Seit seiner ehrenhaften Entlassung aus dem Militärdienst hat Jack Reacher es sich zur Aufgabe gemacht, nur mit den Sachen, die er am Leib trägt, durch die Vereinigten Staaten zu ziehen. Da er weder über einen festen Wohnsitz noch über einen fahrbaren Untersatz verfügt, ist er meist mit dem Bus oder zu Fuß per Anhalter unterwegs. Momentan hat er es sich in den Kopf gesetzt, den nordamerikanischen Kontinent von Calais, Maine, diagonal bis nach San Diego in Kalifornien zu durchqueren. Als er etwas vom Kurs abkommt, landet er auf einer Straße, die die beiden Gemeinden Hope und Despair – Hoffnung und Verzweiflung – voneinander trennt.
Reacher entscheidet sich, ins Zentrum von Despair zu marschieren, wird aber alles andere als herzlich empfangen. Er will in dem einzigen Restaurant der Stadt nur einen Kaffee trinken, wird aber von vier Männern sehr bestimmt dazu aufgefordert, die Stadt zu verlassen. Als er sich weigert, wird er wegen Landstreicherei angezeigt und muss mit dreißig Tagen Haft rechnen, sollte er nicht aus Despair verschwinden. Doch Reacher geht nicht nur seine Freiheit über alles, sondern folgt auch stets seinem Instinkt, der ihm sagt, dass hier etwas faul ist. Auf dem Weg nach Hope wird Reacher von Vaughan, einer Polizistin vom Hope Police Department, aufgegriffen und erfährt von ihr nähere Einzelheiten zu seiner bestätigten Vermutung, dass Despair eine Firmenstadt ist, die ganz in der Hand des Industriellen und Laienpredigers Thurman liegt. Er unterhält eine riesige Metallrecyclinganlage, die aber mehr als nur Metallschrott zu verarbeiten scheint.
Die außergewöhnlichen Sicherheitsvorkehrungen in der Anlage, der nahe gelegene Militärstützpunkt und das Auftauchen und Verschwinden junger weißer Männer bestärken Reacher in dem Gefühl, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. Zusammen mit der attraktiven, allerdings verheirateten Polizistin wirbelt Reacher mächtig Staub in Despair auf und kommt nicht nur gefährlichen Endzeit-Phantasien auf die Spur, sondern auch einem Umschlagspunkt für desertierte Soldaten auf dem Weg nach Kanada. Obwohl Reacher als Ermittler bei der Militärpolizei auch dafür zuständig gewesen war, Deserteure zur Rechenschaft zu ziehen, hat er mittlerweile großes Verständnis für sie.
„Ich habe alles getan, was von mir verlangt wurde, und gesehen, wie Zehntausende von Kerlen das Gleiche getan haben. Und wir haben es im Grunde unseres Herzens gern getan. Ich meine, wir haben genörgelt und gemeckert und geschimpft, wie es Soldaten immer tun, aber wir waren mit dem Deal einverstanden. Weil Pflichterfüllung ein Geschäft auf Gegenseitigkeit ist, Vaughan. Keine Einbahnstraße. Wir schulden ihnen etwas, sie schulden uns etwas. Und was sie uns schuldig sind, ist ein feierliches Versprechen, unser Leben und unsere Unversehrtheit nur aus verdammt guten Gründen aufs Spiel zu setzen. Meist beurteilen sie die Lage ohnehin falsch, aber wir möchten das Gefühl haben, es geschehe in gutem Glauben. Wir möchten ihnen wenigstens ein bisschen vertrauen können. Und das alles hat sich jetzt verflüchtigt. Jetzt geht’s nur noch um politische Eitelkeiten und Stimmenwerbung.“ (S. 387)Lee Childs 12. Roman um seinen mittlerweile durch Hollywood-Star Tom Cruise auch verfilmten Protagonisten Jack Reacher entstand 2008, als sich die zweite Amtszeit des US-Präsidenten George W. Bush ihrem Ende neigte. Schließlich hat Bush nicht nur nach den Terroranschlägen vom 11.09.2001 den Krieg gegen Afghanistan, sondern auch den höchst umstrittenen Irakkrieg ins Leben gerufen, der fast 5000 getötete und über 40.000 verletzte US-Soldaten nach sich zog. Reacher macht durch sein für ihn ungewöhnlich flammendes Plädoyer mehr als deutlich, was er von der politischen Führung seines Landes hält, und weiht deshalb Vaughan nicht immer in seine Vorhaben ein. Schließlich hat sie ihre eigenen Erfahrungen mit dem Irakkrieg machen müssen und leidet nach wie vor unter den Folgen.
Doch Lee Child setzt sich nicht nur mit den Folgen des Irakkriegs auseinander, die vor seinen Augen die Form von Metallverarbeitung von zerschossenen Militärfahrzeugen aus dem Irak annehmen, sondern auch mit den damit zusammenhängenden Desertationen junger Soldaten und religiösen Wahnvorstellungen. Dabei kommt „Nothing to lose“ – so der weitaus treffender Titel der Originalausgabe – ungewöhnlich schwer in Gang und präsentiert die typischen Versatzstücke aus Jack-Reacher-Romanen nur in leicht abgewandelten Konstellationen. Dazu zählen verschiedene Situationen, in denen sich Reacher gegen zahlenmäßig überlegene Feinde im Kampf bewähren muss und mit seiner weiblichen Begleitung eine kurze Affäre beginnt. Allerdings bekommen die Figuren dabei kaum ein erkennbares Profil, wirkt der Plot zu stark konstruiert und wenig glaubwürdig.
Erst zum Finale hin nimmt „Outlaw“ an Fahrt auf, dokumentiert, warum Reacher so ein begnadeter Ermittler mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn ist, und endet mit einem riesigen Knall.
Selbst eingeschworene Reacher-Fans dürften diesem kruden Mix wenig abgewinnen können.
Leseprobe Lee Child - "Outlaw"
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