Stephen King – „Duddits – Dreamcatcher“

Samstag, 22. April 2023

(Ullstein, 827 S., HC) 
Nachdem Stephen King Mitte der 1970er Jahre mit „Carrie“, „Brennen muss Salem“, „Shining“ und dem apokalyptischen Epos „The Stand – Das letzte Gefecht“ schnell zum international gefeierten „King of Horror“ avancierte, lieferte er in den folgenden beiden Jahrzehnten nahezu im Jahrestakt – oftmals auch verfilmte - Bestseller wie „Christine“, „Friedhof der Kuscheltiere“, „Es“, „Sie“, „Stark – The Dark Half“, „Needful Things“, „Dolores“ und „The Green Mile“ ab. Nach einem Autounfall im Jahr 1999 rehabilitierte sich King auf eigene Weise, schrieb das Manuskript zu „Duddits – Dreamcatcher“ mit Patronenfüllfederhalter von Waterman innerhalb eines Jahres und widmete sich einem Thema, das bis heute nur sporadisch in Kings umfangreichen Oeuvre anzutreffen ist, der Invasion der Erde durch Außerirdische. 
Schon als Kinder waren Pete, Jonesy, Henry und Biber in der Kleinstadt Derry, Maine, unzertrennlich gewesen. Ein besonderes Verhältnis entwickelten sie dabei zu Douglas „Duddits“ Cavell, einem Jungen mit Down-Syndrom, den sie vor jugendlichen Rowdys gerettet haben und der telepathisch begabt gewesen ist. Über die „Linie“, die Duddits zu sehen in der Lage ist, haben die fünf Freunde sogar ein vermisstes Mädchen aus einem Kanalschacht retten können. 
Über die Jahre haben die vier Freunde zwar Duddits aus den Augen verloren, seit sie aus Derry weggezogen sind, und sehen sich auch nur noch selten, doch einmal im Jahr treffen sie sich im Herbst zu einem Jagdausflug in Bibers Hütte in den Wäldern von Jefferson Tract. In ihrem erwachsenen Leben ist Joe „Biber“ Clarendon ein neurotischer Tischler geworden, Pete Moore ein alkoholsüchtiger Autoverkäufer, während der als Psychiater praktizierende Henry Devlin mit dem Gedanken an Selbstmord spielt und College-Dozent Gary „Jonesy“ Jones sich von einem schweren Autounfall erholt, bei dem er sich eine gebrochene Hüfte zugezogen hat. Der Jagdausflug im Herbst 1999 steht allerdings unter einem besonderen Stern, als in Jefferson Tract Aliens notlanden und sich wie Parasiten in den Menschen einnisten und mit ihren telepathischen Kräften dafür sorgen, sich in ihre Wirte hineinzuversetzen und sie nach ihrem Willen zu manipulieren. Der psychotische Armee-Offizier Abraham Kurtz versucht, im Auftrag der Regierung die Ausbreitung der „Ripleys“ zu verhindern – so wie sie es im Geheimen seit 1947 praktiziert. Es wird nämlich einfach ohne Rücksicht auf Verluste jedes Leben im von den Aliens beanspruchten Gebiet ausgelöscht. Während dieses Vorhabens begegnet Jonesy während der Jagd dem Anwalt Richard McCarthy, der offensichtlich seit einigen Tagen orientierungslos im Wald herumirrt, unter starken Schmerzen und fürchterlichen Blähungen leidet sowie ein verdächtig aussehendes Mal im Gesicht trägt. Trotz seiner Bedenken nimmt Jonesy den Mann mit in die Hütte, wo er zusammen mit Biber miterleben muss, wie der Mann von innen heraus zu verwesen scheint und eine pilzartige Substanz ausscheidet. Währenddessen besorgen Pete und Henry Nahrungsvorräte im Dorf und geraten bei dem einsetzenden Schneefall in einen Autounfall, in dem eine Frau verwickelt ist, die geistig verwirrt erscheint und der einige Zähne fehlen. Für die vier Freunde entbrennt ein Wettlauf gegen die Zeit, geraten sie doch zwischen die Fronten des Militärs und den parasitären Außerirdischen. Bald wird ihnen bewusst, dass nur Duddits sie aus dem Schlamassel befreien und die Invasion beenden kann, obwohl er bereits selbst im Sterben liegt… 
„Duddits, der in seinem Never-Never-Land, von der Außenwelt abgeschnitten, im Sterben lag, hatte seine Botschaften ausgesandt und nur Schweigen zur Antwort bekommen. Schließlich kam einer von ihnen vorbei, aber nur, um ihn mit nichts weiter als einer Tüte voller Pillen und seiner alten gelben Lunchbox von zu Hause zu entführen. Der Traumfänger war auch kein Trost. Sie hatten es mit Duddits immer nur gut gemeint, sogar schon damals an diesem ersten Tag; sie hatten ihn aufrichtig geliebt. Und doch endete es nun so.“ (S. 659) 
Etwas mehr als zehn Jahr nach dem 1988 veröffentlichten „Tommyknockers – Das Monstrum“ bekommt es die Menschheit erneut mit telepathisch begabten Außerirdischen zu tun, doch dient die Geschichte diesmal vor allem dazu, Stephen Kings Trauma zu verarbeiten, von einem betrunkenen Autofahrer fast tot gefahren worden zu sein, auf jeden Fall während der langwierigen Genesung über ein halbes Jahr erhebliche Schmerzen erlitten zu haben. Vor diesem Hintergrund fällt es dem Leser leicht, in der Figur des College-Dozenten Gary „Jonesy“ Jones eine Art Alter Ego des berühmten Schriftstellers zu sehen, der ebenfalls einen schweren Autounfall überlebt hat und seitdem mit den Folgen seiner gebrochenen Hüfte zu kämpfen hat. Entsprechend authentisch wirken die vielen Beschreibungen körperlicher Schmerzen und die Schilderungen schwerer Verletzungen, bei denen nicht nur Zähne ausfallen und viel Blut fließt, sondern auch an Tränen und allen vorstellbaren menschlichen Ausscheidungen in gasförmiger oder flüssiger Form ebenso wenig gespart wird wie an Kraftausdrücken und derbem Humor. 
Wie in den meisten King-Romanen werden auch in „Duddits“ ganz gewöhnliche Menschen mit einer kaum vorstellbaren Krisensituation konfrontiert. King ließ sich dabei ganz offensichtlich von dem Science-Fiction-Klassiker „Invasion of the Body Snatchers“ inspirieren, den er auch namentlich erwähnt, und erzielt das Grauen vor allem aus der Vorstellung, dass die Außerirdischen die Menschheit auf der Gedankenebene infiltrieren und gefügig machen wollen. 
Dass die Heimatstadt der fünf Freunde Derry ist, verweist natürlich auf Kings Meisterwerk „Es“, wobei er immer wieder Elemente daraus aufgreift, vor allem den großen Sturm von 1985, der einen Großteil der Stadt verwüstete und dem auch der Wasserturm zum Opfer fiel. Bei aller sprachlicher Könnerschaft wirkt das Verhältnis zwischen Kurtz‘ psychotischen Trieb, die Außerirdischen zu eliminieren, und der berührenden Geschichte der fünf Freunde etwas unausgeglichen. 
Während die militärischen Protagonisten für meinen Geschmack etwas zu viel Raum erhalten und King fast schon ins Schwafeln gerät, hätten die Episoden, die das Leben der fünf Freunde in Derry und danach umfassen, weitaus ausführlicher dargestellt werden können. So wirkt „Duddits“ wie ein auf Action getrimmter Science-Fiction-Horror, den auch Lawrence Kasdan in seiner Verfilmung „Dreamcatcher“ nicht in den Griff bekommen hat. 

 

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