Susanna Clarke – „Jonathan Strange & Mr. Norrell“

Sonntag, 29. Dezember 2024

(Bloomsbury Berlin, 1022 S., HC) 
Es gehört schon ein gehöriges Maß an Selbstbewusstsein dazu, einem Verleger einen Erstlingsroman mit über 1000 Seiten zu präsentieren. Aber in magischen Zeiten, die durch die Erfolgsphänomene von Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Romanen und J.R.R. Tolkiens nach wie vor populärem „Herr der Ringe“-Universum geebnet worden sind, vermag ein Roman über die Rivalität zweier englischer Zauberer auch in heutigen Zeiten auf fruchtbaren Boden, also eine interessierte Leserschaft stoßen. Auch wenn Susanna Clarkes Romandebüt „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ vollmundig als „Harry Potter für Erwachsene“ beworben wurde, braucht das Epos keine prominenten Fürsprecher oder wohlmeinende, aber irreführende Vergleiche, um sein Publikum zu überzeugen. 
Einst war England von den Zauberkünsten des „Rabenkönigs“ – wie John Uskglass gewöhnlich genannt wurde - geprägt, doch nach dem Tod des letzten aureatischen Zauberers, Dr. Martin Pale (1485-1567) ist die Zauberei im Königreich nahezu zum Erliegen gekommen. 
Nun, am Anfang des 19. Jahrhunderts, beschäftigen sich nur noch sogenannte Gentleman-Zauberer wie diejenigen in der Gilde von York mit der Geschichte der Zauberei, wenn sie sich bei ihren monatlichen Zusammenkünften ebenso lange wie langweilige Traktate über die Geschichte der englischen Zauberkunst vorlesen. Als die Gilde von York im Herbst 1806 mit John Segundus ein neues Mitglied aufnimmt, stellt er die berechtigte, interessante Frage, warum moderne Magier unfähig seien, die Zaubereien zu vollführen, über die sie schrieben. Nach hitzigen Diskussionen entschließt sich die Gilde, einen Brief an Mr. Norrell zu schreiben, der zurückgezogen in Hurtfew Abbey lebt und bekanntermaßen über die umfangreichste Bibliothek mit Werken zur Zauberei besitzt. Norrell lässt sich darauf ein, seine eigene Zauberkunst in York vorzuführen, und sorgt mit seiner eindrucksvollen Demonstration rund um die örtliche Kathedrale für die Auflösung der Gilde der Zauberer von York. 
Natürlich macht Norrells Wirken die Runde und bleibt auch der Regierung in London nicht verborgen, die im Krieg gegen Napoleon nicht weiterweiß. Als Norrell in London den brillanten jungen Zauberer Jonathan Strange kennenlernt, nimmt er ihn als Schüler auf, doch sehr bald geht Strange seinen eigenen Weg, unterstützt den Duke of Wellington in Spanien erfolgreich gegen die Franzosen. Doch über dem Leben und Wirken der zunehmend einander entfremdeten Zauberer hängt eine düstere Prophezeiung. Vor allem Jonathan Strange macht das zunehmend zu schaffen… 
„Zum ersten Mal wurde er gewahr, wie traurig sein Leben war. Er war umgeben von niederträchtigen Männern und Frauen, die ihn hassten und ihn insgeheim um sein Talent beneideten. Er wusste jetzt, dass jeder zornige Gedanke, den er je gedacht hatte, gerechtfertigt und jeder großzügige Gedanke verfehlt gewesen war. Seine Feinde waren verabscheuungswürdig und seine Freunde waren Verräter. Norrell war (natürlich) am schlimmsten von allen, aber sogar Arabella war schwach und seiner Liebe nicht würdig.“ (S. 474) 
Außerdem ist von einem „namenlosen Sklaven“ die Rede, der laut des Orakelspruchs König in einem fremden Land zu werden verspricht. Hier fühlt sich der schwarze, sehr distinguiert auftretende Dienstbote Stephen Black – ermuntert vom mysteriösen Herrn mit „Haar wie Distelwolle“ - angesprochen. Das imposante Figurenarsenal wird durch den zwielichtigen Childermass, den seherisch begabten Vinculus und die in Venedig weilende Familie Greysteel ergänzt, um nur einige zu nennen. Ermuntert durch den Erfolg, den die Rivalen Strange und Norrell mit ihren Zaubereien haben, beginnen auch andere Zöglinge, von der alten Zauberkunst Gebrauch zu machen… 
Susanna Clarke ist mit „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ ein in jeder Hinsicht imposantes und imponierendes Werk gelungen, das seine Leserschaft bereits mit den ersten Seiten zu verzaubern versteht, wenn sie die Beschäftigungen der „theoretischen“ Zauberer der Gilde von York mit einem leicht ironischen Unterton beschreibt und gleichzeitig mit wissenschaftlich wirkenden Fußnoten, Quellenangaben und ausführlichen Anekdoten faszinierende Metaebenen öffnet. 
Die beiden Titelfiguren nehmen zwar einen Großteil der Geschichte ein, doch die in Nordenglang aufgewachsene und nun in Cambridge lebende Clarke nimmt sich ebenso viel Zeit für das immens große Figurenarsenal rund um die beiden Meister-Zauberer. Das stört zwar immer wieder ein wenig den Lesefluss, doch gelingt es der Autorin, mit sehr bildhaften, fantasiebegabten Beschreibungen sowohl die verschiedenen Charaktere als auch die Handlungsorte lebendig wirken zu lassen. 
Wer Jane Austen und Charles Dickens schätzt und Sinn für sprichwörtlich magische Erzählungen besitzt, wird mit „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ bestens unterhalten. 

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