Philippe Djian – „Morgengrauen“

Mittwoch, 27. Mai 2020

(Diogenes, 236 S., HC)
Nachdem ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, kehrt die dreiunddreißigjährige Joan aus dem Zentrum der Stadt in den Vorort ihres Zuhauses zurück, um sich um ihren autistischen Bruder Marlon zu kümmern, der panische Angst vor der Dunkelheit hat. Die neue Konstellation bringt einige Herausforderungen mit sich, denn neben der Second-Hand-Boutique, die sie mit ihrer fünfzigjährigen Freundin Dora in der Stadt führt, verdient sie ihren Lebensunterhalt als Prostituierte, wovon Marlon auf keinen Fall etwas mitbekommen soll. Einer ihrer Kunden ist Howard, ein alter Bekannter ihrer Eltern, der – wie Joan erfahren muss – auch eine Affäre mit ihrer Mutter Suzan hatte.
Joan bedauert, den Zustand der Gleichgültigkeit zwischen ihr und ihren Eltern jahrelang aufrechterhalten zu haben, und beschäftigt sich mit der Vergangenheit ihrer Eltern, vor allem durch das Lesen von Suzans überraschend leidenschaftlichen Briefen an Howard, der gegenüber Joan immer besitzergreifender wird. Doch das größere Problem stellt die sechzigjährige Ann-Margaret dar, die sich anfangs nur darum kümmern soll, dass Marlon bei seinen Panikattacken nicht allein ist, während Joan ihren zweifelhaften Geschäften nachgeht. Doch dann beginnt die Frau, sich auch Marlons sexueller Bedürfnisse anzunehmen, und Joans Bruder immer mehr für sich einzunehmen.
„Für ihren Geschmack wurde das Leben interessanter, wenn man etwas zu verlieren hatte. Sie hatte dreiunddreißig Jahre gebraucht, um das zu begreifen, war ziellos durch eine endlose, öde Wüste gewandert, aber jetzt war da endlich etwas, und dieses Etwas war ihr Bruder. Sie konnte es noch immer kaum glauben. Was er war, was er bedeutete. Und alles war gut gewesen, bis zu dem Moment, als Ann-Margaret die Bühne betreten hatte.“ (S. 213) 
Philippe Djian, der in den 1980er Jahren mit seinen ersten Romanen „Blau wie die Hölle“, „Erogene Zone“, „Betty Blue – 37,2 Grad am Morgen“ und „Verraten und verkauft“ in der Literaturszene für Furore sorgte und zum Kultautor avancierte, hat in den vergangenen Jahren eher kürzere Werke veröffentlicht und begnügt sich auch in seinem neuen Roman „Morgengrauen“ damit, seine Figuren ohne große Einleitung gleich mitten im Geschehen zu verorten, das sich im abgehackten, episodischen Stil überschlägt.
Es bleibt kaum Zeit, die komplizierte (sexuelle Arbeits-) Beziehung zwischen Joan und Harold aufzuarbeiten, da bekommt der ehemalige Liebhaber von Joans Mutter einen cholerischen Anfall und verunglückt wenig später. Die Anziehungskraft zwischen Marlon und der reifen Ann-Margaret wird extrem sprunghaft inszeniert, wobei nur angedeutet wird, wie sich diese Beziehung überhaupt entwickeln konnte. Djian führt etliche Figuren ein, die er nur kurz skizziert, wie den Sheriff John, der zwar ein Auge auf das Etablissement von Dora und Joan wirft, für sein Schweigen aber mit freiem Zutritt zu den Mädchen entlohnt werden will. Am meisten enttäuscht „Morgengrauen“ auf der Beziehungsebene zwischen Joan und Marlon.
Der Autor konzentriert sich so auf Joans Perspektive, dass Marlon selbst fast ein Unbekannter bleibt, ein bloßes Objekt, um dessen Gunst sich Joan und Ann-Margaret zunehmend in die Haare geraten. Djian scheint, wie zuvor schon bei „Marlène“, nur an der Schilderung möglichst abstruser Szenarien interessiert zu sein, ohne Sympathien oder auch nur ein Interesse an seinen Figuren zu entwickeln, so farblos erscheinen sie in der losen Abfolge der Ereignisse. Djian nimmt sich weder die Zeit, Joans problematische Beziehung zu ihren verunglückten Eltern aufzuarbeiten, noch ihre schwierige Beziehung zu ihrem psychisch labilen Bruder. Hätte er das getan, würde das absurde Finale vielleicht auch ansatzweise glaubwürdig wirken, so bringt es nur einen stilistisch zwar wieder pointiert fesselnden, aber auf der erzählerischen Ebene zerfaserten und enttäuschend oberflächlichen Roman zum leider passenden Abschluss.

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