Emma ist noch nicht ganz vierzig und seit achtzehn Jahren glücklich mit Olivier verheiratet, mit dem sie die drei wunderbaren Kinder Louis, Léa und Manon aufgezogen hat. Dass ihr trotzdem etwas in ihrem wohlgeordneten Leben in dem großen weißen Haus am Golfplatz von Bondues nahe Lille zu fehlen scheint, merkt sie erst beim Besuch in der Brasserie André, wo sie die Kulisse während des Hochbetriebs zur Mittagszeit an die Filme des von ihr so geschätzten Claude Sautet erinnert. Hier verliert sich ihr Blick auf dem Gesicht eines Mannes, der nicht merkt, dass er von einer Frau angesehen, augenblicklich sogar begehrt wird.
Als sie beobachtet, wie das nackte, ehrliche Gesicht des Mannes hinter einer weißen Baumwollserviette hervorkommt, ist es vorbei mit der Ruhe und dem Glück ihres bisherigen Lebens, ist ihr Dasein urplötzlich vom Feuer des Verlangens erfüllt.
An diesem ersten Tag hat er sie nicht mal bemerkt, später finden sich ihre Blicke, doch es vergehen ganze drei Wochen, bis sich Emma an den gerade freigewordenen Nachbartisch des Mannes setzt und sie sich einander vorstellen. Emma erfährt, dass das Objekt ihrer Begierde Alexandre heißt, ebenfalls verheiratet ist, aber keine Kinder hat – und seit drei Wochen an sie denkt. Beide sind sich sicher, ihr bisheriges Leben aufzugeben, zusammen wegzugehen, miteinander etwas Neues zu beginnen. Emmas beste Freundin Sophie, aber auch ihre Mutter sind entsetzt, doch Emma ist sich im Klaren, dass sie keine andere Wahl hat …
„Ich glaube, dass man wegen einer kleinen inneren Leere in die Liebe stolpert. Wegen eines kaum wahrnehmbaren Freiraums. Eines nie befriedigten Hungers. Das zufällige, mal charmante, mal brutale Auftauchen der Verheißung macht diese Kluft spürbar, lässt unsere Sehnsucht aufscheinen und stellt die als sicher und endgültig angesehenen Dinge wie Heirat, Treue, Mutterschaft in Frage; dieses unerwartete, geradezu mystische Auftauchen offenbart uns sogleich uns selbst, erschreckt uns auch, verleiht uns Flügel, schürt unseren Appetit, unseren Lebenshunger.“ (S. 21f.)Grégoire Delacourt („Der Dichter der Familie“, „Die Frau, die nicht alterte“) erzählt aus der Ich-Perspektive seiner Protagonistin eine ebenso leidenschaftliche und sinnliche wie dramatische und tragische Liebesgeschichte. Den Vernünftigen – die hier durch die Stimmen von Emmas Freundin Sophie, vor allem aber durch die ihrer Mutter vertreten sind – scheint Emmas Verhalten unmöglich und sogar schändlich. Wie kann eine erwachsene Frau mit einem – auch noch schwerkranken - Mann und drei jungen Kindern aus einer Laune heraus alles hinter sich lassen, ihren Liebsten solche Schmerzen bereiten?
Delacourt gelingt es, dieses gemeinhin unverständliche und unverzeihliche Gebaren seiner Anti-Heldin jedoch nachvollziehbar zu beschreiben. Emma ist durchaus bewusst, was sie ihrer Familie antut, doch ebenso deutlich ist ihr auch, dass es zu ihrer Entscheidung keine Alternative gibt, dass sie die plötzliche Leere, die sie entdeckt, mit einer neuen Liebe füllen muss. Interessant wird der Roman durch die unerwartete Wendung der Geschichte zur Mitte hin und die Auseinandersetzung mit Emmas Erinnerungen sowohl an ihren Mann als auch an den Geliebten, aber nun wirkt der Plot doch sehr dramatisch zugespitzt und konstruiert.
Auf der anderen Seite betonen die dramatischen Umstände, denen sich Emma auf einmal ausgesetzt sieht, das ganze Spektrum menschlicher Empfindungen, die Zärtlichkeit, Leidenschaft, Trauer, Wut, das große Unbehagen angesichts einer so weitreichenden Entscheidung. Es geht schließlich um das Verlassen und Verlassenwerden, Krankheit, Einsamkeit, Angst und Tod, die Kraft der Erinnerung. All das vereint Delacourt in seinem recht kurzen Roman, der weniger von den Handlungen als Empfindungen getragen wird und auf unvergleichlich poetische Weise die wilde Achterbahnfahrt der Gefühle beschreibt, die Emma durchlebt. Das ist sicherlich nicht jedermanns Geschmack, zeigt aber eindringlich auf, wie unvorhersehbar sich das Leben entwickeln kann.
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