteske grenzenden Katz-und-Maus-Jagd, bei der es keine Gewinner gibt, fasziniert mit magischer Sogkraft.
Lesen Sie im Buch "Kein Land für alte Männer"

David Benioff – „Stadt der Diebe“

Dienstag, 17. Mai 2011

(Heyne, 384 S., Tb.)
Der siebzehnjährige Lew erlebt in Piter des Jahres 1942 eine Zeit großer Entbehrungen. Der vorher schon in Armut lebende Junge muss erleben, wie alles, was zu Kleinholz gemacht werden konnte, bereits in Ofen verfeuert wurde, sämtliche Haustiere und sogar Tauben waren geschlachtet. Als Teil des Feuerlöschtrupps verbringt der Junge viel Zeit auf dem Dach seines Wohnblocks, wo er eines Abends beobachtet, wie ein deutscher Soldat tot vom Himmel fällt. Doch gerade als Lew und seine Freunde den Toten seiner Habseligkeiten berauben, wird der kleine Trupp von Soldaten überrascht, die in der Regel kurzen Prozess mit Deserteuren und Plünderern machen. Weil Lew seiner angebeteten Vera bei der Flucht hilft, wird er selbst gefangen genommen und ins Kresty-Gefängnis in eine Zelle mit dem mutmaßlichen Deserteur Kolja gesperrt.
Die beiden jungen Männer erhalten vom Oberst eine Gnadenfrist: Wenn sie bis zum nächsten Donnerstag ein Dutzend Eier für die Hochzeitstorte seiner Tochter besorgen können, kommen sie mit dem Leben davon und erhalten ihre Freiheit zurück. Allerdings müssen sie bald feststellen, dass in Leningrad nirgendwo Eier aufzutreiben sind, weshalb Kolja vorschlägt, ins fünfzig Kilometer entfernte Mga zu gehen, das allerdings hinter den deutschen Linien liegt.
„Schlafen war vernünftiger, als nach Mga zu marschieren – wo die Deutschen zu Tausenden warteten – und nach Hühnern zu suchen. Alles war vernünftiger als das. Aber so vehement ich auch gegen diese absurde Idee protestierte, wusste ich doch von Anfang an, dass ich mitkommen würde. Kolja hatte recht: In Leningrad gab es keine Eier. Aber das war nicht der einzige Grund mitzukommen. Kolja war ein Aufschneider, ein Besserwisser, ein Juden schindender Kosak, aber sein Selbstbewusstsein war so absolut und ungetrübt, dass es schon nicht mehr wie Arroganz wirkte, sondern lediglich wie das Merkmal eines Mannes, der mit seinem heroischen Schicksal im Einklang war. So hatte ich mir meine Abenteuer nicht vorgestellt – ich wollte der Hauptdarsteller sein, nicht die Witzfigur am Rand -, doch die Realität scherte sich von Beginn an nicht um meine Wünsche, sondern gab mir einen Körper, der bestenfalls geeignet war, in einer Bibliothek Bücher zu sortieren, und träufelte mir so viel Angst in die Adern, dass ich mich nur im Treppenhaus zusammenkauern konnte, wenn es brenzlig wurde. Vielleicht würden meine Arme und Beine eines Tages kräftige Muskeln entwickeln und die Angst ablaufen wie schmutziges Badewasser. Ich wünschte, ich hätte daran geglaubt, doch das tat ich nicht. Ich war mit dem Pessimismus der Russen wie der Juden gestraft, zwei der schwermütigsten Völker der Welt. Aber auch wenn keine Größe in mir steckte, so hatte ich doch vielleicht das Talent, Größe in anderen zu erkennen, sogar in denen, die mich am meisten in Rage brachten.“ (S. 148 f.)
Der 1970 geborene Autor David Benioff ist ein begnadeter Autor. Bereits sein 2002 veröffentlichter Debütroman „25 Stunden“ wurde erfolgreich von Spike Lee verfilmt, und seither ist Benioffs Talent, filmreife Geschichten zu schreiben, in Hollywood gern angenommen. Er verfasste die Drehbücher zu Khaled Hosseinis Bestseller-Verfilmung „Der Drachenläufer“, zu Wolfgang Petersens „Troja“ und zu „X-Men Origins: Wolverine“, verfilmte sein Drehbuch zu „When The Nines Roll Over“ im Jahre 2006 sogar selbst. Mit „Stadt der Diebe“ hat Benioff, wie er im Vorwort schreibt, die eindrucksvolle Geschichte seines Vaters niedergeschrieben und sie auf seine eigene Art und Weise mit sehr lebendigen Charakteren ausgestattet, die in die unmöglichsten Situationen geraten. Bei allen Entbehrungen, die der Zweite Weltkrieg zum Ende hin für die Russen mit sich brachte, ist es Benioff gelungen, die Menschlichkeit, Warmherzigkeit und den Humor in seiner Geschichte hervorzuheben und so ein Meisterwerk zu schaffen, das man gar nicht mehr aus der Hand legen mag.
Lesen Sie im Buch: Benioff, David - Stadt der Diebe

Carlos Ruiz Zafón – „Marina“

Samstag, 30. April 2011

(S. Fischer, 350 S., HC)
Der fünfzehnjährige Óscar Drai lebt in einem Internat auf den Hügeln über Barcelona. Die drei Stunden Freizeit bis zum Abendbrot nutzt der aufgeweckte Junge, um die Stadt zu erkunden und durch die Gassen zu steifen. Vor allem das Viertel Sarriá mit seinen oft verlassenen Herrschaftsvillen hat es ihm angetan. Als er eines Nachmittags im September 1979 eine der Jugendstilvillen betritt, ist Óscar wie hypnotisiert von einer Musik, die ein Grammophon spielt, und als er eine Gestalt im Sessel wahrnimmt, flieht er panisch aus dem Haus, noch immer die defekte Uhr in der Hand haltend, die er neben dem Grammophon liegen sah.
Nach einigen Tagen plagen Óscar jedoch Gewissensbisse, und er will die mit einer geheimnisvollen Gravur versehene Uhr zurückbringen. Dabei lernt er Marina kennen, die in etwas gleichaltrige Tochter von Germán, dem die Uhr zu gehören scheint. Fortan streifen Óscar und Marina gemeinsam durch Barcelonas Straßen und entdecken in einem Gewächshaus unvollständige Marionetten und ein Fotoalbum mit missgebildeten Menschen. Óscar verbringt immer mehr Zeit mit Vater und Tochter, erfährt von ihrer tragischen Lebensgeschichte, die ihn nur noch mehr an die beiden bindet.
„Oft studierte ich Germán und Marina, wenn sie mich nicht beachteten. Spielend, lesend oder einander schweigend am Schachbrett gegenübersitzend. Das unsichtbare Band zwischen ihnen, diese abgeschiedene Welt, die sich fern von allem und allen erreichtet hatten, war ein wunderbarer Zauber. Eine Fata Morgana, die ich manchmal mit meiner Gegenwart zu zerstören fürchtete. Es gab Tage, da ich mich auf dem Rückweg ins Internat als glücklichsten Menschen der Welt empfand, da ich diese Welt teilen durfte.“ (S. 88)
Óscar wird noch tiefer in die Geschichte ihrer Familie hineingezogen, als er am Bahnhof einen Brief jener schwarzen Dame überreicht bekommt, die Marina und Óscar bereits auf dem Friedhof von Sarriá entdeckt haben. So kommen sie einem Mann auf die Spur, dessen Geschichte von hehren Träumen, einer großen Liebe, Luxus und Reichtum, Intrigen, Schmerz, Krankheit und Verlust geprägt ist. Je mehr sie den Hinweisen folgen, die ihnen durch verschiedene Quellen zugänglich gemacht werden, gerät vor allem Óscar in lebensbedrohliche Situationen und wird selbst mit Krankheit, Tod und Verlust konfrontiert.
Bevor der spanische Schriftsteller Carlos Ruiz Zafón mit „Die Schatten des Windes“ weltweit die Bestsellerlisten eroberte, hat er 1999 mit „Marina“ seinen – so der Autor - „persönlichsten“ Roman veröffentlicht, der nun erstmals in der Form das Licht der Öffentlichkeit erblickt, wie sich Zafón das immer gewünscht hat. Die Geschichte, die aus der Sicht eines fünfzehnjährigen Jungen erzählt wird, ist voller Wunder und Gefahren, lehrt den jungen Helden aber auch die Schätze von Freundschaft und einer Art erster Liebe. All das hat Zafón in der ihm eigenen poetischen Sprache niedergeschrieben, die das Lesen zu einem kurzweiligen Vergnügen macht. Vor allem die Freundschaft des Jungen zu Marina und ihrem Vater ist eindrucksvoll gelungen, dagegen wirkt die Detektivgeschichte, in die die beiden Teenager geraten, etwas zu dramatisch und phantastisch.
Lesen Sie im Buch - "Marina"

Oliver Wnuk - „Wie im richtigen Film“

Mittwoch, 20. April 2011

(Krüger, 253 S., HC)
Der 33-jährige Schauspieler Jan Beckmann müht sich redlich um interessante Engagements, steht aber stets im Schatten seiner viel berühmteren Partnerin Clara Brehmer. Selbst als er bei einer Preisverleihung kurz das unwirkliche Gefühl hat, ausgezeichnet zu werden, ist es doch wieder seine 26-jährige Lebensgefährtin, die diesmal mit dem Deutschen Filmpreis geehrt wird. Frustriert kippt sich Jan unzählige Wodka-Lemon hinter die Binde und kotzt sich auf der gut gefüllten Tanzfläche die Seele aus dem Leib, was ein gefundenes Fressen nicht nur für die Boulevard-Presse ist.
Verschämt verdrückt sich Jan für einige Tage in seine Lieblingsstadt Prag, dann zu seinem Schauspieler-Freund nach Wien, um zunächst einmal Abstand von den peinlichen Geschehnissen zu gewinnen und sich dann ein paar Gedanken über sich und sein Leben zu machen.
„Als ich mit fünfzehn oder sechzehn beschloss, Schauspieler zu werden, war es mir irre wichtig, meinen Entschluss, in die ‚Kunst‘ zu gehen, durch mein Auftreten allen um mich herum möglichst anschaulich zu machen. Es waren outfitmäßig gruselige Jahre, mit schulterlangem Haar, russischem Armeemantel, weißem Künstlerschal aus Seide und zur Krönung: schwarze, kajalumrandete Augenlider.
Einige Jahre später, als ich noch in demselben viertklassigen Klaus-Kinski-Aufzug zum Schauspielvorsprechen ging, wurde ich, bevor ich überhaupt ein Wort sagen durfte, zum Abschminken auf die Toilette geschickt. Den Studienplatz hab ich bekommen. Trotzdem.
Auch wenn ich damals sicherlich das Gegenteil erreicht habe, es war mir immer extrem wichtig, dass die Leute von mir das denken, was ich wollte, dass sie denken.
Und wenn ich die eben gewonnene Auszeichnung meiner Freundin mit meinem dämlichen Neid und halbverdauten Kanapes vollkotze und mir die halbe Welt dabei zusieht, fühle ich mich abgeschminkt und beschissen zugleich. So sieht es aus, wenn ein Kontrollfreak die Kontrolle verliert.“ (S. 67 f.)
Doch nach seiner Rückkehr zu Clara und Luca geht es beruflich wieder aufwärts mit Jan. In einem Fernsehfilm darf er einen jungen Mann spielen, der an Hodenkrebs erkrankt und ganz neue Einsichten über das Leben gewinnt. Dabei ist Jans wirkliches Leben schon Lehrstunde genug. Zum einen versucht er seinen an Alzheimer erkrankten Vater im Pflegeheim zu verstehen, der in seinem Sohn stets nur seinen Vater erkennt, und die Beziehung zu Clara wird nicht einfacher, solange Jan seiner „verlorenen Familie“ nachtrauert.
Oliver Wnuk, der als Ulf Steinke in der Büro-Comedy-Serie „Stromberg“ neben Stromberg und „Ernie“ Heisterkamp für die meisten Lacher sorgt und im richtigen Leben mit der erfolgreichen Schauspielerin Yvonne Catterfield liiert ist, gewährt – so könnte man meinen – mit seinem Debütroman „Wie im richtigen Film“ intime Einblicke in sein Leben als Schauspieler und Partner einer viel prominenteren Kollegin, denn dies ist auch die Konstellation in dem natürlich sehr humorvollen, aber auch tragikomischen Buch. Dass das Geschriebene tatsächlich dem Alltag entspricht, wie ihn ein nicht ständig in den Medien präsenter Schauspieler erleben könnte, verleiht dem kurzweiligen Roman eine angenehm authentische Note, aber auch die ernsten Untertöne, die immer wieder anklingen, wenn Jan Beckmann seinen Vater besucht und seine eigene verkorkste Familiengeschichte aufzuarbeiten versucht, sorgen für überraschend tiefsinnige Unterhaltung, die souverän die Balance zwischen Witz und Ernsthaftigkeit bewahrt.
Lesen Sie im Buch - "Wie im richtigen Film"

Paulo Coelho - „Schutzengel“

Dienstag, 12. April 2011

(Diogenes, 199 S., HC)
Als Paulo seinen Freund und Mentor J. zum Flughafen begleitet, macht dieser Paulo darauf aufmerksam, dass er bereits zwei Chancen vertan habe, seinen Traum zu leben. Da es schon immer sein Traum gewesen sei, vierzig Tage in einer Wüste zu verbringen, macht sich Paulo im September 1988 mit seiner Frau Chris auf den Weg in die Mojave-Wüste, wo J. jemanden kennt, der Paulo bei seiner Mission, das zu akzeptieren, was er liebt, helfen könne. Chris ist bei dieser Reise allerdings nicht wohl zumute, weil Paulo immer alles stehen und liegen lässt, um auf dem Weg der Magie weiterzukommen. Als sie nach einer anstrengenden Reise schließlich nach Borrego Springs gelangen, lernen sie Took kennen, einen jungen Bewahrer magischer Traditionen, mit dem sie zunächst über alles sprechen, nur nicht über die Engel, die Paulo zu finden hofft.
 Aber Paulo lernt etwas über die Walküren, die ihm helfen sollen, seinen Engel zu finden, über das ‚zweite Bewusstsein‘ und schließlich über das Channeling. Kompliziert wird es allerdings, als Paulo mit Vahalla eine attraktive Walküre kennenlernt, die die Eifersucht seiner Frau heraufbeschwört. Nun beginnt auch Chris mit ihrer magischen Suche und lernt, auch mit ihrem Engel zu sprechen.
„Alle Kinder sprachen mit ihrem Schutzengel – bis der berühmte Tag kam, an dem die Eltern bemerkten, dass das Kind mit Leuten sprach, die ‚es nicht gab‘. Das beunruhigte sie, sie gaben einem Zuviel an kindlicher Phantasie die Schuld daran, zogen Pädagogen und Psychologen zu Rate und kamen zu dem Schluss, dass das Kind schleunigst damit aufhören sollte.
Die Eltern betonten ihren Kindern gegenüber ständig, dass es diese unsichtbaren Freunde nicht wirklich gab – vielleicht wussten sie nicht mehr, dass sie selber auch einmal mit den Engeln gesprochen hatten. Oder vielleicht dachten sie, dass sie in einer Welt lebten, in der es keinen Platz für Engel gab. Enttäuscht kehrten die Engel dann zu Gott zurück, weil sie wussten, dass sie den Menschen ihre Gegenwart nicht aufdrängen durften.“ (S. 126 f.)
In der Chronologie von Paulo Coelhos Werk ist „Schutzengel“ unmittelbar nach seinem berühmt gewordenen „Der Alchimist“ entstanden. Dass es erst veröffentlicht wird, verwundert deshalb nicht, weil es vom Leser nicht nur eine gewisse Offenheit für magisch-religiöse Inhalte abverlangt, sondern weil „Schutzengel“ dermaßen esoterisch getränkt ist, dass es auch bei den weltoffensten Menschen viel Geduld und Nachsicht einfordert. Wenn auf jeder Seite fünfmal ein „Engel“ erwähnt wird, ödet das auf Dauer auch jene an, die an Engel glauben. Denn außer der Suche nach Paulos Engel in der Mojave-Wüste und all den theoretischen Überlegungen zum Thema bietet der knapp 200-seitige Band nicht viel. Wer der Engel-Thematik überhaupt nichts abgewinnen kann, sollte überhaupt die Finger von diesem esoterischen Selbstfindungsbrei lassen.
Lesen Sie im Buch "Schutzengel"

Kathy Reichs (Tempe Brennan: 11) - „Der Tod kommt wie gerufen“

(Blessing, 352 S., HC)
Die forensische Anthropologin Temperance Deasee Brennan versucht sich während einer gähnend langweiligen Fakultätssitzung am Campus der Universität von Charlotte, North Carolina, an wenig inspirierten autobiografischen Versuchen, als sie einen wichtigen Anruf von Tim Larabee erhält, den Leichenbeschauer des Mecklenburg County und Direktor der entsprechenden pathologischen Einrichtung in Charlotte. Die Jungs vom Morddezernat haben in einer unterirdischen Kammer Knochenreste gefunden, die in Zusammenhang mit einer rituellen Tötung zu stehen scheinen. Außerdem hat Brennan eine Wasserleiche aus dem Catawba River auf dem Tisch liegen.
Zusammen mit Detective Erskine Slidell vom Morddezernat des Charlotte-Mecklenburg PD versucht sie nicht nur, über die verschiedenen Sekten wie Santería, Voodoo, Wicca und Brujería zu recherchieren, sondern auch die Öffentlichkeit zu beruhigen, die durch die Sensationsberichterstattung in den Medien ziemlich aufgebracht ist. Während ihrer Ermittlungen stoßen sie auf einen Grabraub auf dem Elmwood Friedhof.
„Ich las die Inschrift. Mary Norcott London war 1919 gestorben. Sie war vierundzwanzig. Das Denkmal war von ihrem Ehemann, Edwin Thomas Cansler, errichtet worden. Ich dachte an den Schädel in meinem Labor. Gehörte er wirklich Susan Clover Redmon?
Mary war Edwins Frau gewesen. Sie war so jung gestorben. Was für ein Mensch war Susan gewesen? Was für ein Unglück hatte ihr Leben derart verkürzt? Ihr Glück beendet oder ihr Leiden, ihre Hoffnungen oder Ängste?
Hatten trauernde Eltern Susans Sarg voller Liebe ihrem Grab übergeben? Dachten sie an ein Mädchen, das Malbücher mit Buntstiften ausfüllte, das mit seinem brandneuen Schulranzen in den Bus stieg? Hatten sie geweint, voller Kummer darüber, dass das Versprechen ihrer Zukunft nie in Erfüllung gehen würde? Oder war es ein Ehemann gewesen, der ihren Tod betrauert hatte? Geschwister?“ (S. 180 f.)
Die Suche nach den Tätern gestaltet sich in der Stimmung verbreiteter Angst vor dem Treiben unbekannter Sekten schwieriger als erwartet. Doch ausgerechnet das T-Shirt ihres Ex- oder Noch-Geliebten Ryan bringt Tempe auf die richtige Spur …
Kathy Reichs weiß als Professorin für Soziologie und Anthropologie, die auch als forensische Anthropologin arbeitet, worüber sie schreibt. Allerdings lässt sie auch kaum eine Möglichkeit aus, ihre Leserschaft mit ihrem Wissen zu beeindrucken. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kolleginnen wie Tess Gerritsen oder Patricia Cornwell folgt Reichs nicht straff den Konventionen des Genres, sondern unterbricht den Handlungsverlauf und so auch den Spannungsaufbau immer wieder mit seitenlangen Ausführungen über die theoretischen Grundlagen ihres Fachgebiets oder – wie in ihrem elften Fall - auch über Charlottes Geschichte und die verschiedenen synkretischen Religionen unterbricht. Das ist auf der einen Seite natürlich sehr lehrreich, oft aber auch übertrieben ausführlich und so spannungshemmend. Wie Tempe zum Schluss den Fall löst, ist zwar spektakulär, aber auch ziemlich konstruiert.
Lesen Sie im Buch: „Der Tod kommt wie gerufen“

Jeffery Deaver - „Nachtschrei“

Freitag, 8. April 2011

(Blanvalet, 509 S., Tb.)
Die 34-jährige Anwältin Emma Feldman und ihr zwei Jahre ältere Mann, der bei der Stadt angestellte Sozialarbeiter Steven, machen es sich gerade mit ein paar Martinis in ihrem abgelegenen Haus am Lake Mondac gemütlich, als sie von zwei Männern überfallen werden. Steven kann gerade noch den Notruf betätigen und „Dies …“ sagen, dann ist die Leitung tot.
Tom Dahl, Sheriff in Kennesha County, Wisconsin, schickt die Polizistin Brynn McKenzie zur Überprüfung und entdeckt das erschossene Ehepaar und einen Wagen mit zerschossenen Reifen. Allerdings haben die beiden Gangster offensichtlich nicht mit Michelle gerechnet, Emmas Freundin aus Chicago, die übers Wochenende zu Besuch da war und einen der Männer mit einem Schuss in den Arm überraschen konnte, bevor sie selbst in den Wald fliehen konnte. Doch auch Brynn wird von den Männern überrascht und kann sich gerade noch aus ihrem im See versenkten Auto in den Wald retten. Als sich die beiden Frauen finden, müssen sie sich schnell einen Plan überlegen, wie sie ihren Häschern entkommen können. Denn Hart und Lewis geben erst Ruhe, wenn sie ihre Zeugeninnen beseitigt haben …
„Nein, Hart hatte nie vorgehabt, in die Stadt zurückzukehren, ohne vorher diese beiden Frauen auszuschalten, auch wenn es die ganze Nacht dauern sollte. Und notfalls auch noch den ganzen nächsten Tag, obwohl es in dieser Gegend dann von Cops und Sanitätern nur so wimmeln würde.
Ja, er wollte Michelle tot sehen, aber sie besaß eine niedrigere Priorität als die Polizistin. Das war die Person, die er auf jeden Fall umbringen musste. Sie stellte eine echte Bedrohung dar. Hart konnte sie nicht vergessen. Wie sie neben ihrem Wagen stand. Einfach dastand und auf ihn wartete. Ihr Gesichtsausdruck, der plötzlich zu besagen schien: Ich hab dich, was eventuell nur seine Einbildung gewesen war, wenngleich er das bezweifelte. Wie eine Jägerin, die genau den richtigen Moment für den Blattschuss abpasst. Wie Hart selbst.“ (S. 100)
Doch während der Jagd auf die beiden Frauen durchkämmt auch die Polizei und Brynns Mann Graham den Wald. Während der Katz-und-Maus-Jagd müssen die Beteiligten allerdings auch feststellen, dass die Motive und Identitäten längst nicht so klar sind, wie zunächst angenommen …
Jenseits seiner populären Reihe um den querschnittsgelähmten Ermittler Lincoln Rhyme hat Bestseller-Autor Jeffery Deaver mit „Nachtschrei“ einen packenden Thriller geschrieben, der seine Spannung nur zum Teil aus den verzweifelten Rettungsversuchen der beiden Frauen vor ihren vermeintlichen Attentätern bezieht. So richtig verwirrend wird es nämlich erst, als das Motiv für die Morde an den Feldmans untersucht wird. Hier spielt Deaver geschickt mit den Erwartungen seiner Leser und den Konventionen des Genres. Etliche Wendungen zum Schluss hin sorgen hier für ein turbulentes, filmreifes Finale.

Mittwoch, 30. März 2011

(Heyne, 528 S., Tb.)
Im Boston des Jahres 1962 stehen die Zeichen auf Neuanfang. Große Investitionen sollen getätigt werden, um das heruntergekommene West End zu sanieren und die Weichen für das „Neue Boston“ zu stellen, das sich gern als Zentrum für Manager, Forscher und Intellektuelle etablieren möchte. Doch nach dem Attentat auf John F. Kennedy geht die Angst auch in Boston um. Dreizehn zu Tode strangulierte, teilweise vergewaltigte und verstümmelte Frauen werden dem sogenannten „Boston Strangler“ zugeschrieben, den das Boston Police Department einfach nicht stoppen zu können scheint.
Deshalb setzt Generalstaatsanwalt Alvan Byron ein All-Star-Team ein, dem auch der Staatsanwalt Michael Daley aus dem Amt für Enteignung und Gemeinwohl angehören soll. Noch ahnt er nicht, dass auch seine Brüder mit dem Fall verbunden sind. Der Polizist Joe Daley ist gerade erst einem Fernsehbericht zum Opfer gefallen, als er bei einer Reportage über illegale Wetten dabei zu sehen ist, wie er aus einem der illegalen Wettannahmestellen herauskommt, und Ricky Daley ist mit der „Observer“-Reporterin Amy Ryan liiert, die mit ihrer Kollegin auf die Story des Würgers von Boston angesetzt wird.
„Sie spürte, dass die Stimmung in der Stadt mit ihrer Würger-Hysterie und der ganzen selbstsüchtigen, instinktiven Angst, die alle erfasst hatte, auch etwas Erhellendes hatte. Was hier in Boston passierte, war wie eine Offenbarung: Der Würger hatte allen klargemacht, dass es inmitten der Herde keine Sicherheit gab. Jeder einzelne war verwundbar. Der Tod konnte einen wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen, genauso wie die Kugel von Lee Harvey Oswald.“ (S. 75)
Schon bei ihren ersten Recherchen wird Amy klar, dass in den Ermittlungen gravierende Fehler begangen wurden. Auffällig ist vor allem der Umstand, dass die Morde nicht nur einem Muster folgen, doch die Polizei ist stets von nur einem Täter ausgegangen.
Doch die Würger-Morde bilden nur den roten Faden in „Strangler“. Viel intensiver wird die Familiengeschichte der Daleys aufgearbeitet, die zunächst nur den Tod des Vaters zu betrauern hat, doch in den Wirren der Kämpfe zwischen Polizei, Stadtplanern und organisiertem Verbrechen haben die Daleys bald weitere Opfer zu beklagen. William Landay wählt die damals sensationslüstern von der Presse ausgeschlachteten „Boston Strangler“-Morde als Aufhänger für ein ausgefeiltes gesellschaftliches Portrait, in dem eine Polizistenfamilie nicht immer allein auf der Seite der Guten steht.   
Landay nimmt sich viel Zeit, seine Figuren zu portraitieren, ihre Gewissensbisse, finanziellen Sorgen, persönlichen Ängste und Verquickungen mit Familienangehörigen, Freunden, - teilweise verhassten –Kollegen und Partnern zu schildern. Herausgekommen ist dabei kein konventioneller Serienmörder-Thriller à la James Patterson, Kathy Reichs, Patricia Cornwell oder Cody McFadyen, sondern eine atmosphärisch dichte Familiengeschichte, in der alle Beteiligten für ihre moralischen Verfehlungen einen hohen Preis zahlen müssen.

 

 

William Landay - „Jagdrevier“

Donnerstag, 24. März 2011

(Heyne, 526 S., Tb.)
Bei einer Drogenrazzia im Bostoner Viertel Mission Flats unter der Leitung der beiden Polizisten Artie Trudell und Julio Vega im Jahre 1987 soll ein Versteck der berüchtigten Gang Mission Posse ausgehoben werden, doch bei der Aktion wird Trudell tödlich verletzt. Zehn Jahre später entdeckt Benjamin Truman, Polizeichef im beschaulichen Versailles, Maine, bei einer Routinestreife am Lake Mattaquisett in einer Hütte die Leiche des Bostoner Staatsanwalts Robert M. Danziger.
Das FBI hat sofort Harold Braxton im Visier, den Anführer der Mission Posse, der auch für den Mord an Trudell verantwortlich gemacht wird. Truman, der noch nie mit einem Mord zu tun hatte, ist fasziniert von dem Fall und macht sich mit dem pensionierten Detective John Kelly auf den Weg nach Boston, um dort auf eigene Faust zu ermitteln. Truman lernt nicht nur Kellys attraktive Tochter Caroline kennen, die als Bezirksstaatsanwältin in Boston arbeitet, sondern auch Detective Martin Gittens, der über gute Kontakte im Viertel verfügt. Wie Truman den Akten in Danzigers Büro entnehmen kann, wollte dieser den Fall Trudell wieder aufrollen, wobei ein Informant namens „Raul“ eine Rolle spielt.
„Der Fall Trudell mit all seinen verborgenen Taten und geheimen Motiven lag klar vor mir. Ich wusste, dass Raul nicht existierte – zumindest nicht der Raul, von dem im Durchsuchungsbeschluss die Rede war. Detective Julio Vega hatte Raul mit besten Absichten erfunden und benutzte ihn, um sich von Richtern Durchsuchungsbeschlüsse zu beschaffen.
Die Gerichte hatten von Vega Besseres verlangt als die Junkies und Spitzel, die ihn mit Informationen von der Straße fütterten. Also hatte Vega den Informanten erfunden, der alle Informanten überflüssig machte, ein Orakel der Straße, dessen Glaubwürdigkeit es nur im Traum eines Richters geben konnte. Und dann geriet alles außer Kontrolle. Mit einem Schuss hatte Braxton nicht nur Vegas Partner ermordet, sondern auch den ganzen Schwindel entlarvt. Er verwandelte einen erschwindelten Routine-Durchsuchungsbeschluss in einen Prozess. Und er verwandelte Julio Vega von einem unscheinbaren, gewöhnlichen Polizisten in einen stümpernden, lügenden Schurken, dessen Gesicht die Titelseite von USA Today zierte. So kam Harold Braxton mit dem Mord an Artie Trudell davon.“ (S. 225f.)
Doch so einfach liegt der Fall dann doch nicht, wie Truman bald feststellen muss. Auf der Suche nach dem geheimnisvollen Informanten stößt der Polizeichef aus Maine auf immer neue Aussagen und Indizien, bis er sogar selbst ins Visier der Ermittlungen gerät.
William Landay hat mit seinem Debüt einen atmosphärisch dichten Roman in bester Südstaaten-Thriller-Tradition eines Dennis Lehane und John Grisham geschaffen. So wie der Icherzähler Truman mit seinen Ermittlungen stets neue Richtungen einschlägt und bald nicht mehr sagen kann, wem er noch vertrauen kann, wird auch der Leser beständig an der Nase herumgeführt. Bis zur überraschenden Auflösung des Ganzen schildert Landay mit viel Liebe zum Detail und hervorragenden Figurenschilderungen die eigenwillige Bande zwischen Polizisten, Staatsanwälten, Dealern und Informanten, aber mehr als eine Ahnung, wie die Zusammenhänge tatsächlich aussehen, bekommt der Leser über lange Zeit nicht vermittelt. Genau das macht „Jagdrevier“ so unglaublich spannend.