Jo Nesbø – (Harry Hole: 1) – „Der Fledermausmann“

Dienstag, 17. Januar 2023

(Ullstein, 416 S., Tb.) 
Der 1960 in Oslo geborene Jo Nesbø hatte bereits eine Karriere als Makler, Journalist und Sänger/Komponist der Pop-Band Di Derre hinter sich, als er 1997 seinen ersten Roman und damit den Start einer bis heute erfolgreichen Krimi-Reihe um den alkoholkranken Polizisten Harry Hole vorlegte. Der von ihm durch übermäßigen Alkoholkonsum verursachte Autounfall, bei dem sein Kollege auf dem Beifahrersitz getötet und ein junger Mann ab dem Hals abwärts gelähmt wurde, verfolgt Harry Hole bis heute. Statt ihn zu suspendieren, haben seine Vorgesetzten den Vorfall jedoch unter den Teppich gekehrt, indem sie den getöteten Beifahrer zum Fahrer erklärten, so dass Hole nach außen hin unbeschadet aus der Sache herauskam. 
Nun wird er nach Sydney geschickt, um bei den Ermittlungen zum Mord an der 23-jährigen norwegischen Staatsbürgerin Inger Holter zu assistieren, die nahezu nackt in der Nähe eines Parks aufgefunden wurde, nachdem man sie vergewaltigt und dann erwürgt hatte. Er wird dem Aborigine Andrew Kensington zugeteilt, mit dem er zunächst die Bar „The Albury“ aufsucht, in der das Mordopfer gearbeitet hatte. 
Offenbar hat Ingers Chef wohl vergeblich versucht, bei ihr zu landen. In einem Brief, die sie einer gewissen Elisabeth schreiben wollte, den man in ihrer Wohnung sichergestellt hat, schwärmt sie von einem 32-jährigen Evans und von der Möglichkeit, in einer norwegischen Serie mitzuspielen. Schließlich nimmt Kensington seinen norwegischen Partner mit in den Zirkus, wo ein Gerichtsprozess präsentiert wird, bei der ein Clown, der Ludwig XVI. darstellen soll, zum Tode verurteilt und durch eine Guillotine enthauptet wird. 
So lernt Hole, der in Australien Holy genannt wird, den homosexuellen Clown-Darsteller Otto Rechtnagel, dann den Aborigine Toowoomba kennen, der für Andrew fast wie ein Sohn ist. Doch als Hole allmählich einen Überblick über die Lebensumstände sowohl des Mordopfers als auch seines australischen Partners zu bekommen beginnt, werden weitere blonde Frauen aufgefunden, die auf eine ähnliche Weise zu Tode gekommen sind wie Inger Holter. 
Tatsächlich werden drei weitere Vergewaltigungen in unterschiedlichen Teilen des Landes in weniger als zwei Monaten entdeckt, bei denen die Opfer blond waren und gewürgt wurden, die aber nie den Täter beschreiben konnten. Um den möglichen Serienmörder zu fassen, scheut Hole nicht davor zurück, seine blonde Freundin Birgitta als Lockvogel einzusetzen… 
„Vorsichtig versuchte er, seine eigenen Gefühle auszuloten. Vorsichtig, weil er sich nicht erlauben konnte, sich ihnen hinzugeben. Noch nicht, jetzt noch nicht. Zuerst die guten Gefühle. Nur ganz wenig. Er wusste nicht, ob sie ihn stärker oder schwächer machen würden. Birgittas Gesicht zwischen seinen Händen, die Reste eines Lachens, das noch in ihren Augen lag. Dann die schlechten Gefühle. Sie waren es, die er noch für eine Weile aus seinem Leben verdammen musste, aber er versuchte, ihnen nachzuspüren, wie um sich einen Eindruck von ihrer Kraft zu verschaffen.“ 
Jo Nesbø findet einen ungewöhnlichen Weg, seinen Protagonisten Harry Hole einzuführen, nämlich fern seiner norwegischen Heimat. In der australischen Metropole Sydney ist er von Polizeichef Neil McCormack eigentlich zum Zuschauen verdammt, während sein ihm zugeteilter ortsansässiger Kollege Andrew Kensington ihn souverän mit den scheinbar richtigen Leuten aus dem Umfeld der ermordeten norwegischen jungen Frau bekannt macht. Dabei nutzt Nesbø die ausführlichen Gespräche zwischen Hole und dem Aborigine, um sowohl den Hintergrund des alkoholkranken Norwegers einzuführen als auch eine Geschichtslektion über das Verhältnis zwischen der australischen Ureinwohner und ihrer englischen Besatzer zu erteilen. 
Man merkt, dass Nesbø seine Hausaufgaben gemacht hat und sich bemüht, seine Figuren sorgfältig einzuführen, ohne zu viel preiszugeben. Für das Verständnis von Holes Charakter scheint hier der tragische, von ihm verursachte Autounfall und seine Jugendliebe Kristin von Bedeutung zu sein, für Kensington die Art und Weise, wie er sich als Aborigine einen Platz in der weißen Gesellschaft erkämpft hat. 
Die Ermittlungsarbeit droht dabei schon fast zum Nebenschauplatz zu werden. Nesbø hat in seinem Romandebüt noch nicht das ideale Tempo gefunden, um die Dramaturgie der Geschichte stimmig voranzutreiben, aber ein vielversprechender Anfang ist auf jeden Fall gemacht.  

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